1 Systemisches Denken und Handeln – was bedeutet das?
Wie in der Einleitung bereits erwähnt, kommen mittlerweile systemische Theorien, Methoden und Techniken in einer ganzen Reihe von beruflichen Feldern zur Anwendung. Im Folgenden wird nicht der Anspruch erhoben, einen detaillierten Überblick über diese zahlreichen Felder – u. a. Psychotherapie, Beratung, Organisationsentwicklung und Pädagogik – zu geben. Es werden dagegen die Ursprünge systemischen Denkens beschrieben (1.1) sowie die zentralen Konzepte, die in den unterschiedlichen Anwendungsfeldern als Hintergrundannahmen systemischen Denkens fungieren, erläutert (1.2).
Ein solch abstrakter und theoretisch anspruchsvoller Zugriff führt beinahe zwangsläufig dazu, dass gewisse Verallgemeinerungen in der Darstellung nicht ausbleiben; haben sich doch innerhalb des systemischen Feldes unterschiedliche Schulen und Traditionen herausgebildet, die an dieser Stelle nicht in allen Details ausdifferenziert dargestellt werden können. Von einem theorieorientierten Vergleich unterschiedlicher pädagogischer und didaktischer Ansätze innerhalb des systemischen Paradigmas wird bewusst abgesehen, da das Erkenntnisinteresse letztlich auf einen praktischen Mehrwert gerichtet ist – was ist systemisches Denken, und wie kann es für Unterrichtsentwicklung nutzbar gemacht werden? – und weniger auf die Aufbereitung (primär) akademischer Kontroversen. Insofern wird die Bandbreite systemischen Denkens im weberschen Sinne eines Idealtyps entwickelt und nicht als ein logisch möglichst widerspruchfreies Gesamtkonstrukt systematisch aufeinander bezogener Einzelaussagen.
1.1 Ursprünge und wissenschaftliche Bezugspunkte
Systemisch-konstruktivistisches Denken wurde von einer Vielzahl von Forschern im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen (u. a. Ethnologie, Soziologie, [Neuro-]Biologie, Computerlinguistik, Physik, Psychologie, Philosophie), zum Teil parallel und unabhängig voneinander, zum Teil aber auch stark aufeinander Bezug nehmend und damit in transdisziplinären Kontexten, entwickelt. Ein besonders bekanntes Beispiel im deutschen Sprachraum für den zuletzt genannten Bereich ist das Aufgreifen und die Nutzbarmachung der Theorie autopoietischer Systeme für die Gesellschaftswissenschaften durch Niklas Luhmann (vgl. 1984). Diese Theorie war zunächst in den 1970er- und 1980er-Jahren von den beiden Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela entwickelt. Ihr gemeinsames Werk El árbol del conocimiento (1984) (dt. 1990: Der Baum der Erkenntnis) gilt bis heute als eines der grundlegenden Werke systemischen Denkens.
Als Pioniere des systemischen Ansatzes werden vielfach eine Reihe von Kybernetikforschern genannt, die zwischen 1946 und 1953 im Rahmen der sogenannten Macy-Konferenzen in den USA zusammenfanden.4 Als für den deutschsprachigen Raum wirkmächtigste Teilnehmer dieser Konferenzen gelten heute Gregory Bateson, Heinz von Foerster, Kurt Lewin, Paul Lazarsfeld, Margaret Mead sowie Norbert Wiener.
Interessanterweise lässt sich weder eine einzelne Disziplin im Sinne einer Leitwissenschaft in besonderer Weise mit dem systemischen Denken identifizieren, noch lässt sich dieses Denken auf einen bestimmten Wissenschaftsbereich einschränken. So stellt systemischkonstruktivistisches Denken eine erkenntnistheoretische Strömung dar, die sowohl von Natur-, von Geistes- als auch von Sozialwissenschaftlern getragen und fortentwickelt wird.
Horst Siebert (2008, S. 39) veranschaulicht die multidisziplinäre Herkunft des systemischen Ansatzes grafisch, indem er die verschiedenen Strömungen rautenförmig anordnet, wobei die einzelnen Felder keine bestimmte Reihen- oder Rangfolge abbilden, sondern beliebig angeordnet sind (s. Abb. 1).
Systemisches Denken lässt sich als eine erkenntniskritische Metatheorie begreifen, die gezielt wissenschaftstheoretische Grundlagen reflektiert und versucht, Alternativen zu insbesondere in den Naturwissenschaften verbreiteten Realitätskonstruktionen und Wirklichkeitsvorstellungen bereitstellen. Anstelle tradierter Forschungsbemühungen im Rahmen disziplinspezifischer Paradigmen (Kuhn 1976) und des Aufspürens kausaler Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge interessiert sich systemisches Denken für »Muster, die verbinden« (Bateson 1987, S. 15), um den vielfältigen Bezügen, Vernetzungen und Feedbackprozessen zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Phänomenen auf den Grund gehen zu können. Lutterer (2011, S. 108) stellt zudem heraus, dass im Gegensatz zum empirisch-analytischen Ansatz insbesondere die Gründerväter systemischen Denkens (u. a. Bateson, von Foerster und von Glasersfeld) den Anspruch vertreten, soziale Wirklichkeit nicht nur zu beschreiben und zu erklären, sondern auch zu verändern.
