PROLOG
«WARUM IST DER NEGER SCHWARZ?»
REPORTERSCHICKSAL
Ich hatte nie eine Schwäche für Marmeladenbrötchen. Schon gar nicht mit Butter. Butter und Marmelade – ein ähnliches Gemisch hat BP im Golf von Mexiko angerührt. Unten: ein Schmierteppich. Oben: leblose Klumpen. Aber leider gibt es Menschen, die meine kleine Extravaganz nicht tolerieren.
Hallo, ich bin Dennis.
«Du musst da doch Butter unter nehmen!»
Wilma Brunkhorst sieht mich an, als hätte ich gerade ihr Weltbild zerstört.
«Frau Brunkhorst, ich mag das nicht mit Butter.»
«Bitte was? Keine Butter unter? Du bist doch ’ne schlanke Natur!»
Frau Brunkhorst ist schwerhörig. Sie redet nicht, sie kreischt. Dabei sollte man in Deckung gehen, denn wenn es schlecht läuft, fliegen dir scharfe Brötchensplitter und Marmeladenreste um die Ohren. Die kraushaarige Dame schnackt gern mit vollem Mund, sie ist eben vom Lande. Und wenn sie ausnahmsweise nicht spricht, stemmt sie ihre dritten Zähne in die dick bestrichenen Stullen – Gebäck und Gebiss erzeugen dann ein Geräusch, das du nicht mehr vergisst. Ähnlich muss es klingen, wenn man in einen Frosch beißt.
Natürlich ist die Erdbeermarmelade selbstgemacht, Wilma ist ein herzlicher Mensch. So herzlich, dass sie mich gerne abwechselnd tätschelt, knuddelt und fest umarmt. Wegen ihres Rheumas übrigens nur mit dem rechten Arm. Sie formt daraus einen Haken, legt ihn um meinen Hals und zieht mich immer wieder zu sich nach unten. Frau Brunkhorst ist sehr klein.
«Oh, mein lieber Dennis!», ruft das Ungeheuer aus der Tiefe. «Mensch, was ist das schön, dass du da bist. So ’n hübschen Bengel hab ich nicht oft inner Küche! So, und jetzt mach mal Butter unter. Sonst schmeckt das doch nicht.»
Das Fernsehen ist schuld. Ein großer Sender aus dem Norden hat mich an diesen Frühstückstisch gesetzt. Reporterschicksal: Wenn du ein Thema hast, dann musst du es «herunterbrechen». Also eine Nachricht, einen Anlass, ein Weltereignis mit der Heimat verknüpfen. Mit zu Hause. Manchmal bricht man sich dabei einen ab.
Michael Jackson ist tot! Was bedeutet das für Wilma Brunkhorst oder den Krabbenfischer aus Büsum? Krieg in Afghanistan! Wie schätzt Wilma Brunkhorst die Lage ein, und was sagen die Menschen aus Hahnenklee-Bockswiese dazu? Ein Reporter reist mit Zuschauerfragen um die ganze Welt! Welche bedeutende Frage stellt sich dann wohl Wilma Brunkhorst, die 87 Jahre alte Röhrkohlbäuerin aus Wremen bei Bremerhaven? Dort, wo das Leben noch so norddeutsch ist wie vor fünfhunderttausend Jahren.
Das ist mein Auftrag: der Bilderbuch-Zuschauerin (Deich, Bauernhof, trockener Humor) ein paar geschmackvolle, bevorzugt norddeutsche Fragen entlocken und dann endlich abhauen in die große weite Welt. So weit weg wie möglich.
