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Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein Band 112

VerlagHistorischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783906393650
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis57,99 EUR
Dieses Jahrbuch widmet sich Themen der Frühen Neuzeit und des Mittelalters. Es gewährt Einblicke in Verhörtagsprotokolle der Jahre von 1692 bis 1718 aus dem Liechtensteinischen Landesarchiv in Vaduz. Ebenso wird das um 1440 erstellte Eschner Jahrzeitbuch vorgestellt. Weitere Beiträge runden die inhaltliche Vielfalt dieses Buches ab.

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Leseprobe

Das Jahrzeitbuch von Eschen

Erinnerung stiften in der mittelalterlichen Dorfgemeinschaft

Jakob Kuratli Hüeblin

Der vorliegende Beitrag entstand auf der Grundlage eines Vortrags, gehalten am 10. April 2011 in den Eschner Pfrundbauten. Bereits 1955 erschien im Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (Band 55, S. 55–74) ein Aufsatz über das Jahrzeitbuch von Eschen. Der damalige Autor, Franz Perret, hatte zuvor auch die Edition des Eschner Jahrzeitbuchs für das Liechtensteinische Urkundenbuch (I. Teil, 2. Band) besorgt. Auf beide Publikationen sei hier ausdrücklich hingewiesen.

 

Inhalt

«Damit die Toten nicht durch das Vergessen aus dem Herzen getilgt werden»

Gute Werke für das Seelenheil

Fegefeuer und Totengedenken

Frühe ‹Eschner› Jahrzeitstiftungen

Garantien fürs Jenseits

Strategien der Jenseitsvorsorge

Die Erinnerung terminieren

«Vnd wenn der Pffarrer das Jarzitt nitt begieng …»

Familienstiftungen

Ewiges Andenken erheischt ewigen Zins

«Damit die Toten nicht durch das Vergessen aus dem Herzen getilgt werden»

Als der Eschner Pfarrer Kaspar Ammann um das Jahr 1440 ein neues Jahrzeitbuch für seine Kirche anlegte, geschah dies mit der Intention, die schon der Kirchenvater Augustinus (354–430) formuliert hatte: «Damit die Toten nicht durch das Vergessen aus dem Herzen getilgt werden.»1 Doch nicht nur Pfarrer Ammann, auch die Eschner Kirchgenossen kannten die Notwendigkeit des Andenkens an die Toten. Aus Bildern, Predigten und Erzählungen war ihnen nämlich bewusst, dass ihre verstorbenen Angehörigen wohl im Fegefeuer harrten und dass sie selber dereinst das gleiche Los erwartete – vorausgesetzt, sie führten auf dieser Erde «nicht gerade ein sehr schlechtes» Leben. Im Fegefeuer mussten die Seelen der Verstorbenen qualvolle Strafen erleiden, bevor sie in das Himmelreich eingehen konnten. Aus eigener Kraft – auch das wussten die Eschner – vermochten die Armen Seelen ihre Läuterung nicht zu beschleunigen. Sie waren auf die Hilfe der Lebenden angewiesen, die durch ihr Gebet und ihre Fürbitten eine Strafmilderung erwirken konnten. Schon der heilige Augustinus und nach ihm der Kirchenlehrer Gregor der Grosse (540–604) hatten nachdrücklich auf die Wirksamkeit der Fürbitten für die Toten hingewiesen. Um aber solche Fürbitten überhaupt ‹zielgerichtet› leisten zu können, mussten die Toten namentlich in Erinnerung bleiben. Schon seit dem Frühmittelalter wurden deshalb Personennamen in Memorialbücher eingetragen, um sie für das Totengedenken zu sichern. Das Jahrzeitbuch von Eschen stand in dieser jahrhundertealten christlichen Tradition, die sich im Laufe der Zeit freilich gewandelt hatte.2

Mit dem neu angelegten Jahrzeitbuch wollte Pfarrer Ammann den Eschner Gläubigen ein ‹ewiges› Andenken ermöglichen. In der damaligen Bevölkerung war dies ein grosses Bedürfnis. Da nämlich niemand genau wusste, wie lange die Läuterung im Fegefeuer dauerte, mussten auch die Fürbitten und das Gedächtnis für die Verstorbenen auf unbestimmte Zeit gehalten werden – sicherheitshalber bis zum Tag des Jüngsten Gerichts.

Individuelle Gedächtnis- und Sühneleistungen für einzelne Tote wurden grundsätzlich nicht als Aufgabe der Gemeinde, sondern als Verpflichtung der Angehörigen der Verstorbenen betrachtet. Innerhalb der Sippe war ein ‹ewiges› Gedächtnis freilich kaum aufrecht zu erhalten. Kirchliche Institutionen versprachen hier eine wesentlich grössere Kontinuität – und auch eine höhere Kompetenz. Die Kirche verlangte für individuell erbrachte Gedächtnisleistungen allerdings eine Gegenleistung. Wer sich und/oder seinen Angehörigen ein Andenken sichern wollte, hatte auch für eine entsprechende Finanzierung zu sorgen.

