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Das Jahr der Revolte

Frankfurt 1968

AutorBernd Messinger, Claus-Jürgen Göpfert
VerlagSchöffling & Co.
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783731761228
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Die Revolte von 1968 hat in keiner deutschen Stadt solche Spuren hinterlassen wie in Frankfurt am Main. Die Forderungen der außerparlamentarischen Opposition und der Studenten der Goethe-Universität sind nicht nur im gesellschaftlichen Leben bis heute spürbar, sondern bestimmen auch die Kultur maßgeblich mit. 50 Jahre danach erinnern sich in diesem Buch mit Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger prominente Zeitzeugen wie der Politiker Daniel Cohn-Bendit, der Verleger KD Wolff und der Schriftsteller Peter Härtling an das turbulente, ereignisreiche Jahr in Frankfurt am Main. Sie lassen die Ereignisse Revue passieren, reflektieren aber auch die großen Irrtümer und ideologischen Verirrungen der Zeit. Die Frage, was von den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen der 68er geblieben und was heute im Zeichen des Rechtspopulismus wieder bedroht ist, erörtern die Autoren in einem ausführlichen Interview mit Daniel Cohn-Bendit.

Claus-Jürgen Göpfert, geboren 1955 in Wiesbaden, arbeitet seit 1976 als Journalist für Rundfunk und Print, u. a. bei der Frankfurter Neuen Presse, seit 1985 ist er Redakteur bei der Frankfurter Rundschau und leitet heute die Ressorts Frankfurt und Rhein-Main. Bernd Messinger, geboren 1952, studierte u. a. bei Jürgen Habermas. In dieser Zeit engagierte er sich als Studentenvertreter im AStA der Frankfurter Goethe-Universität. Er war Landtagsabgeordneter der Grünen und Vizepräsident im Hessischen Landtag, später arbeitete er im Presseamt der Stadt Frankfurt und war Büroleiter der damaligen Oberbürgermeisterin Petra Roth.

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Leseprobe

III Porträts

Hans-Jürgen Krahl
»Wo die Wölfe hausen«

Es waren ungewöhnliche »Angaben zur Person«, die der »Robespierre von Bockenheim« – so sein Spitzname, vor Gericht machte, als er wegen der Protestaktionen gegen die Verleihung des Friedenspreises an L. Senghor vor Gericht stand und zu einer absurd hohen Strafe von 1 Jahr und 9 Monaten wegen des damals so beliebten Straftatbestandes der »Rädelsführerschaft« verurteilt wurde – Hans-Jürgen Krahl, neben Rudi Dutschke wohl der analytischste, charismatischste – vielleicht auch verzweifeltste – Kopf der 68er.

In einer frei und ohne Konzept gehaltenen, weit über einstündigen Einlassung erläuterte Krahl nicht nur seine Herkunft und die Zeit, die er brauchte, um sich aus dem Geist der 50er-Jahre, in der er völkisch-christlich-romantisch-esoterische und doch schon radikal verzweifelte Gedichte schrieb, in schlagenden Verbindungen aktiv war und 1961 in seiner niedersächsischen Heimatstadt Alfeld die Junge Union gründete, zum radikalen Linken wandelte. »Aus diesen provinziellen Traumwelten kamen die führenden Köpfe der deutschen 68er-Bewegung«, schreibt Gerd Koenen viele Jahre später in seinem klugen, wenn auch von seiner eigenen Biografie stark gefärbten Aufsatz über Krahl, den »transzendental Obdachlosen«.

Doch neben dem Blick auf seine eigene Biografie, in der Krahl vor einem Gericht, dem er eigentlich die Legitimation absprach, über ihn zu urteilen, persönlich wurde wie kaum ein anderer Genosse seiner Zeit, um zu erklären, wie dann sein »politischer Bildungsprozess« ihn aus der »imperialistisch abenteuernden Philosophie« befreite (»nachdem mich die herrschende Klasse rausgeworfen hatte, entschloss ich mich dann auch, sie gründlich zu verraten und wurde Mitglied im SDS«). Neben diesem zutiefst intimen Blick entwickelte er – hier ganz Adorno-Schüler – seine Begrifflichkeit der Ideologiekritik und dann aber, hier konsequent über Adorno hinaus, seine Vorstellung über den Weg in eine künftige Gesellschaft, sein Freiheitsversprechen, dass diese Gesellschaft eben nicht über dogmatische und autoritäre Macht- und Organisationsformen erfüllt werden kann.