Das Brunkhorst’sche Anwesen hätten selbst die Bühnenbauer des Senders nicht authentischer dekorieren können. Ein schicker kleiner Giebelhof aus roten Backsteinen mit frisch gestrichenem grünem Tor und einer Diele, auf der Sensen, Milchkannen und ein hundert Jahre altes Fahrrad ihr verrostetes Dasein fristen. Über einen schmalen Gang geht es erst in die grün tapezierte Waschküche und dann in die hellbraun gekachelte Kochküche. Auch hier sieht es aus wie in den Kulissen des Ohnsorg-Theaters. Ein Teekessel pfeift auf dem Herd, darüber hängt ein Regal samt Kaffeemühle und Keramikdöschen, in denen Frau Brunkhorst vermutlich schwarzen Tee, Kandiszucker und Karamellbonbons hütet. Den Küchentisch bedeckt ein Tuch in Zartrosa, darüber liegt eine durchsichtige Kunststoffdecke.
Zur Feier des Tages hat Frau Brunkhorst ihr Sonntagsgeschirr aus dem Schrank geholt und Eier gekocht, die in norddeutsch blauen Bechern auf uns warten. Natürlich gibt es auch eine gute Stube – vollgestopft mit bestickten Kissen, Fotoalben und Oma-Möbeln: Eiche brutal.
Und Wilma? Sie ist die Frau, die Heidi Kabel immer zu spielen versucht hat. Wenn Frau Brunkhorst schnackt, dann fliegen ihre Händchen wie Schmetterlinge durch die Heizungsluft. Sie schimpft, tratscht, quietscht und setzt Pointen mit der Gewalt eines Jagdgewehrs in der Norddeutschen Tiefebene. Wilma Brunkhorst ist Norddeutschland.
«Wissen Sie, ich darf jetzt um die Welt bummeln!»
Wilma sieht mich völlig unbeeindruckt an. «Ja und? Dann bummel mal», sagt sie und schiebt sich kichernd ihre Brötchenhälfte ins Gebiss. Aber so leicht gebe ich nicht auf.
«Nein wirklich, Frau Brunkhorst. Ich darf mit den Fragen der Zuschauer um den ganzen Globus reisen!»
«So? Dann stell mir mal ’ne Frage.»
«Nein, Sie müssen mir eine Frage stellen!»
Es hilft nichts. Ich will ihr den Sinn meiner Sendung noch einmal erklären. Mit 80 000 Fragen um die Welt: Jeder Mensch hat eine Frage, die ihn von klein auf beschäftigt. In den letzten Wochen sind Hunderte davon bei mir eingegangen, über Facebook, Twitter, als E-Mail, Brief, Fax oder auf selbstgepinselten Postkarten: «Wie voll sind tausend Russen?», «Kann man im Vatikan Kondome kaufen?», «Warum verschwindet alles im Bermudadreieck?», «Wie schmeckt der Zuckerhut?» und «Wie riecht der Titicacasee?». Einer wollte wissen: «Woran starb das Tote Meer?»
Viele Zuschauer beschäftigen sich mit den großen Themen der Menschheit: «Was ist Freiheit?», «Wo endet Europa?» oder «Kommen Adam und Eva aus Afrika?». Andere fragen knallhart: «Wie stirbt es sich in Texas?», «Gibt es noch Nazis in Argentinien?» oder «Wo ist der schwarze Kontinent am schwärzesten?». Manche geben mir hintersinnige Rätsel auf: «Ist Cuba libre?», «Wer liegt vor Madagaskar?», «Ist Holland in Not?», «Wo liegt eigentlich Absurdistan?», «Wie schön ist Panama?» oder «Gibt es eine Sprache, die kein Futur bilden kann, und wenn ja: Können die Menschen dann an eine Zukunft denken?». All diese Fragen haben etwas gemeinsam: Sie schreien nach einer Antwort.
Ich verspreche Frau Brunkhorst, dass ich nicht ruhen werde, bis jede dieser 80 000 Missionen erfüllt ist. Und ich mache ihr klar, dass auch sie jetzt die einmalige Chance hat, mir eine Frage zu stellen. Eine weltbewegende Frage. Ich bin die gute Fee, und Frau Brunkhorst hat einen Wunsch frei.
