2. Formaler Aufbau eines Gutachtens
Ein einheitlicher formaler Aufbau des psychologisch-diagnostischen Gutachtens erfüllt verschiedene Funktionen: Er gewährleistet 1), dass nichts Relevantes vergessen wird; 2) erleichtert ein logischer Aufbau die Nachvollziehbarkeit des Gutachtens; und 3) ermöglicht er Leserinnen und Lesern, die sich an einem Standardaufbau orientieren, Informationen rasch und gezielt zu finden. Ein standardisierter Aufbau hilft auch bei der Ergebnisrückmeldung, da diese dann ebenfalls entsprechend strukturiert werden kann. Die Empfehlungen (Entscheidungen, Interventionen, Maßnahmenvorschläge) ergeben sich für die ratsuchende Person dann aus den zuvor berichteten Teilen des psychologisch-diagnostischen Prozesses.
Grundsätzlich ergibt sich der Aufbau logisch aus der hypothesengeleiteten Fallbearbeitung. Als Faustregel gilt, dass die Reihenfolge der Elemente im Gutachten von der Nachvollziehbarkeit bestimmt wird: Aus der Tatsache, dass etwa aus dem Anforderungsprofil Fragen in der Anamnese und in der Exploration resultieren, kann argumentiert werden, dass es bereits vor der Anamnese formuliert werden soll. Die Darstellung der Informationen aus der Anamnese sollte im Gutachten daher auch erst nach der Beschreibung des Anforderungsprofils erfolgen. Es empfiehlt sich in der Regel folgender Aufbau als Gerüst für die Erstellung psychologischer Gutachten (dieser kann aus inhaltlichen Gründen modifiziert werden):
- Deckblatt (auch: Titelseite)
- (Bisheriger) Sachverhalt (auch: Vorgeschichte, Anlass)
- Anforderungsprofil bzw. psychologische Hypothesen
- Eingesetzte Verfahren bzw. Informationsquellen
- Anamnese, Exploration, Interview
- Ergebnisdarstellung (auch: Untersuchungsbericht, Befunde)
- Gelegenheitsbeobachtung
- Zusammenfassung der Ergebnisse
- Stellungnahme („Interpretation“) und Entscheidung
- Empfehlung
- Unterschrift des Gutachters/der Gutachterin
- Zusatz und Anhang
Ob dieser Aufbau durch Unterkapitel oder ggf. durch zusätzliche Kapitel ergänzt wird, ist von Fall zu Fall zu entscheiden und hängt sowohl von sachlich-inhaltlichen Merkmalen des behandelten Falls, als auch vom persönlichen Stil ab. Dennoch gilt, dass die genannten Punkte in jedem Fall abgedeckt sein müssen. Hinweise zum Aufbau von Gutachten finden sich (mit Schwerpunkt auf Sachverständigengutachten) bei Zuschlag (2002), außerdem bei Amelang und Schmidt-Atzert (2006), Fisseni (2004), und Boerner (2010).
Neben dem Einhalten formaler Standards hat der Aufbau auch eine inhaltliche Bedeutung, die sich am Schema des psychologisch-diagnostischen Prozesses nach Jäger (2003b; s.a. Jäger, 1978) orientiert. Vereinfacht formuliert geht es darum, nach der Auswahl einer geeigneten (das ist eine psychologische!) Fragestellung, wissenschaftlich fundierte Hypothesen abzuleiten, die einen Beitrag zur Klärung der Fragestellung leisten können. Am Ende des Prozesses steht dann die Rückmeldung von Interventions- und Maßnahmenvorschlägen an die Person, die den Auftrag zur Begutachtung vergeben hatte (vgl. dazu auch ausführlicher Kaminski, 1970).
Schon zu Beginn des psychologisch-diagnostischen Prozesses zeigt sich also die zentrale Bedeutung psychologischen Grundlagenwissens. Als Faustregel gilt: Je mehr Fachwissen Gutachter hinsichtlich eines Fachgebietes besitzen, desto mehr Arbeitshypothesen können sie formulieren und systematisch prüfen. Betrachten wir das anhand eines Beispiels: Ein Vater stellt seinen neunjährigen Sohn bei einer Erziehungsberatungsstelle wegen einer Konzentrationsstörung vor: Nur wenn alle möglichen psychologischen und medizinisch-körperlichen Bedingungsfaktoren für das Auftreten von Konzentrationsstörungen (bei einem neunjährigen Jungen) bekannt sind, können diese als Hypothesen formuliert und bei der Begutachtung gezielt unter Einsatz geeigneter Methoden untersucht werden. Grundsätzlich ist es zunächst möglich, dass die Eltern etwas anderes meinen, wenn sie von Konzentration sprechen, als das, was üblicherweise in der Psychologie unter dem Begriff „Konzentration“ verstanden wird. Als Konzentration wird aus psychologischer Sicht die Fähigkeit beschrieben, unter Bedingungen schnell und genau zu arbeiten, die das Erbringen einer kognitiven Leistung normalerweise erschweren (Schmidt-Atzert, Büttner, & Bühner, 2004) oder auch, „[…] die absichtvolle nicht automatisierte Koordination von Handlungsteilen und deren kontrollierter Ausführung“ (Hagemeister & Westhoff, 2011, S. 54).
