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E-Book

Kursbuch 190

Stadt. Ansichten.

VerlagKursbuch Kulturstiftung gGmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl204 Seiten
ISBN9783946514442
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt mittlerweile in Städten. Und der Trend zur Urbanisierung setzt sich unvermindert fort. Dies vor allem in den Schwellen- und Entwicklungsländern, wo die Landflucht eine nie dagewesene Dynamik entwickelt hat. Aber auch in den hochentwickelten Ländern ist der Drang in die Stadt ungebrochen. Menschen, Lebensformen und Kulturen so unterschiedlich wie nur vorstellbar treffen hier aufeinander und bilden ein buntes Ganzes. Oder doch nicht ganz? Im Kursbuch 190 'Stadt. Ansichten.' beschäftigen sich die Autoren mit Ursachen, Ausprägungen und Folgen des Megatrends Urbanisierung. Mit Beiträgen u.a. von Verleger Sven Murmann, Mobilitätsforscher Stephan Rammler und Schriftstellerin Kathrin Röggla.

Seit 2012 erscheint das Kursbuch unter der Herausgeberschaft von Armin Nassehi und Peter Felixberger. ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem 'Mit dem Taxi durch die Gesellschaft', in der kursbuch.edition erschien 'Gab es 1968? Eine Spurensuche'. PETER FELIXBERGER (*1960) ist Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: 'Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?'. Das Kursbuch wurde 1965 von Hans Magnus Enzensberger zusammen mit Karl Markus Michel gegründet. Als einer der wichtigsten kritischen Begleiter der bundesdeutschen Öffentlichkeit setzte die Kulturzeitschrift Themen, die sonst nicht auf der öffentlichen Agenda standen. Demgegenüber gilt es heute, im vorhandenen Themendickicht neue Schneisen zu schlagen und überraschende und ungewohnte Verbindungen herzustellen. Unter der Herausgeberschaft von Peter Felixberger und Armin Nassehi bietet das Kursbuch solche neuen unerwarteten Perspektiven an. Nicht die großen Unterschiede werden diskutiert, sondern das, was einen Unterschied macht.

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Leseprobe

Armin Nassehi
Kein Editorial
Urbanität als Anerkennungsmedium

Hier steht üblicherweise das Editorial. Dies ist kein Editorial. Das Editorial hat etwas Zentralistisches, es ist eine Textsorte, die so tut, als kontrolliere sie den Rest des Kursbuchs – auch wenn alle Welt weiß, dass es erst geschrieben wird, wenn es nichts mehr zu kontrollieren gibt, also zum Schluss, damit es am Anfang stehen kann. Ein Editorial entspricht der Ästhetik des Städtischen, widerspricht aber der Praxis des Städtischen. Auch Städte sehen ästhetisch oft so aus, als hätten sie ein Editorial – eine erzählbare Geschichte, einen Namen mit Legende, ein Zentrum mit Prunk oder ein repräsentatives Ensemble, das sich wie eine Art Kontrollzentrum ausgibt. Aber auch all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Städte eher dezentral operieren – was gerade deshalb zentralistische Instanzen wie Stadtplaner und Ordnungsagenten anzieht. Je mehr Planungsinstanzen, desto weniger Kontrolle.

In der Stadt ist man aber immer schon drin, egal, wo man einsteigt, reinfährt, aussteigt oder landet. Es muss nicht das Zentrum sein, auch nicht der Anfang, nicht einmal der Ort selbst. Wir steigen also beliebig ein, nämlich hier: Hier geht es nicht um Städte, sondern um Urbanität. Die folgenden Überlegungen sind keine empirischen Überlegungen, sondern eher begriffliche oder besser: diagnostische Überlegungen. Sie sollen freilegen, wovon wir eigentlich reden, wenn wir vom Städtischen reden – vom Städtischen, nicht von konkreten Städten. Städte sind relativ späte Erfindungen der Menschheitsgeschichte, auch wenn vormoderne Hochkulturen sogar begrifflich am Städtischen orientiert sind. Es ist übrigens umstritten, was unter Städten zu verstehen sei. Sie haben keine klaren Grenzen, man kann sie im soziologischen Sinne nicht als Systeme beschreiben. Sie sind keine Gesellschaften, aber auch keine Organisationen. Was Städte aber ausmacht, ist ein Raum- oder besser Ortsprinzip. Städte sind stets irgendwo. Man findet sie auf Landkarten, man kann die Welt danach beschildern, wo Städte sind. Sie sind also Orte, an denen etwas geschieht.

