Einführung
Warum Gestalt?
Gordon Wheeler
Worin besteht eigentlich der Gestaltansatz, und warum sollten wir uns als vielbeschäftigte Psychologen, Kliniker oder aus anderen Gründen an den Fragen und Schwierigkeiten von Paarbeziehungen Interessierte, damit beschäftigen? Was hat uns dieser Ansatz zu sagen, das andere Stimmen, andere Modelle nicht bereits gesagt hätten? Wahrscheinlich sind die meisten von uns als Paar- und Familientherapeuten Produkte und Produzenten von mehr oder weniger gelungenen Kombinationen verschiedener psychodynamischer und systemischer Ansätze, die wir, um uns zu orientieren und unsere Arbeit zu verbessern, im Laufe der Zeit in einem flexiblen Rahmen zusammengefaßt haben. Vielleicht haben wir noch die Erkenntnisse und Techniken einer ganzen Reihe weiterer Verfahren mit eingebaut, entweder weil sie uns vielversprechend erschienen oder weil wir die Grenzen der überlieferten Traditionen und Methoden erreicht hatten. Kognitiv und behavioristisch und kognitivbehavioristisch, strukturell und strategisch, Eriksonianisch, neurolinguistisch, Modelle von Abhängigkeit und Koabhängigkeit, Mißbrauch und Heilung, systemische Selbstregulation und Autopoiese – diese und andere Ansätze haben uns auf einem schwierigen Gebiet noch kompetenter gemacht, auch wenn sie uns manchmal verunsichert haben und wir den Boden unter den Füßen zu verlieren glaubten. Warum also diesem ohnehin schon verwirrenden und manchmal kakophonisch anmutenden Potpourri noch eine weitere Stimme hinzufügen? Oder, um die Frage noch einfacher zu stellen: Was kann dieser Gestaltansatz uns geben, und was können wir damit anfangen, das wir mit den vorhandenen Ansätzen nicht ebenso gut könnten? Wird diese neue Sichtweise mit den alten konkurrieren? Sie ersetzen? Oder, wie wir später diskutieren werden, wird dieses Gestaltmodell sein immanentes holistisches Versprechen erfüllen und die anderen Ansätze konzeptualisieren, so daß unser Angebot an technischen Variationen sich zur organisierten Erfahrung einer bedeutungsvollen Wahl entwickelt? Jede Methode, jede paartherapeutische Richtung zielt letztendlich darauf ab, daß wir bei einem bestimmten Paar zu einer bestimmten Zeit unter bestimmten Voraussetzungen und mit bestimmten Zielen eine bestimmte Intervention einsetzen. Aufgabe einer Methode ist es, dieses manchmal verwirrende Material zu organisieren und uns dadurch einen Fokus zu ermöglichen, eine Art, zu sehen, um uns bestimmte Entscheidungen zu erleichtern. Aber wie sollen wir vorgehen, um diese Modelle zu ordnen? Hier kann uns die Gestaltperspektive mit ihrem theoretischen und phänomenologischen Interesse an der Organisation der Erfahrung weiterhelfen. Wie das im einzelnen aussieht, werden wir später noch sehen.
Das Gestaltmodell
Die Wurzeln des Gestaltmodells reichen mehr als ein Jahrhundert zurück bis in die Anfänge der Wahrnehmungsforschung durch Exner und Ehrenfels, Wertheimer, Koffka und Kohler. (Das Interesse an der Organisationsform der Erfahrung hingegen geht mindestens bis auf die Griechen zurück und wurde von den Philosophen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts wieder aufgenommen, vor allem von Kant, dessen Arbeiten wiederum starken Einfluß auf Paul Goodman hatten). Neben Goldstein u.a. hatte vor allem Kurt Lewin, der Wegbereiter der Sozialpsychologie, der Gruppendynamik und der Organisationsforschung, sich die Aufgabe gestellt, diese frühen Arbeiten zum Wahrnehmungsprozeß auch auf den klinischen und den sozialen Bereich auszudehnen. Durch Lewins Arbeit fand das Gestalt-Wahrnehmungs-Modell den Weg vom Labor in den »wirklichen Lebensraum« von Zielen, Wahlmöglichkeiten, Konflikten, Austausch und anderen »echten« Prozessen und Problemen. Der Ausdruck Gestalttherapie fand erst ab 1951 Verwendung, als Paul Goodmans bahnbrechendes theoretisches Werk Gestalt Therapy – Excitement and Growth in Human Personality erschien, das aus einer früheren, inzwischen anscheinend verlorengegangenen Monographie von Fritz Perls hervorgegangen war.
