1 Von der Ehevielfalt zur Institutionalisierung der Ehe
„Plus ça change, plus c’est la même chose“
(Je mehr sich was ändert, desto mehr ist es dasselbe)
Ehevielfalt und Vernunftehe
Im Gegensatz zu heute, wo Ehen eine individuell gewählte und begründete Lebens- und Liebesgemeinschaft sind, waren sie während Jahrhunderten Schutz- und Ordnungsgemeinschaften, die in erster Linie eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen hatten und durch rechtliche, soziale und religiöse Normen geregelt wurden. Die Ehe sicherte das Überleben einer Familie durch Erbfolge, regelte Geburten und Kindererziehung, sie war eine Gemeinschaft, die lange vor dem Sozialstaat Ernährung und Unterstützung ebenso verbindlich machte, wie sie die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau in einer Ehe klar reglementierte und die Rollen in der Partnerschaft festschrieb (Coontz, 2005).
So war denn auch in der griechischen Antike der Zweck der Ehe von gesellschaftlichen und familialen Interessen bestimmt (Fortsetzung des Familienverbandes, Nachwuchs). Entsprechend waren Ehen arrangiert – Ehefrauen waren für die Aufzucht der Nachkommen zuständig, und für das Vergnügen der Ehemänner gab es Hetären und Konkubinen oder hübsche Knaben. Im alten Rom wiederum gab es verschiedene Arten der Ehe, welche je nach Epoche die Rechte insbesondere der Frauen regelte (der Pater familias – also der Mann oder der Vater – war jeweils die Referenzgröße). Die Ehe war ein Rechtsverhältnis und Indiz für den Konsens war ein sakraler Ritus der Eheschließung. Mit der Hochzeit wurde die Jungvermählte zur Matrone, zur ehrbaren römischen Hausfrau. Nach dem alten römischen Familienrecht hatte der Ehemann zwar die uneingeschränkte Macht über seine Frau. Die Sitten lockerten sich jedoch im Laufe der Zeit, so hatten etwa die Frauen in der Kaiserzeit eine recht eigenständige Stellung im Haushalt. Schließlich erlangten sie sogar das Verfügungsrecht über das von ihnen in die Ehe eingebrachte Vermögen. Im Gegensatz zur griechischen Welt besaß die Römerin aber schon immer eine bessere Stellung im Haushalt, da sie an den wichtigen Entscheidungen teilnahm. Bemerkenswert ist die etymologische Ableitung des Wortes „matrimonium“ (lateinisch für Ehe). Der Wortstamm desselben, „mater“ (Mutter), weist auf die zentrale Bedeutung der Frau für die Reproduktion der Familie (Frei, 1979, S. 132).
Eine fundamentale und monopolisierende Regelung erfuhren Ehe und Familie im Mittelalter durch die Kirche. Mit dem Konzil zu Trient 1563 wurde die Ehe zu einem Sakrament erklärt, und gegen Ende des Mittelalters hatte sich das kanonische Eherecht mit der Ehe als unauflösbares Sakrament und dem kirchlichen Heiratsmonopol durchgesetzt. Gleichzeitig wurde die Monogamie mit dem Segen „…bis dass der Tod Euch scheidet…“ festgelegt und der kirchlichen Gerichtsbarkeit unterstellt (Maschwitz, 2013). Von der Frau wurden Gehorsam und demütige Unterwerfung gegenüber dem Mann verlangt, die Eheleute hatten ihren Geschlechtstrieb zu kontrollieren – Sexualität war ausschließlich der Kinderzeugung vorbehalten. Aber auch die Liebe konnte durchaus ein Element der Ehe sein, wie der Mediävist Manuel Braun (2001, S. 133–158) festhält: So habe beispielsweise Papst Urban Ende des 11. Jahrhunderts in einem Brief den König von Aragon aufgefordert, davon abzusehen, seine Nichte mit einem ungeliebten Mann zu verheiraten. Denn wo der Leib (corpus) zweier Menschen eins werde, müssen auch deren Herz und Seele (animus) eins sein.
Diese Ehevorstellungen wurden allerdings kaum umgesetzt. Viele Frauen und Männer lebten auch ohne Ehe zusammen, weil sie aufgrund fehlender finanzieller Mittel oder Verweigerung der Zustimmung durch Grundherrn oder Gemeinde nicht heiraten konnten. Von dem jeweiligen Grund- oder Gutsbesitzer sowie von entsprechenden Stellen in der Stadt (Magistrat, Gilde, Zunft) wurde nur demjenigen die Ehe und Familiengründung gestattet, der auch in der Lage war, eine Familie zu unterhalten. Dadurch war mehr als die Hälfte der Bevölkerung von der Heirat ausgeschlossen (Textor, 1993). Wegen der geringen Lebenserwartung aufgrund von Krankheiten, harter körperlicher Arbeit und anderer Entbehrungen waren Ehen ohnehin zumeist von kurzer Dauer und Wiederverheiratung an der Tagesordnung.
