Kapitel 1
Pfarrerstochter privat
Artischocken einkaufen
Merkels Worte sind meist wohlbedacht, ihre Aussagen eng umzirkelt. Manchmal holt sie weit aus, um dem Fragesteller zu antworten. Dabei schweift sie nicht ab, sondern nimmt die Frage sehr genau. Ein Kollege vom Radio wollte einmal ein knackiges Statement zum Thema Nahostpolitik, die Kanzlerin hält aber ein kleines außenpolitisches Proseminar, bevor sie die eigentliche Antwort gibt. Dabei ist sie schlagfertig und nimmt die Journalisten mit einem Seitenhieb auch mal ein wenig hoch.
Ihre eigentliche Scheu, Privates preiszugeben, hat sie inzwischen verwandelt in die Gabe, kleine Anekdötchen zur Freude für die Journaille bereitzuhalten. Bisweilen vernebeln diese das Private dann mehr, als dass sie wirklich ein Geheimnis lüften.
Um Angela Merkels Privatleben in Berlin ranken sich einige – wahre oder unwahre – Geschichten. Den Einkauf, so erklärt sie beispielsweise, erledige normalerweise ihr Mann, Joachim Sauer. Doch sie schreibe die Einkaufszettel. Dass sie gern backt und kocht, ist längst bekannt. Pflaumenkuchen sei eine ihrer Spezialitäten. Schon als Ministerin im Kabinett Kohl hatte sie geklagt, zu kurz sei die Saison, um einen Backtag zwischen die politischen Termine platzieren zu können. Als sie noch nicht Kanzlerin war, habe sie auch noch zu sich nach Hause an den Kupfergraben in Berlin-Mitte gegenüber vom Pergamonmuseum eingeladen. Das sei seltener geworden.
Was sich denn geändert habe, seitdem sie Kanzlerin sei, wird sie einmal gefragt. »Einkaufen«, antwortet sie. Wenn sie in den Supermarkt gehe und sich suchend umschaue, dann dauere es nicht lange, schon stünden mehrere Mitarbeiter um sie herum. »Mich kennen alle«, sagt sie trocken, das habe sich geändert. Und wie lästig das ist, das erzählt die Geschichte. »Was suchen Sie denn?«, wird sie von den Supermarktmitarbeitern gefragt. »Artischocken im Glas«, sagt Angela Merkel. Die Supermarktmitarbeiter schauen erst sie, dann die Kollegen ungläubig an. »Artischocken im Glas?« Inzwischen hat sich der Filialleiter dazugestellt. »Artischocken im Glas? – Aber, liebe Frau Bundeskanzlerin, wir haben selbstverständlich frische Artischocken für Sie!«, sagt der Chef. »Ich will aber Artischocken im Glas«, wiederholt die Regierungschefin. Die frischen seien ihr zu mühselig. Wieder Kopfschütteln beim Personal. Schließlich bekommt sie das Gewünschte. Vor den Journalisten endet die Kanzlerin mit der Bemerkung, dies sei das Anstrengende am Kanzlerin-Sein, dass man alles begründen müsse, sogar, wenn man Artischocken im Glas kaufen wolle.
Das Leben mit der Prominenz bringt natürlich viele Alltäglichkeiten durcheinander. Am Wochenende zieht Merkel sich deswegen gerne in ihre »Datsche« in der Uckermark zurück. Ein Nachbar wird von Journalisten bedrängt, er solle doch preisgeben, was ihm auffalle, seitdem sie Regierungschefin sei. Er antwortet trocken: Sie springt nicht mehr so häufig in den See. Anders als andere lässt sie sich nicht wirklich offiziell im Urlaub in den Bergen oder auf einer italienischen Insel fotografieren. Allenfalls Paparazzi lichten sie mal heimlich dort ab. Da war Schröder anders, und auch die Urlaubsbilder von Helmut Kohl am Wolfgangsee sind ikonografisch geradezu legendär.
Besonders zeigt sich ihre Art, das Persönliche und Private vor einer gierigen Öffentlichkeit zu schützen, in Glaubensdingen. In Kirchen lässt sie sich privat nicht sehen, zumindest nicht so, dass es jemand mitbekäme. Das ist ihr zu aufgesetzt. Einmal hat sie gesagt, sie würde auf eine einsame Insel eine Bibel mitnehmen. Mit dem Buch käme bestimmt keine Langeweile auf. Ein andermal scheint ihr diese Bemerkung schon wieder zu bekennerhaft zu sein, sie relativiert das Statement. Ein Handy dürfe nicht fehlen. Und eine Kerze und ein Messer, damit komme man über die Runden.
Auf dem Kirchentag 1995 in Hamburg spricht sie noch sehr offen über ihren Glauben, damals ist sie gerade ein paar Jahre Ministerin unter Kohl und schützt sich noch nicht so sehr vor der neugierigen Öffentlichkeit, verkriecht sich noch nicht ins allzu Diplomatische. Zwei Arten von Glauben gebe es, sagt sie damals. Sie habe extreme Glaubenshaltungen erlebt, die habe sie schon als Jugendliche abstoßend gefunden. Etwa, wenn jemand einfach sage: »Daran glaube ich«. Sie sei in jungen Jahren auf der Suche gewesen, doch sie habe gewusst, so ein zementierter Glaube könne nicht der richtige sein.