Krahl – Vordenker der Revolte
© picture alliance/AP Images

Krahl von der Anklagebank: »Uns wird immer gesagt, ihr seid deshalb nicht legitim, weil ihr nicht angeben könnt, wie die künftige Gesellschaft aussehen soll. Das sagen immer diejenigen, die meinen, nun gebt uns erst einmal ein Rezept, und dann entschließen wir uns vielleicht, ob wir mittun wollen. Das sagen jene Heuchler und Feiglinge, die meistens in den Redaktionen der bürgerlichen Presse sitzen. Die künftige Gesellschaft kann man nicht vorwegnehmen. Wir können sagen, wie der künftige Fortschritt in hundert Jahren aussehen wird, aber wir können nicht sagen, wie die menschlichen Beziehungen in hundert Jahren aussehen werden, wenn wir nicht anfangen, sie ad hoc, unter uns, im gesellschaftlichen Verkehr zu verändern. Was wir machen können, ist, immanent anzusetzen an jenen unterdrückten Verkehrsformen, die die bürgerliche Gesellschaft entwickelt hat. Wir negieren sie, das heißt wir lösen überhaupt erst im politischen Kampf die Emanzipationsversprechen ein, die ihr, also die Vertreter auch der bürgerlichen Justiz, gegeben, aber nicht gehalten habt.«

Dass hier Krahl die Frage der Entwicklung einer neuen Alltagskultur, den Aufbau von solidarischen Beziehungen, ein Emanzipationsversprechen durch den politischen Kampf – obwohl es doch eigentlich kein richtiges Leben im falschen gab – vor den Klassenkampf der dogmatischen, DDR-affinen Marxisten stellt, war prägend für den Diskurs in Frankfurt. Und es war dann auch kein Zufall, dass Krahl im Focus der Kritik stand von denen, die sich im Alltag mit den männlichen Leitfiguren von jenem Emanzipationsversprechen nicht aufgehoben fühlten – im Focus der Kritik der Frauen.

Die antiautoritäre Revolte, die Krahl bei der Besetzung des Instituts für Sozialforschung – das eigentlich bei allen Protestaktionen als sakrosankt galt – gegen seinen Lehrer (und auch wohl Idol?) Adorno anführte (Adorno soll dabei auf eine Tafel geschrieben haben: »Aus diesem Krahl heulen die Wölfe«) –, diese Revolte drehte sich plötzlich gegen ihn ganz persönlich, als aus den Reihen des Frankfurter Weiberrates jene berühmte Tomate auf ihn geworfen wurde – als nonverbale Antwort auf den Theoriejargon (der Eigentlichkeit?) der SDS-Herren, der als männliches Machtinstrument verstanden wurde, aber auch als Antwort auf das nicht eingelöste Emanzipationsversprechen im Alltag der Mann-Frau-Beziehung unter den Linken selbst.

»Genosse Krahl, du bist objektiv ein Konterrevolutionär«, und dazu ein Tomatenwurf – beides aus Frauenhand – ausgerechnet auf Krahl. Ausgerechnet auf jenen Krahl, der doch – im Gegensatz zu den meisten Genossen, die sich nach den erbitterten Theoriedebatten abendlich im Kolb-Keller im Geschlechterkampf übten – selbst schwer mit sich zu kämpfen hatte, als er »seine latente, nicht gelebte Homosexualität als den verborgenen Grund seiner tiefen Bindungs- und Beziehungslosigkeit entdeckte« (Koenen), ausgerechnet jener introvertierte Krahl, der wie kein anderer doch eigentlich dem Postulat der Frauen nach dem Privaten im Politischen nachkam, jener Krahl, dem Silvia Bovenschen viele Jahre später einmal konstatierte: »Ich bezweifle, dass heute noch viele von uns die Befunde dessen, was sie für ihre Individualität halten, in ein solches fortschrittgeschichtliches Streckbett legen würden.« (FAZ 1988)

