VORWORT
Am Abend des 18. März 1990 klagte der Schriftsteller Stefan Heym bitter: «Es wird keine DDR mehr geben. Sie wird nichts sein als eine Fußnote der Weltgeschichte.» Soeben hatte die PDS die ersten freien Volkskammerwahlen verloren, die Befürworter einer schnellen Wiedervereinigung trugen den Sieg davon. Keine acht Monate später war die DDR von der politischen Landkarte verschwunden. Dennoch irrte Heym damals gründlich. Denn wider Erwarten landete der sozialistische Staat nicht einfach auf dem Müllhaufen der Geschichte: Sein Gedankengut und seine Ideale leben im vereinten Deutschland auf irritierende Weise fort. Davon handelt das vorliegende Buch.
Die DDR will nicht verschwinden. Sie besteht sogar in ihren alten Grenzen weiter – als gigantische Wirtschaftssonderzone. Nirgendwo sonst auf der Welt muss eine vergleichbar große Region innerhalb eines Staates vom stärkeren Landesteil so umfassend alimentiert werden. Ein Ende der Abhängigkeit ist nicht in Sicht. Gewiss haben die vergangenen zwanzig Jahre Fortschritte gebracht. Die Infrastruktur ist so modern wie kaum anderswo, einst zerfallene Städte und verwüstete Landschaften sind saniert. Nicht zuletzt hat das Wohlstandsniveau der Bürger erheblich zugenommen. Doch eines hat sich nicht verändert: Auf sich allein gestellt wäre Ostdeutschland heute ebenso wenig lebensfähig, wie es die DDR in ihrer Endphase war.
Ein solcher Fehlschlag war im Einheitsfahrplan des Jahres 1990 nicht vorgesehen. Begleitet wird er vom Schock der Bevölkerungsentwicklung: Die ostdeutsche Gesellschaft schrumpft und altert in einem Tempo, das in der europäischen Geschichte einzigartig ist. Bis zum Jahr 2020 werden die neuen Länder im Vergleich zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung fast ein Fünftel ihrer Bevölkerung verloren haben. Ganze Regionen entleeren sich, halbe Städte sind schon abgerissen. Die als unwirtlich empfundene Realität nährt die Flucht ins Vergangene. Viele Ostdeutsche haben sich innerlich wieder in der Welt der DDR eingerichtet: Sie mystifizieren den Staat, den sie einst zu Fall gebracht haben, und verschanzen sich im antiwestlichen Protest, wie ihn einst die Propaganda predigte. Die sich abzeichnenden Verwerfungen im Gefolge der Weltwirtschaftskrise machen wenig Hoffnung, dass sich daran etwas ändert.
Ostdeutschland ist auch ohne Mauer und Stacheldraht eine «andere Republik» geblieben. Schon 1990 prophezeite Ralf Dahrendorf, es werde sechzig Jahre dauern, bis sich erneut eine bürgerliche Zivilgesellschaft herausgebildet habe. Sein Zeitmaß war die doppelte Diktaturerfahrung der Ostdeutschen. Zwar unterschied sich die SED-Diktatur von der NS-Diktatur durch die zweifellos geringere Dimension ihrer Verbrechen. Aber sie wirkte nachhaltiger, nicht nur, weil sie länger andauerte und drei Generationen prägte. Sondern auch, weil sie eine Weltanschauungsdiktatur war, die ihren repressiven Kern mit den Parolen von Antifaschismus, Frieden oder Gerechtigkeit drapierte. Zudem vertrieb sie das Bürgertum und zerstörte zielgerichtet religiöse Milieus – nicht zuletzt darin liegt die geistige Heimatlosigkeit vieler Ostdeutscher begründet.
Aber auch im Westen rumoren die Mythen des SED-Staates weiter. Viele Westdeutsche, die dank der Gnade des Geburtsortes in Freiheit aufgewachsen sind, wollten den wahren Charakter des Ost-Berliner Regimes nie wahrhaben. Für Günter Grass war die DDR, die Tausende Menschenleben gewaltsam ausgelöscht und mehr als 200 000 Bürger aus politischen Gründen inhaftiert hatte, selbst im Rückblick eine «kommode Diktatur». Manche betrauerten, dass mit dem Ende des kommunistischen Experiments ein Korrektiv zur kapitalistischen Ordnung verloren ging.
Die Folgen für die Gegenwart sind erschreckend:
Wenn die Linkspartei als Nachfolgerin der ostdeutschen Diktaturpartei einen westdeutschen Landtag nach dem anderen erobert – ist die DDR damit im Westen angekommen? Wenn sich ausgerechnet in Sachsen, dem Kernland des Aufbruchs im Herbst 1989, die CDU-Regierungspolitiker zur Hälfte aus früheren Mitgliedern und Funktionären einer SED-hörigen Blockpartei rekrutieren – ist damit die demokratische Erneuerung im Osten gescheitert? Wenn Bundespräsident Horst Köhler einem namhaften Künstler das Bundesverdienstkreuz verleiht, im Wissen darum, dass der Geehrte nach den Kriterien der Stasi-Unterlagenbehörde ein Spitzel des DDR-Geheimdienstes war – lässt dann selbst der höchste Repräsentant der Bundesrepublik die nötige Distanz zu den Stützen der Diktatur vermissen?
Nach dem Zusammenbruch der DDR wollten es die Deutschen besser machen als fünfundvierzig Jahre zuvor. Heute steht fest: Die Aufarbeitung der zweiten Diktatur auf deutschem Boden ist gründlich gescheitert. Dieses Buch liefert die längst überfällige Bilanz des folgenschweren Versagens in vier entscheidenden Bereichen.
