Einleitung
Willkommen in der softwaredefinierten Gesellschaft
Bevor wir zu unserer Exkursion in die gar nicht mehr so ferne Zukunft aufbrechen, möchte ich zunächst noch einen Blick zurück in die Vergangenheit richten. Denn dort liegt ein Stück begriffliches Terrain, das ich gern zurückgewinnen würde.
Die Redewendung „mit weniger mehr erreichen“ hat einen üblen Beigeschmack. Manager haben diesen Spruch in den vergangenen Jahrzehnten gern verwendet, wenn sie Rationalisierungen und Budgetkürzungen vornehmen wollten. „Jetzt werden wir mit weniger mehr erreichen müssen“, pflegte der Boss zum Beispiel zu sagen, nachdem er wenige Minuten zuvor die halbe Belegschaft entlassen hatte. Das ist die miserable Umsetzung einer großen Idee.
Der Mann, der diese Wendung in Umlauf gebracht hatte, war der US-amerikanische Philosoph, Architekt, Schriftsteller und Erfinder Richard Buckminster Fuller, der ein großes Talent hatte, neue Begriffe zu prägen. 1938 führte Fuller in seiner Geschichte der Technik, Nine Chains to the Moon, den etwas sperrigen Ausdruck „Ephemerisierung“ ein. Und er definierte ihn als die Fähigkeit der Menschheit, aufgrund technischer Fortschritte „immer mehr mit immer weniger“ zu erreichen, „bis wir schließlich alles mit nichts erreichen können“.
In seinem letzten Buch Critical Path illustrierte Fuller den Vorgang, wie sich mit weniger mehr erreicht lässt, durch folgendes Beispiel: „Ein Kommunikationssatellit von einer Vierteltonne Gewicht übertrifft in seiner Leistung heute die früher verwendeten 175 000 Tonnen transatlantischer Kupferkabel und hat bei dieser 700 000-fachen Gewichtsverringerung der Systemausstattung sowohl eine größere Übermittlungskapazität und -genauigkeit als auch bedeutend weniger Kilowatt-Verbrauch für seine Betriebsenergie.“ So etwas heißt wirklich mit weniger mehr erreichen!
Fuller war ein früher Befürworter von Umweltbewusstsein und Nachhaltigkeit, und die Ephemerisierung sah er dabei als einen Weg, auf dem der Lebensstandard der Menschheit stets weiter steigen könnte, ohne dass die Ressourcen des Planeten ausgebeutet würden. In Fullers Sicht gibt es für die Steigerung der Produktivität keine Grenzen. Ressourcenverschwendung, Ineffizienz und Abfall seien nur die Folgen fehlenden Wissens. Oder wie er schrieb: „Umweltverschmutzung ist nichts anderes als Ressourcen, die wir nicht genutzt haben. Wir lassen sie verpuffen, weil wir nicht wussten, welchen Wert sie haben.“
Mit den Jahren hat Fullers Konzept viele Namen erhalten: Ephemerisierung, Digitalisierung, Dematerialisierung oder Virtualisierung. Eine Reihe visionärer Autoren hat Fullers Ideen in der Folge weiterentwickelt. So spekulierte in den 1960er-Jahren der kanadische Professor und Medienphilosoph Marshall McLuhan, die Informationstechnik könnte auch die Menschen dematerialisieren. McLuhan war der Erste, der beobachtete, dass der zunehmende Einsatz elektronischer Medien mit dem Ziel, unsere physischen Sinne zu ersetzen und zu erweitern, auch uns selbst transformiert. 1971 schrieb er: „Was kaum begriffen wird, ist, dass das elektronische Zeitalter den Menschen ‚verengelt‘, entkörperlicht. Ihn in Software verwandelt.“
Der Autor und Futurist Alvin Toffler sagte 1970 in seinem Manifest Future Shock voraus, dass die Dematerialisierung von Waren und Dienstleistungen zum ökonomischen Imperativ werden würde. „Da sich das generelle Tempo der Veränderungen in der Gesellschaft beschleunigt“, schrieb er, „wird – und muss – die Wirtschaft der Permanenz durch eine Wirtschaft des Transitorischen ersetzt werden.“
1985 gründeten Nicholas Negroponte und Jerome Wiesner, beide am Massachusetts Institute of Technology (MIT), das MIT Media Lab, um interdisziplinäre Forschung in den Bereichen Medien, Wissenschaft und Technik sowie Konstruktion durchzuführen. Dort erhielt Buckminster Fullers Wortprägung ein Upgrade von „Ephemerisierung“ auf „Digitalisierung“, ein geschickter linguistischer Schachzug, mit dem das Phänomen mitten ins Reich des Computers platziert wurde. Negroponte, der Direktor des Media Lab, forderte uns auf, wir sollten „Bits bewegen, nicht Atome“, und in seinem Buch Being Digital (Total Digital) vermittelte er einem breiten Publikum die Konsequenzen einer Dematerialisierung der Gesellschaft.