Verschiedene neue Strömungen des 16. und 17. Jahrhundert führten zu einem neuen Verständnis der Ehe. Beeinflusst durch die Renaissance (und damit der Auseinandersetzung mit dem Gedankengut der Antike) und den Humanismus erhielt die Individualität mit einer verstärkten Betonung von Autonomie und Selbstverantwortung eine neue und zentrale Bedeutung. Aber auch die Reformation wirkte sich auf die Auffassung der Ehe aus. So kannte etwa das 1524 reformierte Eherecht im Kanton Zürich die Möglichkeit der Scheidung im Falle eines Ehebruchs oder böswilligen Verlassens, für den „unschuldigen“ Teil bestand gar die Möglichkeit einer Wiederverheiratung. Zudem konnten Männer ab 20 und Frauen ab 18 Jahren auch ohne Einwilligung der Eltern heiraten (Höpflinger, 2005). Was allerdings über die Jahrhunderte konstant blieb, ist der institutionelle Charakter der Ehe, deren Hauptzweck die Zeugung und Aufzucht der Kinder war. Unverändert blieb auch die patriarchale Stellung des Ehemanns und Hausvaters, verbunden mit der entsprechenden Rollenverteilung – der Mann als Ernährer, die Frau als Haushälterin und Mutter –, und dies für die Schweiz im Grunde bis zur Einführung des partnerschaftlichen Eherechts im Jahr 1988.
Auch wenn die Kirche im Zuge des voranschreitenden Prozesses der Säkularisierung die formalen Rechte bezüglich der Ehe weitgehend verlor, so behielt sie doch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ideell einen großen Einfluss auf das partnerschaftliche Zusammenleben. Zur Erhaltung guter ehelicher Sitten wurden in reformierten Orten gar spezielle Eherichte eingeführt, welche „Unzucht und Unverschamtheit wehren“ sollten (Hofer, 1993, S. 203–210). Bedeutsam war das Bestreben, das Sexualverhalten der Bevölkerung zu disziplinieren – etwa durch Ächtung von Ehebruch oder außerehelichen Geburten. Die christliche Ehe sollte garantieren, dass Nachkommen gezeugt und in einem geschützten Raum aufwuchsen, und wies den Eltern dabei geschlechterspezifische Aufgabenbereiche zu.
Die Ehe entwickelte sich von einem mittelalterlichen Instrument dynastischer Vernetzung vornehmlich zu einer Wirtschaftsverbindung. Je nach sozialem Status der Eheleute wurden durch sie politische und wirtschaftliche Interessen verfolgt oder sie war unerlässlich für das Überleben beider Partner. Das Spannungsfeld von individuellen Bedürfnissen, religiöser Disziplinierung und gesellschaftlicher Regulierung, in welchem sich wohl die Mehrheit der Bevölkerung etwa Ende des 18. Jahrhunderts befand, wird sehr schön in den biografischen Notizen des Ulrich Bräker – dem armen Mann aus dem Toggenburg – ersichtlich (1789; 1993):
„Mi Schatz isch kei Zucker“
Bräker beschreibt in seinem Tagebuch, wie er statt der „flatterhaften“ Anna Lüthold, in die er als 19-jähriger verliebt gewesen war, sein späteres „Hauskreuz“, Salome Ambühl, heiratete, dies nicht zuletzt, um seine „Sinnlichkeit im Zaum zu halten“.
Bräker: „An Allerseelentag (1761) wurden wir kopuliert. Herr Pfarrer Seelmatter hielt uns eine schöne Sermon und knüpfte uns zusammen. So nahm meine Freiheit ein Ende und das Zanken gleich den ersten Tag seinen Anfang – und währt noch bis auf den heutigen.“
Bräker hatte somit wenig Grund, sich glücklich zu schätzen, weder in der Ehe noch im Beruf. Das Mädchen, das er liebte, heiratete er nicht; die Frau, die er heiratete, liebte er nicht, und Salome Bräker hat ihn – seinen Aufzeichnungen zufolge – Zeit seines Lebens traktiert mit Schelten und Strenge. Bräker über seine Ehefrau: „Ich lieb Dich nicht aufs Zärtlichste – Du mich auch nicht. Ich liebe Dich als ein unentbehrliches Hauskreuz – als eine göttliche Züchtigung.“
Bräkers Lebensgeschichte endet eher traurig: im Konkurs, mit Kehlkopfkrebs und nach einigen literarischen Erfolgen im Literaturbetrieb schon wieder weitgehend vergessen. Er wurde 1798 in Wattwil begraben, seine Frau Salome überlebte ihn um 24 Jahre.
Ideal und Realität
Das Ideal, dass Zuneigung und Liebe und nicht die Pflicht Basis eines gemeinsamen Lebens bilden sollte, wurde erstmals prominent 1761 von Jean-Jacques Rousseau in seinem einflussreichen Roman „Julie oder Die neue Heloise“ eindrücklich auf den Punkt gebracht und von der beginnenden Romantik übernommen. Romane von Victor Hugo, Jane Austen, Charlotte Brontë, Alessandro Manzoni oder Friedrich Schlegel haben in der Folge das Primat der romantischen Liebe mit ihrem Unendlichkeitsanspruch beschrieben und als Sehnsuchtsziel ganzer Generationen bis heute nachhaltig beeinflusst. Es blieb jedoch wohl eher bei den Wunschvorstellungen, denn in der Realität wurden Ehen in den allermeisten Fällen weiterhin nach sachlichen Kriterien wie Vermögen, Status und Herkunft geschlossen. In der Aristokratie waren dynastische Überlegungen entscheidend – Sexualität und Liebe wurden zumeist außerhalb der Ehe gesucht und gefunden (Rogge, 2001). Für Bauern und Angehörige der unteren Schichten war die Ehe primär eine wirtschaftliche Not- und Zwangsgemeinschaft, in der die Liebe eine untergeordnete Rolle spielte. Das Ideal der Liebesehe, welche Liebe, Sexualität und gegenseitige Unterstützung zu vereinen suchte, wurde insbesondere vom aufstrebenden Bürgertum zunehmend portiert. Verbunden damit war die Betonung der...