1. Der Umgang mit dem DDR-Unrecht: Die juristische Ahndung der Staatsverbrechen ist fehlgeschlagen. Obwohl es eine der Hauptforderungen der DDR-Bürgerrechtler und der frei gewählten Volkskammer war, die Systemkriminalität zu sühnen, wurden die Täter vom bundesdeutschen Rechtsstaat in empörender Weise verschont. Zudem hat die Politik – anders als im Fall der NS-Aufarbeitung – zum Ausgang dieses Kapitels bis heute keine Rechenschaft abgelegt. Für jahrzehntelanges Diktaturunrecht büßten gerade einmal vierzig Täter hinter Gittern. Ihre Namen werden in diesem Buch zum ersten Mal aufgelistet, viele ihrer Taten dargestellt. Selbst im Auftrag des Regimes begangene Morde behandelten die Richter mit außergewöhnlicher Nachsicht. Für die Opfer war nicht nur dies ein Schlag ins Gesicht. Sie wurden nie angemessen entschädigt.
2. Die Entwicklung der Parteien: Im Westen bleiben die sogenannten Volksparteien CDU und SPD trotz schwindender Mitgliederzahlen politische Interessengruppen, die in der Gesellschaft verankert sind. Im Osten dagegen schrumpft die ohnehin schmale Mitgliederbasis in rasantem Tempo. Ein neuer Typus von Partei hat sich herausgebildet: Vereine, in denen wenigen Funktionsträgern eine nahezu entsprechende Anzahl von Mandaten und Ämtern gegenübersteht. Das heißt: Beinahe jedes aktive Parteimitglied hat auch einen Posten inne. In Niedersachsen und Hessen sind zusammen mehr als doppelt so viele Christdemokraten organisiert wie in allen fünf neuen Ländern. Es macht die ostdeutsche CDU nicht attraktiver, dass etliche einflussreiche Politiker ihre Vergangenheit als Blockflöten verschleiern. Bei den Sozialdemokraten sieht es zahlenmäßig noch trauriger aus, die Partei hat im Osten gerade einmal so viele Mitglieder wie der Landesverband Saar. Die Linkspartei hat sich in einer Lüge eingerichtet. Unverdrossen behaupten ihre Funktionäre, sie hätten mit dem Stalinismus gebrochen – in Wirklichkeit setzen die Parteichefs Oskar Lafontaine und Lothar Bisky auf Kooperation mit Vereinen ehemaliger Systemträger, die bis heute die DDR als besseren deutschen Staat loben.
3. Die Eliten in den Medien, im Öffentlichen Dienst und im Sport: Nach dem Ende der DDR waren die meisten Ostdeutschen gezwungen, sich beruflich neu zu orientieren. In wichtigen Bereichen fällt die Bilanz anders aus, es herrscht verblüffende Kontinuität. In den Regionalzeitungen, die in Ostdeutschland eine monopolartige Stellung innehaben, waren beispielsweise zehn Jahre nach dem Systemwechsel noch immer sechzig Prozent der Journalisten beschäftigt, die sich vor 1989 als Propagandisten der SED verstanden. Wie kaum ein anderer Berufsstand ist die Medienbranche mit ehemaligen MfS-Mitarbeitern durchsetzt. Ihre Vergangenheit sorgt noch immer für Schlagzeilen, weil eine systematische Überprüfung unterblieben ist. Selbst in Bundesministerien arbeiten noch heute Agenten der DDR-Auslandsspionage. Die DDR war dank krimineller Funktionäre, Trainer und Ärzte mit 572 olympischen Medaillen die erfolgreichste Sportnation der Welt – mit diesem Potenzial ist das vereinte Deutschland bis heute auf Medaillenjagd.
4. Die staatlich geförderte Aufarbeitung: Für das richtige Gedenken an die zweite deutsche Diktatur stehen Jahr für Jahr weit über hundert Millionen Euro bereit. Die Deutschen lassen sich ihren Ruf als «Weltmeister der Aufarbeitung» etwas kosten. Wissenschaftler und Publizisten haben 53 000 Publikationen über die DDR und den Transformationsprozess hervorgebracht – dennoch strahlt das Bild der DDR umso heller, je weiter sie zurückliegt. Selbst bei denen, die sie nicht aus eigenem Erleben kennen. Daran sind die Institutionen der Aufarbeitung selbst nicht ohne Schuld. Die vom Bund eingerichtete Aufarbeitungs-Stiftung kooperiert wie selbstverständlich mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die MfS-Generälen ein Podium bietet. Die hochgelobte Stasi-Unterlagenbehörde wiederum krankte schon an einem Geburtsfehler – die Stasi schrieb am Gründungskonzept mit und nistete sich sogleich dort ein. Rund siebzig hauptamtliche MfS-Mitarbeiter wirkten in Deutschlands größtem Aktenimperium, was unter den beiden Bundesbeauftragten Joachim Gauck und Marianne Birthler verheimlicht wurde.
«Vorwärts und vergessen» ist kein Buch über den Osten. Das Scheitern der DDR hat auch westdeutsche Gewissheiten und Weltbilder erschüttert. Seit der Regierungszeit von Willy Brandt arrangierte sich die Bundesrepublik im Status quo der Teilung, der antitotalitäre Konsens schwand. Die politische Klasse in Bonn,...