Abb. 1: Multidisziplinäre Herkunft systemisch-konstruktivistischen Denkens (Siebert 2008, S. 39)
Die disziplinäre Vielfalt erfüllt für systemisch-konstruktivistisches Denken insofern eine spezifische Funktion, da sie den Ansatz offenhält für neue Impulse aus einer Vielzahl von Richtungen und Professionen. Im Effekt entzieht sich systemisches Denken damit einer forschungsorganisatorischen »Einhegung« durch wissenschaftsdisziplinenspezifische Paradigmen und Forschungsprogramme im Sinne Kuhns (1976):
»Ein Wesensmerkmal der wissenschaftlichen Grundlegung des systemischen Ansatzes liegt jedoch darin, dass Wissen nicht als einheitlicher, widerspruchsfreier Kanon theoretischer und praxeologischer Konzepte, sondern als sich selbst ständig infrage stellende soziale und kommunikative Praxis verstanden wird, die sich in einer Vielzahl von unterschiedlichen Facetten, Bezugnahmen und Entwicklungsrichtungen entfaltet« (Levold u. Wirsching 2014, S. 11).
Für ein vertiefendes Verständnis des systemischen Ansatzes sei an dieser Stelle erwähnt, dass der Verweis auf eine »soziale und kommunikative Praxis« sich auch reflexiv auf die Gestalt des vorliegenden Textes beziehen ließe; sind diesem doch Grenzen durch seine spezifische Form gesetzt, systemisches Denken tatsächlich erfahrbar – in einem mehr als kognitiven Sinne – werden zu lassen. Zwar können unbestreitbar bestimmte Aspekte theoretisch erläutert und möglicherweise auch plausibel begründet werden. Während des Verfassens des vorliegenden Manuskripts stellte sich jedoch auch der Eindruck ein, dass sich einem ohne ein tatsächliches Erleben systemischer Praxis die eigentlichen Potenziale dieses Ansatzes nur bedingt erschließen.
1.2 Begriffsklärung und Schlüsselkonzepte
»Systemisches Denken« oder auch »Systemik« ist trotz der Popularität, die dieser Ansatz gegenwärtig genießt, nicht im Sinne naturwissenschaftlicher Präzision definierbar. So kann mit dem Begriff »systemisch« gleichermaßen rekurriert werden auf erkenntnistheoretische Vorannahmen, die Charakteristika einer professionellen Haltung, bestimmte methodische Aspekte sowie auf spezifische Kommunikationstechniken.
In einer ersten Annäherung lässt sich festhalten, dass der Begriff »systemisch« der Terminologie der Autopoise und der Kybernetik entlehnt ist. Mit dem Adjektiv »systemisch« kann grundsätzlich nach den Beziehungen zwischen den Elementen eines geschlossenen Systems bzw. nach dem Verhältnis einzelner Elemente zum Systemganzen gefragt werden. Als »System« lässt sich dann jede Gruppe von Elementen bezeichnen, die gemeinsam von einer Umwelt abgegrenzt werden kann und durch Interaktionen miteinander verbunden ist (vgl. von Schlippe u. Schweitzer 2012, S. 31).
Grundsätzlich lassen sich lebende von unbelebten Systemen von einander unterscheiden. Lebende Systeme werden nicht als statisch, sondern als permanent in Bewegung, d. h. als kontinuierlich sich im Prozess befindend, begriffen. Hervorzuheben ist hier die Bedeutung der Vernetzung und der Kommunikation. Denn streng genommen ist es nicht nur so, dass sowohl Systemelemente untereinander als auch verschiedene Systeme miteinander kommunizieren können, sondern dass sich weder die Elemente eines Systems noch die Systeme selbst Kommunikationsprozessen entziehen können. Da auch der Abbruch bzw. der bewusste Verzicht auf die Fortsetzung von Interaktionsprozessen als besondere Form von Kommunikation gedeutet werden kann, verbleibt den Systemelementen keine Wahl: Sie können »nicht nicht kommunizieren« (Watzlawick, Beavin und Jackson 1969, S. 53).
Innerhalb der Gruppe der lebenden Systeme, für die sich die Systemik in besonderer Weise interessiert, ist es in dreifacher Hinsicht sinnvoll zu differenzieren, nämlich zwischen »lebenden Systemen im Allgemeinen« (allen Organismen), »psychischen Systemen« (Organismen mit Bewusstsein) sowie »sozialen Systemen« (psychischen Systemen im Austausch miteinander) (vgl. Renoldner, Scala u. Rabenstein 2007, S. 55). Demzufolge lassen sich Schüler, Eltern und Lehrkräfte – sofern sie als Einzelpersonen auf der...