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E-Book

Das Problem sind die Lehrer

Eine Bilanz

AutorSigrid Wagner
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783644402133
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Lehrer zu sein gehört zu den wichtigsten Aufgaben unserer Gesellschaft. Doch Deutschlands Lehrer stehen ihren Schülern in vielen Fällen desinteressiert oder autoritär gegenüber. Sigrid Wagner war selbst über 20 Jahre lang Lehrerin und geht mit ihren Kollegen hart ins Gericht. Anhand erschreckender Beispiele aus ihrem Berufsleben offenbart sie die Defizite in deutschen Lehrerzimmern und kritisiert Inkompetenz, Neid und Mobbing unter den Kollegen sowie Machtmissbrauch, Willkür und Schikane den Schülern gegenüber. Sie meint: Die falschen Menschen werden aus den falschen Gründen Lehrer.

Sigrid Wagner wurde 1955 in Goslar geboren. Sie studierte an der Universität Hamburg Lehramt und war bis 2014 Lehrerin an allen Sekundarstufen in zwölf verschiedenen Fächern und in zwei Bundesländern, der Pfalz und in NRW. Zuletzt war sie an einer Förderschule in NRW tätig. Nach ihrem Spiegel-Artikel «Der große Frust» über das Thema erreichten Sigrid Wagner körbeweise Zuschriften von Eltern und Kollegen, zustimmende wie kritische gleichermaßen.

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Leseprobe

Ich urteile, also bin ich


Der erwachsene Betrachter wird sich wundern, wie wenig sich seit seiner eigenen Schulzeit im typisch deutschen Klassenzimmer verändert hat: Mehr oder weniger intaktes, auf jeden Fall aber zu kleines Mobiliar, eine alte, zerkratzte Tafel, mit Glück sogar ein fortschrittliches «Whiteboard», dessen Handhabung jedoch den wenigsten Lehrern geläufig ist. Schüler sitzen in Reihen oder in Tischgruppen.

Ein neuer Klassenlehrer tritt zum ersten Mal vor jene Schüler, mit denen er künftig einen Großteil seiner Arbeitszeit verbringen wird. Schon der Einstieg spricht Bände in Bezug auf seine Persönlichkeit. In der Regel stellt er sich vor, schreibt seinen Namen an die Tafel und geht dann nach wenig Informativem zu seiner Person schnell zur Tagesordnung über: die Überprüfung der Anwesenheit der Schüler und die Verteilung der verschiedenen Ämter wie Klassenbuchführung, Blumengießen, Tafeldienst etc. Ist dies erledigt, lässt er die Schüler wissen, welche Materialien für sein Unterrichtsfach angeschafft werden müssen, und beauftragt die Schüler, zur nächsten Stunde zehn Euro für Kopien mitzubringen. Abschließend fordert er die Klasse auf, sich für das nächste Mal Gedanken über mögliche Kandidaten zur Wahl des Klassensprechers und dessen Stellvertreters zu machen. So weit, so gut. Kein spektakulärer Einstieg, aber je nach Freundlichkeit und Zugewandtheit des Lehrers annehmbar.

Doch es gibt auch solche Einstiege, von denen mir Schüler einer neunten Klasse berichtet haben: Die neue Lehrerin, eine Frau mit resolutem Auftreten, betritt den Klassenraum. Sie begrüßt die Schüler, schreibt ihren Namen an die Tafel und stellt dann eine Frage, die auch den letzten noch quatschenden Schüler in Schockstarre versetzt: «Nun mal ganz ehrlich: Wer bei euch ist das Opfer? Jede Klasse hat doch so ein typisches Opfer …?!»

Da die Klasse fatalerweise wirklich einen Mitschüler hatte, der Mobbingopfer geworden war und aufgrund seiner isolierten Stellung im Klassenverband schon mehrmals Hassbotschaften in Richtung Mitschüler auf Facebook gepostet hatte, bekam diese Frage eine explosive Brisanz. Alle schwiegen, besagter Schüler saß starr vor Schreck und mit hochrotem Kopf versteinert an seinem Tisch. Um die Situation etwas zu entkrampfen, fragte ein Schüler: «Was soll denn bitte das Ziel Ihrer Frage sein?» – «So, du antwortest mit einer Gegenfrage. Jetzt weiß ich zwar noch nicht, wer das Opfer bei euch ist, aber immerhin kenne ich nun den Dummschwätzer der Klasse. Dein Name?!»