Folgende Bedingungen könnten beispielhaft für die oben beschriebene Fragestellung als Hypothesen in Betracht gezogen werden: Körperliche Bedingungen, wie eine zentralnervöse Erkrankung (z.B. als Folge bakterieller Komplikationen), Hirnfunktionsstörung (z.B. durch einen Gehirntumor), zerebrale Schädigung als Folge eines Unfalls, Schlafmangel (auch durch situative Bedingungen z.B. verkehrsbezogene Lage des Schlafzimmers; durch physische Erkrankung, z.B. der Schilddrüse), Bewegungsmangel, Ungleichgewichte im Hormon- oder Mineralstoffhaushalt, Unverträglichkeiten, oder aber auch Einschränkungen der Sehkraft können fehlgedeutet werden.
Situative Bedingungen, wie zeitlich-situative Bedingungsfaktoren mit Einfluss auf die Arbeitsleistung (z.B. Bearbeitung von Hausaufgaben am späten Abend), räumlich-situative Bedingungsfaktoren (schlechte Lichtverhältnisse, Arbeiten bei laufendem Radio bzw. eingeschaltetem Fernseher) oder Behinderung konzentrierten Arbeitens durch Geschwister bzw. andere Kinder (kein eigener Arbeitsplatz zu Hause, Ablenkung und Störung in der Schule).
Psychische Bedingungen im engeren Sinne, die zu einer Einschränkung des Konzentrationsvermögens führen, können sich ergeben durch familiäre Belastungssituationen oder ein psychisches Trauma (z.B. psychische Erkrankung eines Elternteils oder schwierige Scheidung der Eltern), schulische Belastungssituation durch Peers oder Lehrende (z.B. Mobbing), schulische Belastungssituation durch Leistungsanforderungen (z.B. Über- oder Unterforderung, Teilleistungsstörung), sekundärer Krankheitsgewinn (z.B. Bestrafung der Eltern durch schlechte Noten), Persönlichkeit (z.B. Ängstlichkeit) bzw. Stabilisierung des Verhaltens durch Verstärkung (z.B. verstärkte Zuwendung durch Lehrpersonal und Eltern bei Schwierigkeiten). Letztlich müsste auch in Betracht gezogen und ausgeschlossen werden, dass eine unterdurchschnittliche Konzentrationsleistung simuliert oder aggraviert (d.h. verstärkt zur Schau gestellt) wird (z.B. um mehr Zuwendung von den Eltern zu erhalten oder um ansteigende schulische Leistungen zu vermeiden).
Es ist also relevant zu wissen, seit wann und bei welcher Gelegenheit (beim Hausaufgabenmachen? Bei Prüfungen? Im Unterricht?) sich wie und unter welchen Bedingungen das vom Vater als „Konzentrationsstörung“ beschriebene Verhalten zeigt. Wichtig für die Abklärung eines möglichen „Konzentrationsproblems“ ist es überdies herauszufinden, um welche Form von Aufmerksamkeit bzw. Konzentration es sich handelt: Ob es um Informationsaufnahme oder Aufrechterhalten des Aktivierungsniveaus geht, um selektive oder geteilte Aufmerksamkeit, Ausblenden oder Aufnahme von Reizen. Ob eine Aufgabe häufiges Reagieren erfordert, die Aufgabe monoton ist und wie lange eine Aufgabe dauert, bei der es Schwierigkeiten gibt. Überdies kann es relevant sein, zu wissen ob es sich um Probleme handelt, die sich im Arbeitstempo niederschlagen, in der Reaktionszeit oder in der Anzahl der Fehler. Alle diese Fragen grenzen die Fragestellung aus psychologischer Sicht weiter ein, geben Auskunft, um welche Art der Aufmerksamkeits- bzw. Konzentrationsstörung es sich handelt, und lassen Hinweise darauf zu, welche Hypothesen als Ursache in Betracht gezogen werden müssen.
Jene Hypothesen, die sich auf körperliche Ursachen beziehen, werden nicht im Rahmen einer psychologischen Begutachtung untersucht. Eine medizinische Abklärung erfolgt in diesem Fall in der Regel vor der psychologischen Begutachtung (s. Abschnitt „Bisheriger Sachverhalt“, Kap. 4).
Zur Beantwortung der Fragestellung kann jede der beschriebenen Bedingungen möglicherweise einen relevanten Beitrag zur Abklärung leisten. Natürlich treffen nicht in allen Fällen alle Aspekte zu, dennoch ist es unbedingt notwendig, in jede Richtung Hypothesen aufzustellen und diese systematisch zu prüfen. Die skizzierten Hypothesen verdeutlichen: Je weniger Informationen vorab vorliegen, desto mehr Hypothesen müssen geprüft werden. Aufgabe ist es, das Problem möglichst genau zu definieren, um die Anzahl der Hypothesen schrittweise zu reduzieren. Je mehr Informationen vorab zur Verfügung stehen, desto deutlicher lassen sich bestimmte Hypothesen herausbilden.
Ein typischer Fehler bei der systematischen Prüfung von Hypothesen ergibt sich aus folgendem Umstand: In der Regel sind Probleme derart komplex, dass selten ein einzelner, sondern verschiedene Aspekte zugleich oder aber auch jede Bedingung für sich mit einem Problem im Zusammenhang stehen kann.
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