Vielleicht kann man für den europäischen Fall drei Idealtypen solcher Örtlichkeiten unterscheiden: das Dorf, das Kloster und die Stadt. Das Dorf ist vor allem von Gleichartigkeit geprägt. Tätigkeiten, die innerhalb eines Dorfes verrichtet werden, sind nicht wirklich gleich, aber insofern gleichartig, als sie sichtbar aufeinander bezogen sind und deshalb sehr sensibel auf Abweichung und Varietät reagieren. Hier hat alles und jeder und jede einen Ort, Rollen sind transparent und bekannt. Das Kloster dagegen ist wie eine Organisation aufgebaut, mit klarer arbeitsteiliger Struktur und vor allem mit dem Medium der zentralistischen Entscheidbarkeit von Sachverhalten und spezifischen Mitgliedschaftsrollen – deshalb waren Klöster in manchen Regionen mindestens so starke Modernitätsgeneratoren wie Städte. Diese beiden Sozialformen bringen zueinander passende Formen miteinander in Verbindung.

Städte dagegen haben es mit der Koordination von Disparatem zu tun, mit starken Unterschieden im Hinblick auf Tätigkeitsfelder, Aufgaben, Funktionen, Milieus und im Hinblick auf soziale Ungleichheit. Schon diese erste Annäherung sollte deutlich machen, dass das Städtische vor allem mit Unterschiedlichem zu tun hat, Komplexität und Unsichtbarkeit bewältigen muss.

Im Gegensatz zu den beiden anderen Formen kommt in Städten zusammen, was nicht zusammengehört. Das Bild von Städten ist davon geprägt, dass auf engstem Raum Unterschiedliches und fast Unkoordinierbares aufeinandertrifft. Man kann es an den Gebäuden und an den Menschen sehen. Kirchen und Produktionsbetriebe, Verwaltungen und Kulturinstitutionen, Universitäten und Schulen, Regierungen und Oppositionen, Parlamente und Standesorganisationen, Verkehr und Erholung, Wohnungen und Konsumorte, unterschiedliche Milieus, Schichten und Klassen, verschiedene Kulturen, maximal verschiedene Lebensformen, moralische Gewohnheiten, sogar unterschiedliche Sprachen, dunkle Ecken und Löcher ebenso wie das Licht der Aufklärung, gerade Straßen und krumme Gassen, geplante und gestaltete Boulevards ebenso wie Ensembles ohne Plan, Industrie und Handwerk, Szenen und Zonen, Lautstärke und Stille, Verbrechen, Sünde und Tugendhaftigkeit, das Bordell ebenso wie der bürgerliche Verein, Sichtbares und Unsichtbares, öffentliche Räume und private Räume, Distinktionsbemühungen und Einheit. Alles, was Gesellschaften ausmacht, nämlich die Gleichzeitigkeit all dieser Formen, kommt in den Städten räumlich zusammen.

Es kommt wirklich zusammen, was nicht zusammengehört – deshalb gehören zum Urbanen stets eine konfliktträchtige Dynamik und der Versuch ihrer Kontrolle. Vielleicht sind die historisch entscheidenden Charakteristika des Städtischen die Stadtmauer und die Polizei – beide versuchen, wenigstens die Illusion der Kontrolle aufrechtzuerhalten. Die Stadtmauer kann kontrollieren, was und wer rein- und wieder rauskommt, aber sie kann nicht konditionieren, wie sich das Innen zu Ensembles gruppiert. Und die Polizei passt auf.

