Vorwort
Es ist schon eine ganze Weile her, seitdem das Buch „Führung gegen alle Regeln“ von Buckingham & Coffman erschienen ist, die erste deutsche Auflage datiert aus dem Jahr 2001. Und dennoch erwähne ich es an dieser Stelle, da es für mich eine persönliche Inspirationsquelle war, die mich seitdem nicht mehr losgelassen hat. Auf der Grundlage einer Unmenge von Daten (befragt wurden 80.000 Führungskräfte in 400 Firmen und 1 Million Mitarbeitende) wurden Langzeitstudien durchgeführt, um herauszufinden – und dies auch belegen zu können – was erfolgreiche Führung tatsächlich ausmacht. Dies geschah im Rahmen des Gallup-Instituts. Die empirischen Grundlagen überzeugten mich genauso wie die Ableitungen daraus. Für mich war das ein Schlüsselerlebnis, da überzeugend beschrieben wurde, wie eine Kombination aus wirtschaftlicher Prosperität einhergehen kann mit engagierten und gesunden Mitarbeitenden. „Was will man eigentlich mehr?“, fragte ich mich deshalb. Wirtschaftlicher Erfolg gepaart mit gesunden Menschen, die ihre Arbeit gerne tun.
Deshalb war fortan das Ziel: Das muss auch hier in Deutschland möglich sein. Wie wir alle wissen, kam es völlig anders: Zunächst die schwere Wirtschaftskrise in Folge des Zusammenbruchs der Dotcom-Blase zu Beginn des neuen Jahrtausends. Es folgte die Banken- und Finanzkrise, ausgelöst zunächst durch die Immobilienkrise in den USA und geschürt durch den Kollaps der Lehman Brothers, die sich in Folge zu einer echten Vertrauenskrise auswuchs und schließlich in eine gewaltige Weltwirtschaftskrise 2008 mündete. Der Schock sitzt vielen bis heute in den Gliedern und niemand weiß so recht, wie stabil das gesamte Wirtschafts-, Banken- und Finanzsystem tatsächlich ist. Gleichzeitig nahm der Druck in den Unternehmen gewaltig zu. Und mit Zunahme des Drucks stiegen auch die Belastungen bei Managern und Mitarbeitenden. In den letzten Jahren ist zumindest die wirtschaftliche Prosperität zurückgekehrt, leider immer öfter zu Lasten von Führungskräften und Mitarbeitenden. Gleichzeitig ist eine neue Generation in den Unternehmen angekommen, die Generation Y. Bei aller berechtigen Vorsicht in Bezug auf Generalisierungen, so kann man konstatieren, dass diese Generation vermehrt eine Balance zwischen Arbeit und Freizeit sucht, ihr ist es wichtiger geworden, Sinn und Spaß in der Arbeit zu finden, und nach Möglichkeit diese so flexibel gestalten zu können wie nur eben möglich. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind parallel dazu herausfordernder als je zuvor geworden: Begriffe wie Globalisierung, Digitalisierung, disruptive Technologien, Industrie 4.0, demografischer Wandel, um nur einige der Wesentlichen zu nennen, sind dafür kennzeichnend. Der Wettbewerbsdruck nimmt permanent zu – kein leichtes Unterfangen also, im Weltmarkt erfolgreich zu bestehen. Und dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass es möglich ist, eine Verbindung zu schaffen zwischen außergewöhnlicher Leistung, nachhaltigem, wirtschaftlichem Erfolg einerseits und engagierten, gesunden Mitarbeitenden andererseits, die Sinn in ihrer Arbeit erleben. Führung – als sozialer Prozess der Einflussnahme auf andere – kommt dabei ein zentraler Stellenwert zu.
Dieses Buch ist kein wissenschaftstheoretisches Werk, es fußt jedoch auf soliden, wissenschaftlichen Grundlagen und einem langjährigen Erfahrungshintergrund. Die Kombination von Theorie und Praxis ist uns wichtig, da erst durch diese eine erfolgreiche Anwendung für Entscheidungstragende in Organisationen entstehen kann. Nicht jede wissenschaftliche Grundlage und theoretische Fundierung ist in der Praxis anwendbar und sinnvoll. Und einer Praxis, die sich nur aus singulären und subjektiven Erfahrungen begründet, mangelt es am Anspruch der Allgemeingültigkeit und Passung eines konzeptionell-theoretischen Rahmens. In Anlehnung an Rolf Stiefel (2011) passt deshalb der Begriff des theoriegeleiteten, reflektierenden Praktikers. Letztlich muss es in der Praxis funktionieren und dort einen Mehrwert schaffen. Wenn ich an dieser Stelle – wie auch im gesamten Buch – von „wir“ spreche, sind damit überwiegend meine Kollegen und Kolleginnen von Reflect gemeint, einem Beratungsunternehmen, das Organisationen in Fragen der Führung, Veränderungsbegleitung und strategischen Personalentwicklung beim Aufbau Gesunder Organisationen berät.
Das vorliegende Buch stellt keinen radikal neuen Unternehmensansatz dar, es möchte nicht die Arbeitswelt noch die Welt als solche völlig verändern. Vieles läuft gut und bedarf deshalb keiner Veränderung, das muss anerkannt werden. Jedes Individuum verfügt genauso wie jede Organisation über zahlreiche Ressourcen, die teils bewusst, teils unbewusst sind. Deshalb wird mit der Gesunden Organisation ein Modell ausgefaltet, das dazu dienen soll, Bestehendes weiter zu entwickeln, besser zu machen und letztlich das in Organisationen vorhandene Potenzial zur vollen Entfaltung zu bringen. Potenzialentfaltung stellt den notwendigen Hebel dar, der auf drei Ebenen seinen Ausdruck findet: beim Individuum selbst, auf der Teamebene und in Bezug auf die gesamte Organisation hinsichtlich ihrer normativen, strategischen und operativen Ausrichtung. Der Ansatz entspricht demnach bewusst nicht einer neuen Managementmode, auf jeden Fall nicht aus einer soziologischen Perspektive (Kühl, 2015).