Wilma legt ihr Marmeladenbrötchen aus der Hand. Sie wirkt plötzlich nervös. Für einen kurzen Moment ist die Naturgewalt sprachlos. Dann murmelt sie etwas und schleicht aus der Küche hinüber in die gute Stube. Was hat sie vor? Eine Schublade geht auf und wieder zu, und Frau Brunkhorst kehrt mit einem gefalteten Blatt Papier in der Hand zurück. Sie flüstert: «Weißt du, ich hatte mir da schon Gedanken gemacht.» Dabei presst sie das Zettelchen mit ihrer linken Hand auf den Küchentisch. Mit der rechten hält sie meine. In ihrem Blick mischen sich Zweifel und Mitleid: Sie will mir helfen, aber irgendetwas lässt sie zögern.
«Komm, ich will es dir mal vorlesen», brummelt sie und entfaltet das Papier, auf dem jetzt Bleistiftnotizen zum Vorschein kommen. Nun weiß ich, woran mich diese Szene erinnert: ein großer Moment in der Geschichte, ein Zettel, Wilma Brunkhorst meets Günter Schabowski.
«Also, mein Junge. Was ich immer schon mal wissen wollte: Warum ist der Neger schwarz?»
Ich blicke etwas ratlos, doch Wilma lässt sich, wo ihre Frage endlich raus ist, nicht beirren. Im Gegenteil, sie kommt erst richtig in Fahrt.
«Bengel, du hast doch gesagt, du willst jede Frage beantworten! Dann bitte erklär mir das mal: Wir sind weiß, der Chinese ist gelb, der Indianer ist rot, und der Neger ist eben schwarz. Ja, warum ist das so?»
Und dabei schaut sie so treuherzig und unschuldig wie ein zwei Wochen altes Robbenbaby in der Seehundstation Friedrichskoog.
«Frau Brunkhorst, ich möchte nicht unhöflich sein, aber haben Sie vielleicht noch eine andere Frage?»
«Ja, hier: Warum lieben sich immer mehr Männer?»
Wieder blickt sie mich so lieb an, sie will mir doch nur helfen.
«Mensch, das ist ’ne ganz normale Frage! Früher, da gab’s so was nicht, aber jetzt siehst du die Männer überall Hand in Hand. Und diese Knutscherei – das wird doch immer schlimmer.»
An diesem Morgen verliest Frau Brunkhorst noch viele andere gutgemeinte Fragen. Etwa ob Franzosen wirklich so schmutzig seien, wie manche Leute im Dorf behaupten. Oder warum das Spanferkel eigentlich Spanferkel heißt: «Weiß man nicht, oder? So ein kleines Schwein. Aber schmeckt gut.»
Es wird Zeit zu gehen. Ich bedanke mich höflich, wir stehen vor Wilmas grasgrünem Dielentor, sie zieht mich ein letztes Mal zu sich hinab, kneift mir in die Wange und bittet mich, ihr von unterwegs zu schreiben. Frau Brunkhorst bekommt nicht oft Besuch. «Tschüs, mein lieber Dennis, ich wünsch dir ’ne schöne Weltreise und sieh zu, dass du mich nicht vergisst!»
Ein paar Tage später stelle ich meinen Film in der Redaktion vor. Ich habe die besten Szenen aus dem Hause Brunkhorst geschmackvoll kombiniert und eine Swingmusik à la James Last unterlegt, das kommt gut an. Kein Quatschen mit vollem Mund, kein krachendes Gebiss – Wilma ist witzig und charmant, alles läuft bestens. Bis kurz vor Schluss. Bis zu dem Moment, in dem sie ihre Frage an die Welt verkünden soll. Die Masterfrage. Der Höhepunkt des Films. Die gefährliche Mission, die ich für Frau Brunkhorst eines Tages irgendwo auf diesem Planeten bestehen soll. Ich habe lange darüber nachgedacht und lasse sie nun die Frage aller Fragen vorlesen:
«Wie schmeckt Kängurufleisch?»
«Das ist alles?», fragt jemand aus der Redaktion. «Hat sie nicht noch was...