Zur Lage:
Vom Mythos der deutschen Dörfer
Deutschlands Provinz wird zur nationalen Gefahr.
Meist passiert es auf Vernissagen, in Theaterpausen oder während einer Besprechung in den Schickimicki-Restaurants der Metropolen – im Grill Royal in Berlin oder beim Käfer in München. Irgendwann, das ist so sicher wie das Läuten der Dorfkirche, beginnt irgendjemand von der Idylle der Provinz zu schwärmen. Er erzählt von einer besonders hübschen Antiquität, die er auf einem Bauernhof gefunden hat, vom letzten Urlaub, den er beim Klettern in den Alpen verbracht hat, oder von der Landpartie im neuen Cabrio. Architekten, Galeristen oder Chefredakteure stellen ihre Lofts mit Vintage-Möbeln voll, fahren mit Hermès-Decken zum Picknick oder mit Gucci-Stiefeln auf die Datsche. Sätze wie «Deutschland ist schöner, als man denkt» gehören zum Small Talk der Großstädter. Die Provinz war, ist und bleibt salonfähig.
Die Liebe der Städter zum Land ist kulturell angelernt. Seit jeher zeichnen Unterhaltungsromane ein verklärtes Bild der Provinz, Kino- und Fernsehfilme inszenieren die alltägliche heile Welt auf dem Lande. Im Dorf unserer Phantasie geht es hart, aber herzlich, ruppig, aber ehrlich, hinterwäldlerisch, aber bauernschlau zu. Hier befindet sich die psychologische Keimzelle unserer Gesellschaft. Hier versammeln sich die urdeutschen Tugenden: Fleiß, Redlichkeit, Stolz und Natürlichkeit. Aber hier schlummert auch die dunkle Seele unserer Nation: das Spießertum, die Ausgrenzung von Minderheiten und die naiv-patriotische Heimatliebe. Entweder ist das Land eine schöne heile Welt, die für ein paar Groschen als Roman zu haben ist, oder es wird zum Albtraum, der seinen Einwohnern – oder denen, die es werden wollen – teuer zu stehen kommt. Entweder leben die Dorfbewohner unterm wolkenlosen Sonnenhimmel, oder sie kämpfen sich durch Nebelschwaden, Berggewitter und Meeresstürme. Sowohl die Stimmungen auf dem Land als auch das Personal scheinen fest definiert. Es gibt «Dorfdeppen», die das Erbe von «Alexis Zorbas’» Idioten bis zum Behinderten aus dem «Weißen Band» antreten. Es gibt den Dorfarzt, der in die Fußstapfen von Professor Brinkmann aus der «Schwarzwald-Klinik» tritt, den Dorfpfarrer, der meist an «Pater Brown» erinnert, die Erben des «Dorflehrers Lämpel» und die Dorfbürgermeister, die für den Aufstieg ihrer Gemeinden in der Regel über Leichen gehen. Und natürlich dürfen die Dorfbauern nicht fehlen, die «Tonis» und «Jan-Hinnerks», die in Krimis gern unschuldige, menschliche Urgewalten mit harter Schale und weichem Kern abgeben. Doch mit der modernen Wirklichkeit auf dem Land hat all das nichts zu tun.
Pater Brown, Lehrer Lämpel und Professor Brinkmann haben die Provinz längst verlassen. Viele Bauern mussten ihre Gehöfte aufgrund der EU-Agrarpolitik aufgeben, oder ihre Betriebe wurden von Großagrariern aufgekauft. Der Bürgermeister ist oft nicht mehr für ein einzelnes Dorf zuständig, sondern für mehrere Ortschaften, und der demokratische Willensprozess der Gemeinden wird durch die kommunale Finanznot fast unmöglich. Der massive Mangel an Landärzten wird zwar überall als nationaler Notstand debattiert, aber noch immer kommt ein Großteil der Landpraxen kaum über die Runden, weil sie zu wenig Patienten und einen zu hohen Zeit- und Kostenaufwand bei den Hausbesuchen haben. Auch der Dorfpfarrer gehört schon lange nicht mehr zu den Instanzen auf dem Land. Der katholische Rheinische Merkur berichtet von kircheninternen Szenarien, nach denen jedes dritte der 24 000 deutschen Gotteshäuser mittelfristig in Frage steht. Im Osten der Republik ist der Kreuzzug bereits verloren, und auch im Westen verliert die Kirche auf dem Land zunehmend an Einfluss – allein im Bistum Essen wurden bereits 100 Kirchen geschlossen. Immer weniger Menschen sehen auf dem Dorf eine Zukunft für ihre Kinder und Familien. Viele Schulen wurden aufgegeben oder kurzerhand in die Kreisstädte oder in die Speckgürtel der Großstädte verlegt – mit ihnen verschwinden die Lehrer. Vom guten alten Romanpersonal der deutschen Provinz bleiben also nur noch die Alten und die Dorfdeppen zurück. Heile Dorfwelten gibt es fast nur noch im Fernsehen.
Die Fernuniversität Hagen hat herausgefunden, dass 25,3 Prozent der Haushalte auf dem Land mit einem Einkommen von unter 1300 Euro im Monat leben. In Großstädten liegt der Anteil der Geringverdiener bei nur 17,7 Prozent. Auch die Bildung ist auf dem Land wesentlich schlechter als in der Stadt. Während 30,4 Prozent der Landbevölkerung einen niedrigen Bildungsstand haben, sind es in der Stadt nur 26,4 Prozent. Noch deutlicher wird die Schere im Vergleich der klugen Menschen. Fast 30 Prozent der Städter haben einen hohen Bildungshintergrund, auf dem Dorf sind es nur 20 Prozent.
