|38|Kapitel 2
Diagnostik
Zur diagnostischen Einschätzung einer Panikstörung, Agoraphobie, spezifischen Phobie und Trennungsangst werden mit Exploration (vgl. Kapitel 2.1) und Verhaltensbeobachtung (vgl. Kapitel 2.2) zahlreiche Daten in der Probatorik erhoben. Sie ergeben eine zunächst hypothetische Diagnose und ermöglichen die Entwicklung eines plausiblen Störungsmodells (vgl. Kapitel 1.3 und Kapitel 3.4.1.2). Gleichzeitig beobachtet der Patient seine Angst und führt über mindestens zwei Wochen ein Angsttagebuch (vgl. Kapitel 2.2 und Kapitel 3.4.1.1 sowie Arbeitsblatt „P2: Tagebuch zur Selbstbeobachtung der Angst“ im Anhang und auf der CD-ROM). Bei kleineren Kindern übernehmen das die Eltern. Der durch Exploration und Angstbeobachtung erhobene Befund wird psychometrisch untermauert (vgl. Kapitel 2.3). Am Ende entscheidet sich der Therapeut für eine oder mehrere ICD-10-Diagnosen, die zur Kennzeichnung der Diagnosesicherheit jeweils mit einem G für gesichert, V für Verdacht auf oder A für Ausschluss von einer Diagnose versehen werden (z. B. ICD-10: F40.01G Agoraphobie mit Panikstörung); eine Z-Diagnose steht für symptomloser Zustand danach (DIMDI, 2016).
2.1 Leitfaden zur Exploration von panischen und agoraphobischen Ängsten
In den explorativen Gesprächen mit dem ängstlichen Kind und seinen Eltern während der Probatorik gewinnt der Therapeut einen klinischen Eindruck vom kognitiven und sprachlichen Entwicklungsstand des Angstpatienten und auch von der Eltern-Kind-Interaktion. Eine Intelligenzmessung ist bei ängstlichen Kindern und Jugendlichen in der Regel nicht erforderlich – außer sie haben Leistungs- und Versagensängste (spezifische Phobie). In solchen Fällen wird der WISC-IV (Petermann & Petermann, 2011) oder ein anderer bewährter Intelligenztest durchgeführt, um sicherzustellen, dass der Jugendliche einen für seine kognitive Entwicklung geeigneten Schultyp besucht, in dem er nicht überfordert ist.
Ängstliche Kinder und Jugendliche füllen das Arbeitsblatt „P1: Fragebogen zur Selbstbestimmung von panischer und agoraphobischer Angst“ aus (vgl. Anhang und CD-ROM). Therapeuten orientieren sich in der Exploration am Arbeitsblatt „P3: Fragen für die Exploration“ (vgl. Anhang und CD-ROM).
Merke:
Die klinische Erfahrung zeigt, dass die Mehrzahl der ängstlichen Kinder und Jugendlichen aus geordneten Familienverhältnissen kommt. Die meisten werden intensiv behütet und sind auffallend abhängig von ihren Bezugspersonen. Folglich ist das wichtigste übergreifende Therapieziel bei der Angstbehandlung mit KVT die Förderung von Autonomie (vgl. Kapitel 3.3).
2.2 Angstbeobachtung
Die Selbstbeobachtung auf der symptomatischen Ebene der Angst ist sowohl für die Diagnostik als auch für die Evaluation besonders aussagekräftig, da sie das individuelle Angsterleben des Kindes in seiner Frequenz, Intensität und Dauer erfasst. Zu diagnostischen Zwecken führt jedes Kind bzw. jeder Jugendliche ein Angsttagebuch (vgl. Arbeitsblatt „P2: Tagebuch zur Selbstbeobachtung der Angst“ im Anhang und auf der CD-ROM) über mindestens zwei Wochen, sodass sowohl Wochentage als auch Wochenendtage erfasst werden. Für jüngere Kinder übernimmt das wiederum ein Elternteil (Fremdbeobachtung). Aus der Selbstbeobachtung wird das Gros der für das SORK-Modell (vgl. Kapitel 3.4.1.2) benötigten Informationen gewonnen.