Das Modell der Gesunden Organisation und der damit einhergehende Führungsansatz stellen keinen sequenziellen Prozess dar, was zu einem Zeitpunkt X getan werden müsste, um zu einem Zeitpunkt Y das erwünschte Ziel zu erreichen. Vielmehr ist es flexibel und offen. Es gibt keinen idealtypischen Verlauf, den Sie gehen müssen, um zum Ziel zu gelangen. „Viele Wege führen nach Rom“ und viele auch zur Gesunden Organisation. Sie können selbst entscheiden, an welcher Stelle es aus Ihrer Sicht am meisten Sinn macht, den ersten Schritt zu tun. Dennoch ist nicht alles beliebig, nicht „anything goes“. Es gibt Grundprinzipien, die für den erfolgreichen Einsatz essenziell sind. Diese sind: Das Prinzip eines ganzheitlichen Ansatzes und systemischen Denkens, das Prinzip, medizinische und wirtschaftliche Gesundheit in Einklang zu bringen und das Prinzip der Potenzialentfaltung.
Vom idealen Zustand aus betrachtet (den es natürlich nur in der Konstruktion gibt), profitieren alle von einer Gesunden Organisation: Unternehmer, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Kapitalgebende, die Gesellschaft, Kunden sowie Partner, Lieferanten und sonstige Anspruchsgruppen. Damit ist sie in ihrem Idealzustand ein „Win-win“-Modell, da prinzipiell alle Beteiligten einen Nutzen durch eine Gesunde Organisation generieren können. Andererseits wissen wir auch, dass die Wirklichkeit meist anders aussieht und 100 Prozent Interessensausgleiche nur theoretisch möglich sind. Das hier vorgestellte Konzept der Gesunden Organisation kann Ihnen deshalb als eine Art Landkarte dienen, die in herausfordernden Zeiten sichereres Navigieren ermöglicht. Ein Steuerungsinstrument, das Ihnen hilfreich ist, den für Sie und Ihre Organisation passenden Weg leichter zu finden.
Wir sprechen von der Gesunden Organisation und nicht vom gesunden Unternehmen. Nach unserer Lesart ist jedes Unternehmen auch eine Organisation, aber nicht jede Organisation ist auch ein Unternehmen. Organisationen können politischer, religiöser, wissenschaftlicher oder eben wirtschaftlicher Natur sein. Auch wenn bestimmte Elemente sowohl bei Organisationen wie auch bei Unternehmen ähnlich vorhanden sind, wie beispielsweise Menschen, Strukturen, Prozesse etc., so gibt es natürlich generelle Unterschiede, die auch einen Unterschied machen: Der Zweck eines Unternehmens ist auf dem kleinsten Nenner vielleicht die Sicherung des Überlebens, der Zweck einer Non-Profit-Organisation eben gerade nicht der Profit, sondern die Erreichung selbst gesteckter Ziele, seien diese politischer, ökologischer oder gesellschaftlicher Natur. In unseren Überlegungen beziehen wir uns überwiegend auf Organisationen, die im Wirtschaftskontext tätig sind. Wir gehen aber davon aus, dass sich das hier vorgestellte Modell ebenso auf alle anderen Organisationsformen übertragen lässt.
Genauso wenig wie es einen sequenziellen Ablauf gibt, in welcher Form man eine Gesunde Organisation entwickeln kann, müssen Sie das Buch nicht unbedingt Kapitel für Kapitel lesen. Sie können springen und bei den Themen einsteigen, die Sie am meisten interessieren. Zu Beginn jedes Kapitels finden Sie deshalb Leitfragen, die Ihnen als Leser/Leserin erste Eindrücke geben, welche Kernaspekte im jeweiligen Kapitel behandelt werden. Am Ende finden Sie eine Zusammenfassung der wichtigsten Kernthesen. Außerdem finden Sie immer wieder Verweise auf frühere Textstellen oder Abbildungen, die Sie in die Lage versetzen, Zusammenhänge oder einzelne Aspekte zu vertiefen und nachzulesen.
Gleichwohl gibt es einen Spannungsbogen, der sich von Anfang bis Ende durchzieht.
In Kapitel 1 werden die Grundlagen beschrieben, die bei der Entwicklung einer Gesunden Organisation von Bedeutung sind: systemisches, ganzheitliches Denken und Handeln, die Verbindung von Leistung und Gesundheit sowie Potenzialentfaltung. So sehr diese drei Bereiche aus völlig unterschiedlichen Richtungen kommen, haben sie dennoch alle mit einer grundsätzlichen Haltung und einem entsprechenden Menschenbild zu tun, das hilfreich ist, wenn man eine Organisation nach diesen Maßstäben nachhaltig gesund aufbauen möchte.
In Kapitel 2 gehen wir näher darauf ein, was heute in vielen Organisationen falsch läuft. Sie alle kennen das: aufwendige, komplizierte Prozesse, wenig marktnahe und kundenzentrierte Strukturen, sodass Entscheidungen relativ weit entfernt in der Zentrale oder auf...