Dennoch ist der magische Mythos des Dorfes ungebrochen. Je komplizierter die Welt in den Städten wird, je weiter sich der Handel globalisiert und je unpersönlicher unsere Metropolen sind, desto mehr scheint das ideale Dorf als Modell einer heilen Welt herhalten zu müssen. Es erscheint wie eine letzte Trutzburg gegen die unaufhaltsame Globalisierung oder wie die Renaissance eines urromantischen deutschen Traumes. Aber das Dorf ist auch zu einer der größten modernen Legenden geworden.
So wie wir es uns vorstellen, hat jedes Dorf einen Tante-Emma-Laden, die Verkäuferin (natürlich mit weißer Schürze) kennt ihre Kunden persönlich und deren ganz spezielle Wünsche: fünf Scheiben Landschinken, ein Krustenbrot und 200 Gramm frischen Käse von Bauer Mayer – dann darf’s auch gern ein bisschen mehr sein. Im Zentrum steht die Dorfkneipe (natürlich rustikal vertäfelt und mit Stammtisch). Sie ist das allabendliche Ziel der Dorfgemeinschaft. Hier werden Freuden und Sorgen geteilt und am Ende des Tages der Ärger mit einem Korn heruntergespült. Außerdem hat das ideale Dorf eine funktionierende Nachbarschaft. Die junge Familie (natürlich mit zwei oder mehr Kindern) bringt der alleinstehenden Oma von nebenan eine Wasserkiste aus dem Supermarkt mit, und der Handwerker repariert kurzfristig die Heizungsrohre seines Nachbarn, wenn’s im Winter mal klemmt. Das ideale Dorf ist ein Fleckchen Erde, an dem jeder Tag zum Groschenroman wird. Ein Stückchen heile Welt, die viel zu schön ist, um wahr zu sein. Das ideale Dorf ist der Ort unserer Träume – und es existiert tatsächlich. Tante-Emma-Läden, Dorfkneipen und nette Nachbarn gibt es mitten in Deutschland. Allerdings kaum noch auf dem Land. Das ideale Dorf unserer Gegenwart heißt: Schöneberg. Einer der lebhaftesten Stadtteile Berlins.
Zugegeben, die Schöneberger Tante-Emma-Läden sind eigentlich 24-Stunden-Türken oder Feinkostläden mit exquisitem Käse- und Wurstsortiment. Die Dorfkneipe ist in Wirklichkeit eine Bar unter vielen, in der das Leben erst um Mitternacht beginnt. Und die Nachbarschaft findet nicht von Hof zu Hof, sondern von einer Altbau-Etage zur nächsten statt. Und trotzdem: Während der Geist des Guten in der deutschen Provinz nur noch spukt, feiert er ausgerechnet in den Metropolen seine Auferstehung. Die Großstädter bauen sich ihre eigenen intimen City-Villages, und so sind die Metropolen zu den vielleicht letzten Orten geworden, an denen das deutsche Landleben noch intakt ist.
Die Städter errichten ihre Dorfstrukturen sogar in der virtuellen Welt. Bei Facebook, Twitter und Co. finden die Cyberdorfbewohner Klatsch und Tratsch, jeder kennt hier jeden, solange er von den anderen Village-People «geaddet» wird. Das Dorf der Zukunft heißt Großstadt oder Community. Derweil kommt den echten Dörfern auf dem Land das Idyll abhanden. Ihnen gelingt es nicht, neue, reale Freunde zu «adden». Sie sind die Loser der Moderne. Wir haben es mit einer gigantischen Landflucht zu tun: Die klugen jungen Frauen sind bereits in die Städte gezogen, die klugen jungen Männer folgen ihnen. Die deutschen Dörfer sind hoffnungslos überaltert, zunehmend kriminell und in manchen Teilen des Landes kaum noch intakt.
Weite Teile Ostdeutschlands sind bereits entvölkert. Nach Berechnungen des Berlin-Instituts werden im Jahre 2020 schon 20 Prozent weniger Kinder im Vorschulalter in den neuen Bundesländern leben als 1991. Und auch in Westdeutschland stirbt das Land einen schnellen Tod. Teile von Hessen werden bereits «Deutsch-Sibirien» genannt, und nach einer Studie der NBank haben 40 von 49 Gemeinden in Südniedersachsen in den letzten Jahren massiv an Bevölkerung verloren. Leicht steigend sind nur die Einwohnerzahlen in der Nähe von Göttingen.
Auch kleineren Städten in der Provinz geht es inzwischen an den Kragen. Orte wie Hoyerswerda wollten nach der Wende eigentlich wachsen, haben ihre Plattenbauten saniert und stellen nun erschrocken fest, dass sie wieder schrumpfen müssen. Statt für 70 000 Menschen wie einst plant man inzwischen für 39 000 Bewohner und reißt einen Großteil der teuer sanierten Gebäude wieder ab. Ähnliche Trends sind in Halle, Magdeburg, Cottbus oder Neubrandenburg zu beobachten. Gelsenkirchen verzeichnet bereits eine Arbeitslosenquote von über 15 Prozent und rechnet damit, dass es bis 2020 11 Prozent seiner Einwohner verlieren wird – dann wird die Stadt an der Ruhr nur noch halb so groß sein wie...