Das tabellarische Angsttagebuch kann der Therapeut am Beispiel der 12-jährigen Anne, die Angst vor Klassenarbeiten hat, dem Angstpatienten und/oder den Eltern erläutern (vgl. Arbeitsblatt „P2: Tagebuch zur Selbstbeobachtung der Angst“ im Anhang und auf der CD-ROM). Anschließend vergewissert er sich, dass die Bedeutung jeder Spalte auch verstanden wurde.
|39|Viele ängstliche Kinder und Jugendliche erklären sich dazu bereit, das Angsttagebuch über den gesamten Therapieverlauf zu führen. Manche sind jedoch nur zu Beginn dazu bereit und eventuell nochmals in der Mitte der Therapie. Das Angsttagebuch ist ein nützliches diagnostisches Instrument und zudem eine gute Evaluierungs- und Motivationshilfe, weil es einen konkreten Überblick über das momentane Ausmaß an Angst gibt und erste Erfolge der Angstbewältigung sich gut darin erkennen lassen.
Merke:
Während der Selbstbeobachtung kann es zu Wechselwirkungen zwischen Angstbeobachtung und Angsterleben kommen, weil das Kind (oder der beobachtende Elternteil) die Aufmerksamkeit auf das Angstgeschehen richtet und die Angst dadurch unbewusst beeinflusst. Der emotionale Abstand zum Angstgeschehen ist beim Beobachten etwas größer, wodurch die Angst besser kontrolliert und somit leicht abgeschwächt wird.
2.3 Diagnostische Verfahren zur Erfassung von panischer und phobischer Angst
Ängste sieht man Kindern und Jugendlichen nicht an, außer wenn sie gerade besonders stark erregt sind. Für die Diagnose einer Angststörung müssen die Ängste häufiger auftreten und deutlich ausgeprägter sein als entwicklungsbedingte „normale“ Ängste (vgl. Kapitel 1.1). Jüngere ängstliche Kinder klagen oft über körperliche Beschwerden wie Bauch- und/oder Kopfschmerzen. Weil sie ihre Angst und andere Gefühlszustände semantisch noch nicht gut ausdrücken können („Ich habe Angst!“), übersehen Eltern, Lehrer, Ärzte und Psychotherapeuten sie auch häufiger. Ältere Kinder sind infolge ihres kognitiven Entwicklungsstandes eher in der Lage, übersteigerte Angstreaktionen differenziert mitzuteilen und genauer einzuschätzen.
Die Ergebnisse der Selbsteinschätzung der Angst (vgl. Arbeitsblatt P1 im Anhang und auf der CD-ROM) und der Selbstbeobachtung des Patienten (vgl. Arbeitsblatt P2 im Anhang und auf der CD-ROM) sowie der Exploration des Therapeuten (vgl. Arbeitsblatt P3 im Anhang und auf der CD-ROM) werden durch allgemeine Screening-Verfahren für Ängste/komorbide Störungen und angstspezifische Tests abgerundet (vgl. Tabelle 2).
Für eine genauere Einschätzung der Gesamtentwicklung des ängstlichen Kindes bzw. Jugendlichen empfiehlt sich, Personen aus dem Umfeld, die das Kind jeweils aus ihrer Perspektive betrachten, zu befragen und/oder ihnen explorative Fragebögen oder psychologische Testverfahren zu geben (z. B. den Eltern und/oder Lehrern). Lehrer erkennen z. B. besser als Eltern oder Therapeuten, ob sich der Schüler besonders viel Mühe gibt bei der Mitarbeit, sich schwertut mit Kritik oder Angst davor hat, aufgerufen zu werden. Dafür stehen die in Kasten 6 angeführten Inventare zur Verfügung:
Kasten 6:Inventare zur Einschätzung der Gesamtentwicklung eines ängstlichen Kindes/Jugendlichen
Sich bei der diagnostischen Einschätzung von Angststörungen nur auf testpsychologische Befunde verlassen zu wollen, ist riskant, da es vermehrt zu falsch positiven und falsch negativen Ergebnissen kommt. Kinder und Jugendliche können sich in den Fragebögen und Interviews leicht verstellen und sozial erwünscht antworten. Jungen machen das ab der kognitiven Reife des Öfteren, weil sie – schambedingt – nicht zu erkennen geben wollen, dass sie Angst haben. Die testpsychologische Untersuchung sollte folglich eher nachrangig betrachtet werden gegenüber einer ausgiebigen Exploration (vgl. Kapitel 2.1) und der Selbst- bzw....