Spricht man heute mit den Frauen, die Krahl auf der Straße, in den Hörsälen, im verräucherten Debattenkeller erlebten, ahnt man, dieser Wurf galt einem Kopf, nicht einem Körper. »Krahl war anders« – ist das häufigste Zitat. »Wenn die anderen Machos der Körper waren, war er ein Macho des Kopfes.« Und es werden Anekdoten erzählt, dass Krahl, wenn es mal rauer auf den Straßen zuging, meist der Erste war, der sich zurückzog. »Erst lief der Krahl weg , dann die Frauen, dann die anderen vom RK, am Schluss Johnny, und so zerbeult sah der dann auch meistens aus …«

Krahl, der Nonkonformist, der Bier und Doppelkorn soff und Joints mied, der im schwarzen Rollkragenpullover laut Heintje-Lieder sang und die Niedersachsenhymne, als die anderen im Kolb-Keller die Doors auf den Plattenspieler legten, im zeitgeistwidrigen Kurzhaarschnitt, und mit seinem Glasauge in der Hand spielte – Relikt aus den Bombenangriffen der letzten Kriegs- und Kindstage. Claus Möbius – heute Grüner Stadtrat im Römer, einst der Einzige, der auch mal betriebswirtschaftliches Denken in die alternativen Projekte der Nach-68er-Zeit einbrachte – erinnert sich an die Faszination, die Krahl als Rhetoriker ausübte. »Wenn er in Form war, hing man gebannt an den Sätzen, die er analytisch messerscharf und in einer unglaublichen Komplexität über Minuten, manchmal gar Stunden frei entwickelte. Und wenige Zeit später erlebte man ihn kaum ansprechbar, vollkommen ich-bezogen nur auf sich selbst konzentriert, wie in einer anderen Welt – nicht gesellschaftsfähig.«

Krahl, ein Zwiespalt. Auf allen Ebenen. Auch im Blick auf das, was 68 die Gewaltfrage hieß und später das Verhältnis zum bewaffneten Kampf. Gerd Koenen – einst als Maoist selbst Grenzgänger der Gewalt (»die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen«), analysiert dies Jahrzehnte und einige Erfahrungen später:

»Und während draußen in Bolivien Che Guevara noch dabei war … ein zweites oder drittes Vietnam zu entzünden, schwangen Krahl und Dutschke sich zu der irritierend zweideutigen Parole auf: Die ›Propaganda der Schüsse (Che)‹ müsse ergänzt werden durch die ›Propaganda der Tat‹ in den Metropolen, in denen eine ›Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit‹ geschichtlich möglich sei … Die Mehrdeutigkeit dieser Sätze entsprach der psychischen Ambivalenz ihrer Autoren, die letzten Endes nicht in der Lage waren, Schritte in jene Richtung zu tun, die nur zwei oder drei Jahre später zur Bildung bewaffneter Gruppen von Stadtguerilleros auch in der Bundesrepublik führen würden. Aber beide gingen sie, so viel war klar, bereits auf einem sehr schmalen Grat, oder schon auf Messers Schneide.«

Ob Krahl tatsächlich in Gefahr gelaufen wäre, von diesem schmalen Grat zu fallen und den Weg als politischer Desperado zu gehen, bleibt offen. Sein Unfalltod mit 27 Jahren im Februar 1970 – ein halbes Jahr nach dem seines Ziehgegners Adorno – lässt Raum für alles.

»Er ist unersetzlich und meiner Überzeugung nach wäre er ein höchst bedeutender Mensch geworden. Mag Ihnen das Bewusstsein, dass er ein unendlich intelligentes Wesen war, neben dem Schmerz auch eine gewisse Befriedigung gewähren«, so im Namen der Frankfurter Schule die Versöhnungsworte Max Horkheimers in einem Telegramm an Krahls Mutter.

Versöhnung andersrum fand auch kurz vorher statt. Schon in einem Nachruf auf Adorno hatte Krahl sich bewundernd über die analytische Schärfe Adornos geäußert – gleichzeitig aber noch ebenso dezidiert war seine Kritik an dessen fehlendem Schritt zur politischen Tat, zur »vorrevolutionären Praxis«:

»Doch dasselbe theoretische Instrumentarium, vermittels dessen Adorno diese gesamtgesellschaftliche Erkenntnis zu realisieren vermochte, verstellte ihm auch den Blick auf die historischen Möglichkeiten einer befreienden Praxis. In seiner Ideologiekritik am Tod des bürgerlichen...

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