Lehrer sind oft sehr vorschnell in ihren Schülereinschätzungen. Anhand gewisser Parameter, sprich: Beruf und Bildungsniveau der Eltern, sozialer oder Migrationshintergrund, männlich oder weiblich, machen sie sich ein vorurteilsbeladenes Bild der Schülerin oder des Schülers, noch bevor dieser überhaupt das erste Wort zum Unterricht beigetragen hat. In einer Hospitationsstunde in einer Realschulklasse habe ich es erlebt, dass eine Lehrerin einen Schüler konstant als «Penner» oder «Langweiler» betitelte, weil er im Unterricht häufig einzuschlafen drohte. Es war so auffällig, dass ich den Schüler nach einer Weile fragte, was denn los sei und wann er abends ins Bett ginge. Er blieb wortkarg und wimmelte mich mit fadenscheinigen Ausreden ab. Die Klassenlehrerin sagte später zu mir, dass ich unnötige Energie in den Jungen stecken würde, der käme aus «asozialen Verhältnissen»: Die Eltern hielten es nicht mal für nötig, zum Elternsprechtag in die Schule zu kommen. Meine Nachforschungen ergaben, dass Vater und Mutter des Jungen blind waren und er nach der Schule den gesamten Haushalt schmiss, seine Eltern versorgte, die Einkäufe tätigte und den Hund ausführte. Er war schlicht und ergreifend erschöpft. Die Eltern suchten keinen Kontakt zur Schule, da sie fürchteten, ihren Sohn an eine Pflegefamilie zu verlieren, wenn ein Lehrer auf die Idee gekommen wäre, dass es dem Jungen zu Hause an Fürsorge mangelte.

Obwohl anderen Lehrern und dem Schulleiter die familiären Verhältnisse bekannt waren, war die schwierige Situation des Jungen nie thematisiert worden. Man überließ ihn einfach seinem Schicksal und stempelte ihn als «Penner» ab. Als ich mich der Sache annahm, kam Bewegung in die Angelegenheit. Schließlich konnte der Junge bei seinen Eltern bleiben, weil sich der Schulleiter um eine Lösung bemühte und die Familie zusätzliche pflegerische Unterstützung und eine Haushaltshilfe erhielt. Von der Klassenleiterin bekam ich allerdings einen gehörigen Anpfiff: Ich solle mich doch bitte um meinen eigenen Kram kümmern, sonst würde mir mein eigenständiges Handeln noch irgendwann zum Verhängnis werden …

Oft genug machen sich Lehrer sogar auf Kosten der Schüler, die vermeintliche Makel haben, lustig. Die Beweggründe sind wohl vielschichtig: Ich kenne Lehrer, die damit verdeutlichen wollen, wer am längeren Hebel sitzt. Manche meinen wiederum, damit beim Rest der Schülerschaft punkten zu können: «Dunkelhaarige Frauen haben ja leider das Pech, dass man einen Damenbart schneller sieht. Nicht wahr, Saskia? Zum Glück gibt es ja auch gute Rasierer für Frauen.» Mit den dadurch erhofften Lachern bei der Klasse (während Saskia mit hochrotem Kopf beschämt vor sich auf dem Tisch starrt) wollen diese Lehrer gute Stimmung machen. Ein fataler Irrglaube, dass solche Anbiederungsversuche gelingen.

Auch die folgende Szene, von der mir meine Kinder berichteten, zeugt nicht gerade von sozialer Kompetenz des Lehrers: Er forderte eine sehr klein geratene Schülerin auf, an die Tafel zu kommen, grinste schon hämisch, als sie aufstand, und kommentierte dann: «Na, wird das die nächste halbe Stunde noch was mit den kurzen Beinchen? Wenn du dann mal angekommen bist, bitte ganz links oben an die Tafel schreiben, ha, ha, ha.»