Seit dem Erscheinen des Buchs 1993 sind viele von Negropontes Vorhersagen Wirklichkeit geworden: Breitband-Internet, smarte Geräte, künstliche Intelligenz oder billige Supercomputer im Taschenformat mit ganz neuartigen Schnittstellen. Für eine Generation, die mit YouTube, Smartphones, Selfies, Siri und Wikipedia aufgewachsen ist, sind all diese bahnbrechenden Entwicklungen Selbstverständlichkeiten, aber in jener noch gar nicht so weit zurückliegenden Zeit waren das noch kühne, ja geradezu verwegene Ideen.
In seinem Buch New Rules for the New Economy drückte der Autor und Technikjournalist Kevin Kelly 1998 Fullers Idee mit Formulierungen aus der Welt der digitalen Information aus: „Die drei großen Strömungen der Netz-Wirtschaft: umfassende Globalisierung, fortschreitende Dematerialisierung in Richtung Wissen sowie tief reichende, überall verfügbare Vernetzung – diese drei Wellen überfluten alle Küsten.“ Und in jüngster Zeit fand das Thema Dematerialisierung Widerhall bei vielen Kommentatoren, von Peter Diamandis, dem Gründer der Non-Profit-Organisation X Prize Foundation, bis hin zu Al Gore, dem ehemaligen Vizepräsidenten der USA.
Was sind das nun genau für Bits, mit denen die Atome ersetzt werden sollen? Software. 2011 schrieb der Venture-Capital-Investor Marc Andreessen im Wall Street Journal den viel zitierten Gastkommentar „Software frisst die Welt“ („Why Software Is Eating the World“). Das ist vielleicht eine etwas grobe Metapher, aber durchaus eine faszinierende Möglichkeit, Fullers Vorhersage in den Kontext des Internets zu übertragen. Ein Jahr später veröffentlichten Andreessens Venture-Capital-Partner eine weit verbreitete PowerPoint-Präsentation, in der sie den Gedanken weiterentwickelten zu „Mobile Technik frisst die Welt“.
Die Marketingstrategen des Silicon Valley, stets auf der Suche nach neuen Parolen, um ihre Produkte zu pushen, sprangen gleich auf den fahrenden Zug auf. So nutzen zum Beispiel VMware und andere Firmen den Ausdruck „Virtualisierung“, um zu beschreiben, wie sie physische Geräte durch leistungsstarke Software ersetzen, welche die gleichen Aufgaben erfüllt. Mit anderen Worten: wie sie mit weniger Material mehr erreichen.
In jüngster Zeit wird in der Computernetzwerkbranche gern der Ausdruck „softwaredefiniert“ verwendet, um zu bezeichnen, was uns als Nächstes bevorsteht. Der Ausdruck ist im Bereich der Informationstechnik gerade „in“: softwaredefiniertes Networking, softwaredefiniertes Speichern, softwaredefinierte Datenzentren, softwaredefinierte Clouds, softwaredefiniertes Alles-und-jedes. Es handelt sich um einen technischen Großtrend, demzufolge Systeme, die für ein spezielles Gerät entwickelt wurden und daher höchst unflexibel sind, durch hochflexible Systeme ersetzt werden, die rein aus Software bestehen. Eine softwaredefinierte Architektur ist anpassungsfähig. Das gesamte System arbeitet in Echtzeit und reagiert auf neu hereinkommende Daten, da sich Bedürfnisse ändern und Nachfrage zu- oder abnehmen kann.
Mit dem Ausdruck „softwaredefiniert“ erfassen wir auch etwas Wesentliches an der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts – nicht nur, weil ein wachsender Teil unserer Wirtschaft auf Netzen aus digitaler Information beruht, sondern auch, weil die Regeln, nach denen Software gestaltet wird, bei allem, womit sie in Berührung kommt, die Regeln auch neu zu definieren beginnen, bis hin zu und einschließlich den Regeln, nach denen die Gesellschaft funktioniert.
Die softwaredefinierte Gesellschaft
Was die hellen Köpfe im Silicon Valley heute zu begreifen beginnen, ist, dass sie fast jede Unternehmensfunktion per Software nachbilden können. Es ist schon eine ziemlich respektable Leistung, wenn man große physische Dinge wie ein Datencenter oder ein Telekommunikationsnetz durch einen Code ersetzen kann. Wenn ihnen das gelingt, dann können sie womöglich bald für alles ein Software-Modell schreiben.
Zwar muss auch diese Software natürlich noch auf Geräten laufen, aber im Endeffekt wird alles energieeffizienter, flexibler, schneller und weit billiger, weil – Sie ahnen es – wir hier mit weniger mehr erreichen.
Ein Grundprinzip der digitalen Ökonomie lautet: Werden Waren informationsintensiv, dann verlieren sie Stück für Stück den Charakter einer Ware und erhalten immer mehr die Eigenschaften einer Dienstleistung. Wird eine greifbare Sache aber durch eine Software-Nachbildung ersetzt,...