»Wir haben das in der früheren DDR sehr oft in Diskussionen, beispielsweise über den Marxismus, erlebt. Da gab es viele, die ich manchmal darum beneidet habe, einfach daran glauben zu können. Nicht nachfragen, einfach behaupten, sich nicht unsicher machen lassen, nicht zweifeln«, so erzählt sie. »Dieses Handeln beinhaltet dann aber auch einen recht rücksichtslosen Umgang mit anderen, weil dann schnell der Zweck die Mittel heiligt.«
Ein anderes Bild von einem Glauben, der ihr mehr zusagt, beschreibt Merkel am Beispiel eines Erlebnisses auf ihrer ersten Israelreise als Jugendministerin im Kabinett Kohl. Damals besucht sie das Benediktinerkloster Tapka am See Genezareth. Ein Mönch beeindruckt sie besonders. Er führt sie nach draußen. »So standen wir in dieser Landschaft mit ihren Hügeln und sahen die fruchtbare Ebene, in der der See Genezareth liegt. Dieser Mönch nun sagte zu uns: ›Schauen Sie einmal, hier ist Jesus den Berg heruntergekommen, und dann war er hier am See, und wenn Sie jetzt hier in die nächste Bucht gehen, da hat er Petrus getroffen, den Fischer, und da ein Stück weiter, da war die Speisung der 5000, und dann ist er da hinübergefahren, und dort geschah das Erlebnis mit dem Sturm.‹«
Diese Worte des Mönches haben eine besondere Wirkung auf Angela Merkel: »Ich habe doch auch die Bibel gelesen, und ich wusste auch, was am See Genezareth geschehen war, aber dass da ein ganz aufgeschlossener Mensch einfach so feststellt, dass hier und da oder genau dort dieses und jenes geschehen ist, das hat mich doch überrascht. Diese Worte müssen etwas mit einem Glauben zu tun haben, der diesem Mann auch im täglichen Leben für seine Arbeit eine große Kraft verliehen hat.«
Dieses Erlebnis gibt einen guten Eindruck von ihrem persönlichen Glauben, den sie auf dem Kirchentag so beschreibt: »Dieser Mönch hatte eine Kraftquelle, die mir durch seine Worte deutlich geworden ist. Ich habe ihn ein bisschen beneidet, weil ich mir mit meinem Glauben nicht immer so klar und sicher bin und ich auch manchmal Zweifel habe.«
2005 gibt sie der TV-Zeitschrift Bildwoche ein Interview und erzählt, dass sie fast jeden Tag bete. Interessant dabei: Sie erteilt dem Beten für den Wahlerfolg eine Absage. »Um politische Ziele zu beten, finde ich unredlich«, sagt sie. In ihren Gebeten gehe es um Gesundheit und Kraft. »Den Rest muss ich schon alleine schaffen.« Einige Publizisten wollen daraus mangelndes Gottvertrauen ableiten, im Kern verdeutlicht es wieder einmal ihre Trennung von gelebtem Glauben und konkreter Politik.
Im Austausch mit dem Journalisten Hugo Müller-Vogg spricht sie über die Bedeutung des Glaubens und hebt diese über eine rein moralische oder auf sich selbst bezogene Dimension hinaus. Es geht auch ihr um Glaubensvollzug und Praxis. »Der Glaube ist für mich in jedem Fall eine Erleichterung. Dann aber gibt es noch eine ganz andere Ebene, die bei mir eine Rolle spielt: Es macht mir Spaß, in der Gemeinschaft eines Gottesdienstes mitzusingen. Das hat etwas Befreiendes.«8
Von ihrem Vater wird berichtet, er habe in der Pfarrkirche in Templin auch neue Predigtansätze ausprobiert, die aber nicht gut angenommen worden seien. Wie seine Tochter damals über die Experimentierfreude ihres Vaters gedacht hat, ist nicht bekannt. Nur dass sie zu den Kindergottesdiensten ging, ist überliefert. Auch wie ihr Gottesdienstbesuch während des Studiums in Leipzig und später in Berlin ausgesehen hat, will keiner so genau wissen. In der Gethsemane-Gemeinde, zu der sie sich zugehörig fühlte, war sie wohl eher nicht jeden Sonntag zu sehen.
Umso erstaunlicher wirken Angela Merkels Überlegungen, die sie beim Evangelischen Kirchentag 2005 in Hannover, äußert. Dort widmet sie sich einem alttestamentlichen Stück. Und es kommt zu einer denkbar starken Auseinandersetzung mit protestantischer Gegenwart. Sie analysiert den Prophetentext Maleachis und legt seine Mahnung angesichts einer gottlosen Umgebung dar. Bei aller Vorsicht überträgt sie die 2500 Jahre alte Geschichte auch auf die Jetztzeit des Glaubens und fragt nach der heutigen Präsenz Gottes.
»Leben nicht die meisten Menschen in unserem Land und in Europa längst, als wenn Gott abwesend wäre?« Der Prophet wolle an Gott erinnern, das sei heute ebenso nötig, sagt sie. »Ich frage mich vor dem Hintergrund dieser prophetischen Mahnung heute auch: Haben wir – gerade auch wir deutschen Protestanten – überhaupt noch ein rechtes Bewusstsein davon, dass ein lebendiger Glaube neben ethischer Gesinnungsforderung und gesellschaftlich-politisch geübter Verantwortung – was alles wichtig ist! – auch wesentlich etwas mit ‚Kultus‘ zu tun hat?«
Die – was Glaubensdinge angeht – oft als so zurückhaltend empfundene CDU-Vorsitzende fährt hier eine deutliche Kritik der religiösen Realität in Deutschland auf. Und obwohl gerade sie so wenig im religiösen Kultus sichtbar ist, verlangt sie nach Kultus statt nach Moral oder gesellschaftlichem Handeln. Soll hier die Religion, vielleicht sogar die Kirche, aus der Politik herausgedrängt werden? Oder ist es nicht vielmehr die Erkenntnis, dass eine Religion von der Praxis ihrer selbst –...