Aufbauend auf der grundlegenden Arbeit früherer Generationen, die sich mit den »Gesetzmäßigkeiten« der Wahrnehmung und des Denkens beschäftigt hatten, und stark beeinflußt durch Ranks Idee vom Selbst als Künstler, war es Goodmans besonderes Verdienst, eine neue Sichtweise formuliert zu haben, in der das Selbst als Integrator des Feldes erscheint, als Organ oder Funktion der Beziehung zwischen der privaten, scheinbar abgetrennten Welt des »inneren« Lebens (in der westlichen Tradition im allgemeinen als »Individuum« bezeichnet) und der »äußeren« Welt der anderen, die natürlich ebenso an diesem Feld-Integrationsprozeß beteiligt sind. Diese Beziehung nannte Goodman »Kontakt«. Den Prozeß der Konstruktion, in dem die »innere« und die »äußere« Welt in eine zusammenhängende Handlung mündeten, bezeichnete er als das Selbst. Hier wird deutlich, daß der Gestaltansatz von Anfang an beziehungsorientiert war (heute würden wir heute sagen: »intersubjektiv«) und in seinem Kern einen interessanten Gegensatz zu vielen anderen klinischen Modellen darstellte, einschließlich natürlich des psychodynamischen Modells und seiner Nachfolger, die noch immer mit der Frage beschäftigt sind, wie sich das Beziehungsbedürfnis mit einem ursprünglich individualistisch geprägten Menschenbild zusammenbringen läßt. Für unseren Zweck, die Erörterung von Paardynamik und Paartherapie, wäre es – vorsichtig ausgedrückt – vielversprechend, mit einem Modell zu beginnen, das die Realität beider elementaren Pole der Erfahrung und des Lebens, also Individuum und Beziehung berücksichtigt, anstatt mit einem, das in seinen Grundannahmen über die menschliche Natur und das Selbst diesen zweiten Pol verneint und dann versucht, in der Therapie an Beziehungsproblemen zu arbeiten.
Seit Goodman und Perls hat der Gestaltansatz eine ganze Reihe z.T. kritischer, aber auch sehr nützlicher Erörterungen und Erweiterungen erfahren, angefangen mit den Klassikern von Polster und Polster (1983) oder Zinker (1993), über eine entwicklungsgeschichtliche und revisionistische Kritik von mir selbst (Wheeler, 1993) bis hin zu einer exzellenten und sehr ansprechenden Übersicht von Latner (1992). All diese Arbeiten liegen vor und sind ohne weiteres zugänglich. Anstatt den Versuch zu unternehmen, diese Beiträge hier nun wieder aufzurollen, wenden wir uns direkt einem Thema zu, das für uns alle, die wir uns theoretisch und praktisch mit den Herausforderungen von Paarbeziehungen beschäftigen, dringender und von größerer praktischer Bedeutung ist, nämlich der Frage: was kann dieses Modell uns geben, und warum sollten wir Zeit und Mühe investieren, um mehr darüber zu erfahren? Wir werden uns diesen Fragen unter sechs verschiedenen Gesichtspunkten zuwenden und dürfen erwarten, sechs »Perspektiven« – oder neue Anschauungsweisen kennenzulernen, die wir unmittelbar auf die Schwierigkeiten und Möglichkeiten unseres Denkens und unserer Arbeit mit dem Gestaltansatz anwenden können: (1) Die phänomenologische Sichtweise: Erfahrung, Prozeß, Widerstand; (2) Grenzen (und das Konzept der »Energie«); (3) Unterstützung (und ihr Gegenteil, Scham); (4) Das Experiment und die experimentelle Haltung; (5) Befriedigung; und (6) Kontextualisierung. Jeder dieser Punkte steht für ein Thema oder eine Gruppe von Themen, die von anderen Modellen aufgegriffen werden; jeder Punkt wird geklärt und aus der Gestaltperspektive heraus zur direkten praktischen Anwendung gebracht.
Die phänomenologische Sichtweise:
Erfahrung, Prozeß, Widerstand
Was bedeutet dieser etwas unheimliche Begriff Phänomenologie? Unter Phänomenologie verstehen wir das Erforschen der Organisation von Erfahrung. In diesem Zusammenhang meinen wir damit die Art und Weise, in der das Leben eines Menschen organisiert ist, und zwar von seinem Blickwinkel aus betrachtet, also so, wie dieser Mensch sein Leben versteht und ihm Sinn verleiht. Eine phänomenologische Perspektive einzunehmen heißt, zu versuchen, einen Zugang zur Erfahrung des anderen zu finden, die Welt des anderen und sein Verhalten so zu verstehen, wie er es erlebt, und nicht von einem äußeren, voreingenommenen Standpunkt aus. Das mag ziemlich einfach und selbstverständlich klingen, aber es gilt zu bedenken, daß die wenigsten Psychotherapien und Persönlichkeitstheorien eine solche Haltung einnehmen.
Die meisten Erklärungsmodelle menschlichen Verhaltens und Erlebens sind entweder retrospektivisch (das gegenwärtige Verhalten wird in irgendeiner Form durch die Vergangenheit »verursacht«) oder »objektiv« organisiert (d.h. man betrachtet die Person von außen) – oder beides. Sowohl retrospektivische Systeme wie die klassische Psychodynamik als auch die meisten behavioristischen Modelle betrachten das Verhalten als durch vergangene Ereignisse oder Ereignismuster determiniert. »Triebmodelle«, wie etwa das Freudsche Modell, suchen nach einer vergangenen Ereigniskonfiguration, in der ein innerer Trieb oder eine Triebenergie auf bestimmte Weise freigesetzt wurde, und leiten daraus ein mehr oder weniger stark an sexuellen Fetischen oder anderen Zwängen orientiertes Muster für die zukünftige Freisetzung desselben Triebes ab. Dem einzelnen selbst wird die Fähigkeit, hinsichtlich dieses Musters irgendeine Entscheidung zu treffen oder sich dessen gar bewußt zu sein, nicht zuerkannt (zumindest so lange nicht, bis die Interpretation des Therapeuten ihm zu mehr Klarheit verholfen hat).
Wenn man genau hinschaut, beziehen sowohl die klassische Lerntheorie als auch behavioristische Modelle im wesentlichen dieselbe...