Beispiele für eine solchen, freundlich ausgedrückt, Mangel an Sensibilität gibt es viele: Einer unserer Söhne musste bedingt durch eine Sehschwäche ein Abklebepflaster auf dem gesunden Auge tragen, um das geschwächte Auge anzuregen. Da auch das «gesunde» Auge nicht über die hundertprozentige Sehkraft verfügte, trug er eine Brille, die das Auge stark vergrößerte. Eine seiner Lehrerinnen, die dafür bekannt war, die Schüler zu demütigen, ließ auch in seinem Fall keine Gelegenheit dazu aus: «Schaut euch mal euren Mitschüler an, fällt euch an dem etwas auf?» Die Kinder meldeten sich und sagten: «Der hat ein Pflaster auf dem Auge, da ist ein bunter Aufkleber drauf, sein anderes Auge ist ganz groß.» Das war der Satz, auf den sie wartete: «Genau», lobte sie, «dieser Junge hier nimmt nämlich Drogen, das sieht man ganz genau an seiner vergrößerten Pupille, und wenn er so weitermacht, dann wird er höchstens mal Bäcker.»

Selbstverständlich stellte ich diese Lehrerin am nächsten Tag zur Rede. Was ihr einfiele, meinen zehnjährigen Sohn als Drogenabhängigen zu bezeichnen? Wollte sie witzig sein? Wollte sie ihre Macht ausspielen? Brauchte sie einfach nur einen Blitzableiter? Sie versuchte mich zu belehren, dass aufmerksame Eltern doch wissen müssten, dass erweiterte Pupillen ein deutliches Zeichen für Drogenkonsum seien. Der Versuch, ihr zu erklären, dass dieser Umstand dem Brillenglas geschuldet sei, scheiterte. Sie blieb hartnäckig bei ihrer Einschätzung, eine Entschuldigung oder Richtigstellung kam für sie nicht in Frage.

Es folgte eine Dienstaufsichtsbeschwerde meinerseits gegen diese Lehrerin, wie auch gesondert von unserem Kinderarzt. Ihn hatte ich konsultiert, um den medizinischen Nachweis für die Schule zu erbringen, dass mein Sohn keinerlei Drogen nahm. Während ich das schreibe, kann ich selbst die Absurdität der Situation kaum glauben. Sprachlos war ich auch, als ich erfuhr, dass der Kinderarzt bereits sieben weitere Schüler betreute, die unter hanebüchenen Unterstellungen dieser Frau litten. Was genau sie mit den anderen Kindern gemacht hatte, konnte er mir aufgrund der Schweigepflicht natürlich nicht sagen. Immerhin wurde die Bewerbung der Lehrerin als Oberstudienrätin für ein Jahr ausgesetzt. Aber wie jemand, der offensichtlich keinerlei Sympathie (geschweige denn Empathie) für Schüler aufbringen kann, ausgerechnet in den Schuldienst geht, wird mir ein Rätsel bleiben.

Es gibt zahlreiche weitere Beispiele für demotivierendes, bisweilen schlichtweg unverschämtes Verhalten von Lehrern. Dabei sticht immer wieder ins Auge, dass viele Lehrer eine negative Grundeinstellung ihren Schülern gegenüber haben: Sie sehen das Glas eher halbleer als halbvoll. Dabei wäre es wichtig, stärker auf das Potenzial von Schülern zu achten, als sich auf ihre Schwierigkeiten zu fokussieren. Eine positive Haltung bringt erfahrungsgemäß eine Vielzahl von Erleichterungen, gerade im Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern, die auf Konfrontationskurs gehen oder die sich schwertun, dem Unterrichtsgeschehen zu folgen.

Ein Beispiel: An einer meiner Wirkungsstätten sollte ich eine junge Kollegin, nennen wir sie Frau K., während des Mutterschutzes und in der anschließenden Elternzeit vertreten. Ihre Klasse bestand nur aus zehn Schülern, was ich als ausgesprochenen Luxus empfand. Frau K. hatte angeboten, mir im Rahmen von Hospitationsstunden selbst ein Bild von der Klasse machen zu können, bis ich sie dann eigenverantwortlich führen sollte.

Und es gefiel mir gar nicht, was ich sah: Im Unterricht saßen die Schüler wie Roboter, denen man die Batterie ausgeschaltet hatte. Sie trugen nichts selbständig zum Unterricht bei, sie wagten keine Kritik und ließen die Monologe der Lehrerin über sich ergehen. Da ein Lachen oder eine spaßige Bemerkung unmittelbar bestraft wurde, hatte Frau K. keinerlei...

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