Mit den Personennamen hielt Pfarrer Kaspar Ammann im Eschner Jahrzeitbuch auch die individuell vereinbarten kirchlichen Gedächtnisleistungen sowie die Art und Höhe ihrer Vergütung fest. Seine Nachfolger, die das Buch während mehr als zweihundert Jahren weiterführten, taten es ihm gleich. So entstand eine grossartige Geschichtsquelle, die uns Einblicke gewährt in das Leben und Denken der Eschner Dorfbevölkerung im ausgehenden Mittelalter, in ihre Ängste, Hoffnungen und Strategien angesichts einer ungewissen Zukunft im Jenseits.

Gute Werke für das Seelenheil

Bonum factum Deum habet debitorem, so schrieb der bedeutende lateinische Kirchenschriftsteller und Jurist Tertullian zu Beginn des dritten Jahrhunderts: «Die gute Tat hat Gott zum Schuldner.»3 Dieses eingängige Zitat, das nicht nur dem römischen, sondern auch dem germanischen Rechtsdenken durchaus entsprach, ist grundlegend für das Verständnis des mittelalterlichen Schenkungs- und Stiftungsverhaltens, das sich auch im Jahrzeitbuch von Eschen widerspiegelt. «Es entsprach der naiven Frömmigkeit des mittelalterlichen Menschen, dass derjenige, der Gott etwas schenkte, von ihm eine Gegenleistung erwarten durfte.»4 Was der ‹gesunde Menschenverstand› sagte, fand sich notabene auch in der Bibel bestätigt: Date et dabitur vobis – «Gebt, dann wird auch euch gegeben werden», so heisst es im Lukasevangelium (Lk. 6,38), wobei die Parallelen zur bekannten römischen Rechtsformel do ut des nicht zu übersehen sind.

Als Graf Gerold im Jahr 786 bedeutende Besitzungen im heutigen Süddeutschland an das Kloster St. Gallen vermachte, begründete er seine Schenkung mit den folgenden Worten:5

«Im Namen Gottes. Jeder muss zu erreichen trachten, wozu die Stimme des Evangeliums mahnt, indem sie sagt: ‹Gebt und es wird euch gegeben werden.› So habe auch ich, im Namen Gottes Graf Gerold, aus Gottesfurcht, auf das Heil meiner Seele und auf ewigen Lohn bedacht, mich entschlossen, einige meiner Güter dem Kloster des heiligen Gallus des Bekenners zu übereignen.»

Von einem anderen Bibelzitat (Lk. 11,41) liess sich im Jahr 788 der Alemanne Petto leiten, als er seinen Besitz in Glattburg und Zuckenriet dem Kloster St. Gallen vermachte:6

«Im Namen Gottes. Jeder muss zu erreichen trachten, wozu die Stimme des Evangeliums mahnt, indem sie sagt: ‹Gebt Almosen, dann ist für euch alles rein.› Daher übergebe ich, Petto, eingedenk meiner unzähligen Sünden, dem Kloster des heiligen Gallus einen Teil meines Besitzes, um die Erlassung meiner Sünden vor dem Herrn zu erlangen und zu verdienen.»

Die Erwartungshaltung, dass Gott das gute Werk belohne, wird auch in vielen anderen frühmittelalterlichen Schenkungsurkunden so unumwunden ausgesprochen wie bei Gerold und Petto. Am häufigsten begegnet uns im frühmittelalterlichen Urkundenformular jedoch die Begründung, dass eine Schenkung pro remedio animae, «für das Heil der Seele» erfolgt sei. Gemeint ist damit natürlich dasselbe; fromme Schenkungen erfolgten stets im Hinblick auf den ewigen Lohn im Jenseits, den man als göttliche Gegenleistung erwarten durfte.

Schenkungen oder Vermächtnisse pro remedio animae wurden auch als «Seelgeräte» bezeichnet, was man mit «Vorrat für die Seele» übersetzen könnte.7 Die Idee des Seelgeräts war von den Kirchenvätern aus heidnischen Traditionen übernommen und ursprünglich vor allem dahingehend weiterentwickelt worden, dass wohlhabende Christen wenigstens einen Teil ihres Besitzes an Jesus Christus, das heisst an die Kirche vererben sollten, damit diese ihre vielfältigen Aufgaben erfüllen konnte.8 Die Kirche verwaltete die geschenkten Güter treuhänderisch und setzte sie beispielsweise für den Unterhalt der Priester oder die Unterstützung der Armen ein. Augustinus erklärte das «Seelgerät» am Beispiel des römischen Seedarlehens, des fenus nauticum beziehungsweise der pecunia trajecticia.9 Der Schenker beziehungsweise Erblasser vermachte der Kirche vor seiner ‹Überfahrt› ins Jenseits gewissermassen ein ‹Darlehen›, das er dort samt der im Seehandel üblichen hohen Risikoprämie zurückerhielt.

Schenkungsurkunde über Anteile der Alpe in Campo Mauri aus der Zeit von 882 bis 896.

Seinen Einsatz leistete er mit vergänglichem Vermögen und erhielt ihn in Form von unvergänglichen Werten wieder zurück.10

In einer der ältesten schriftlichen Überlieferung, die möglicherweise das Gebiet des heutigen Fürstentums Liechtenstein betrifft, übertrugen die Priester Victor, Eberulf, Florentinus, Valerius und Orsicinus sowie zahlreiche weitere (weltliche) Männer ihren gemeinsamen Besitz an der Alpe in Campo Mauri an die Kirche St. Salvator ad Roncalem.11 Franz Perret lokalisierte die Alpe in Campo Mauri auf...

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