Urbanität ist ein Prinzip der Vielfalt und der Verschiedenheit – nicht als wohlfeiles Programm oder als normative Idee, sondern als Konsequenz eines Ortes, an dem sich tatsächlich ballt, was modernisierende Gesellschaften ausmacht. Die Begriffe Vielfalt und Diversität sind in der Gegenwart eher normativ aufgeladen, sie sind Kampfbegriffe im Kulturkampf der Gegenwart geworden – wenn man die Frage der Urbanität ernst nimmt, dann sind Städte per se, oft auch gegen den Willen und gegen die Motive der Akteure, bereits divers, vielfältig – wie sagt man so schön? –, bunt! Es lohnt sich, dieses Verständnis kurzzeitig einzuklammern, um es wirklich verstehen zu können – zumal auch die Protagonisten des Bunten oftmals ziemlich einfältig sein können, wenn sie die anderen, die, die das Bunte verwünschen, gerne exkludieren würden. Paradoxerweise gehören zum Städtischen stets auch die Protagonisten der Einfalt, geschlossene Gruppen, Einheitsfanatiker. Sie gehörten immer auch zur Vielfalt der Städte dazu – und das ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Man könnte sagen: Vielfalt ist ein funktionales Erfordernis, eine Unvermeidlichkeit, die nur um den Verlust des Urbanen eingeschränkt werden kann. Insofern kann man tatsächlich behaupten: Es kann durchaus nicht urbane Städte geben!

Städte sind aufgrund ihrer strukturellen Vielfalt und inneren Diversität immer konflikthaft und eigensinnig. Und gerade weil sie keine klare Einheit haben oder sind, haben sie oft klingende Namen und Legenden, die auch stets für eine bestimmte Praxis stehen, für ein Arrangement all der Dinge, die nicht zusammengehören. In den Städten ereignet sich erst jener Austausch von Unterschiedlichem, der für Komplexitätsaufbau sorgt, dafür, dass Dinge geschehen, die man sich vorher nicht vorstellen konnte. Künste, Wissenschaften, religiöse Formen, politische Willensbildung, Kritik und Revolutionen, Unkontrollierbares, Risiken usw.

Städte sind Gebilde, die sich selbst kontrollieren müssen. Und dies ist das Entscheidende: Was ist hier das Medium der Kontrolle? Im Dorf ist es die Sichtbarkeit und Transparenz, die jede Abweichung registriert und deshalb einschränken kann. Im Kloster ist es die kontrollierte Arbeitsteilung. In der Stadt aber ist es eine Handlungskoordination, die dezentral erfolgen muss, weil es den zentralen Ort der Handlungskoordination nicht gibt. Im Unterschied zu Dorf und Kloster ist das eine Handlungskoordination unter Fremden. Die Dörfler kennen sich, die Klosterbrüder sowieso, aber Städter bleiben sich fremd.

Urbane Lebensformen sind nur deshalb möglich, weil sich in den Städten vor allem Fremde begegnen. Es klingt auf den ersten Blick vielleicht paradox, aber gerade in den Ballungsräumen, in denen sowohl räumliche Nähe als auch funktionale Abhängigkeiten untereinander extrem gesteigert werden, werden die Grenzen der Gemeinschaft, die Unmöglichkeit, das gesellschaftliche Leben auf direkte persönliche Reziprozität aufzubauen, besonders deutlich. Distanz und persönliche Neutralität treten an ihre Stelle. Kurz: Nur weil man reden, argumentieren, deliberieren könnte, sind Schweigen und Distanzierung eine Option.

Die Urbanität der Städte lebt vom Privileg, in Ruhe gelassen werden zu können. Nur in Städten kann es gelingen, Hunderten von Fremden zu begegnen und niemand von ihnen bedrohlich zu finden. Nur in Städten kann man wirklich allein sein – weil so viele andere da sind. Nur in Städten bleibt man unbeobachtet – weil der andere eben ein Fremder ist. Nur in Städten kann man in Ruhe gelassen werden – weil andere da sind, die auch in Ruhe gelassen werden wollen. Und übrigens gibt es letztlich auch nur dort Freundschaft im engeren Sinne, weil solche Freunde eben keine Freunde sein müssen, sondern auch...

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