|3|1 Psychische Störungen in der Arbeitswelt
1.1 Epidemiologie psychischer Störungen in der Arbeitswelt
Psychische Störungen sind in der deutschen Allgemeinbevölkerung weit verbreitet: Laut der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS) erfüllt jede dritte Frau und jeder vierte bis fünfte Mann innerhalb eines 12-Monats-Zeitraums die Kriterien für mindestens eine psychische Störung (Mack et al., 2014). Mehr als 50 % der Betroffenen sind Arbeitnehmer.
Da Arbeitnehmer einen erheblichen Teil ihrer Lebenszeit an ihrem Arbeitsplatz verbringen, kommt auch dem Erwerbsleben eine große Bedeutung für das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit zu. Der Arbeitsplatz und die sozialen Beziehungen in der Arbeitswelt stellen einerseits wichtige Ressourcen dar: Der Arbeitsplatz sichert das Einkommen sowie den sozialen Status von Arbeitnehmern und kann als Quelle der Selbstwirksamkeit dienen. Andererseits unterliegt die Struktur des Arbeitsmarktes einem stetigen Wandel, der in den letzten Jahren zu einer Zunahme der psychischen Beanspruchung am Arbeitsplatz geführt hat.
Dieser Wandel weist unter anderem die folgenden Merkmale auf:
Seit den 1980er-Jahren ist ein Wandel der Erwerbsformen zu verzeichnen. Die Anzahl der Beschäftigten, die in einem sogenannten Normalarbeitsverhältnis angestellt sind, nahm in der Vergangenheit sukzessive ab. Gleichzeitig stieg die Anzahl von Beschäftigten in atypischen (oder auch „prekären“) Beschäftigungsverhältnissen.
Bei der Betrachtung der Wirtschaftssektoren wird der Prozess der Tertiarisierung deutlich. Dieser wird definiert als eine Reduktion von Beschäftigten im produzierenden Gewerbe bei gleichzeitiger Zunahme von Beschäftigten im Dienstleistungssektor, wobei eine Beschäftigung in letzterem mit spezifischen psychologischen Anforderungen einhergeht (z. B. einem hohen Maß an Emotionsarbeit, das physische und psychische Erschöpfung begünstigen kann).
Aufgrund der Globalisierung kommt es zu einer deutlichen Zunahme des Leistungs- und Wettbewerbsdrucks. Ein globalisierter Arbeitsmarkt führt beispielsweise zu erhöhten Mobilitätsanforderungen an die Beschäftigten. Außerdem wird die Vergütung zunehmend an die Erfüllung individueller Zielvereinbarungen geknüpft; die Bezahlung erfolgt somit verstärkt erfolgsabhängig, aber zu einem Teil außerhalb der Kontrolle des Beschäftigten.
|4|Die genannten Aspekte des Wandels der modernen Arbeitswelt wirken sich negativ auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit von Arbeitnehmern aus und stellen somit Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer Störungen dar, da sie zu mehr Stress am Arbeitsplatz führen. Mit der Veränderung der Erwerbsformen hin zu mehr atypischen Beschäftigungsverhältnissen geht beispielsweise eine vermehrte „Fragmentierung der Erwerbsbiographie“ einher (Siegrist, 2013): Durch Zeitverträge, Perioden der Arbeitsplatzunsicherheit oder Arbeitslosigkeit erhöht sich die psychische Belastung für Beschäftigte. Außerdem resultiert aus der Verschiebung des Belastungsspektrums eine Zunahme psychisch fordernder Dienstleistungen. Während im produzierenden Gewerbe Lärm, Schadstoffe oder der notwendige physische Einsatz die größten Belastungsfaktoren darstellen, zählen im Dienstleistungssektor die Flexibilisierung der Beschäftigung und die Arbeitsverdichtung zu den wichtigsten Belastungsfaktoren.
Beschäftigte im Dienstleistungssektor sind mit erhöhten Anforderungen an Mobilität und Anpassungsfähigkeit konfrontiert, was das Stresserleben der Mitarbeiter ebenso erhöht. Weitere Anforderungen für die Beschäftigten resultieren aus dem engen Kontakt zu Kunden: Dienstleistungsunternehmen fordern, dass ihre Beschäftigten „Emotionsarbeit“ leisten. Wird die Emotionsarbeit noch durch schnell wechselnde und unterschiedliche Interaktionspartner herausgefordert (z. B. Call-Center-Mitarbeiter), scheint die subjektiv erlebte Belastung zu steigen. Ausgehend von der Dienstleistungsbranche wächst zudem der Anspruch an Mitarbeiter aller Branchen, sich kundenorientiert zu verhalten (z. B. Ärzte und Lehrer).
Emotionsarbeit
Hochschild (1990) definiert Emotionsarbeit als das Management des Fühlens mit der Absicht, die Einstellungen, Gefühle oder Verhaltensweisen eines Interaktionspartners zu beeinflussen. Sie subsummiert unter diesem Begriff alle inneren und äußeren Bemühungen (Mimik, Gestik, Stimme), eigene Emotionen darzustellen sowie Emotionen anderer zu steuern bzw. zu beeinflussen. Vor allem in Dienstleistungsunternehmen finden sich implizit oder explizit formulierte Darstellungsregeln, die vorschreiben, welchen Emotionsausdruck die Mitarbeiter im Kontakt zu den Dienstleistungsnehmern zeigen sollen. Dazu kann gehören, positive Emotionen zu erzeugen (z. B. Freundlichkeit im Bereich Flugbegleitung), negative Emotionen zu unterdrücken (z. B. im Hotelgewerbe), Neutralität zu zeigen (z. B. im Rahmen von Begutachtungen) oder den Grad der emotionalen Anteilnahme zu steuern (z. B. in der Psychotherapie). Hochschild unterscheidet bei der Erzeugung des |5|gewünschten Gefühlsausdrucks zwischen Oberflächen- und Tiefenhandeln. Beim Oberflächenhandeln versuchen die Dienstleister, unabhängig von den eigenen erlebten Gefühlen ausschließlich äußerlich die im Kontakt geforderte Emotion darzustellen (z. B. aufgesetztes Lächeln). In diesem Fall wird die Emotion nicht innerlich übernommen; sie kann gekünstelt wirken. Beim Tiefenhandeln hingegen bemühen sich die Dienstleister, die im Kontakt geforderte Emotion in sich hervorzurufen und somit nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich zu fühlen. Wissenschaftliche Befunde bringen vor allem Oberflächenhandeln mit dem sogenannten „Burnout-Syndrom“ in Verbindung, da es eine emotionale Dissonanz hervorruft, während das Tiefenhandeln nicht bedeutsam mit einem Anstieg psychischer Belastung zusammen zu hängen scheint.
Verschiedene Anforderungen der heutigen Arbeitswelt werden auch von den Arbeitnehmern als subjektiv wahrgenommene Belastungen berichtet. Von den im Rahmen des Stress-Reports 2012 (Lohmann-Haislah, 2012) repräsentativ Befragten gab ein Viertel an, dass sie Pausen ausfallen lassen, wobei ein Drittel dieser Personen den Pausenausfall mit dem zu hohen Arbeitspensum begründete. Ein Fünftel der Befragten empfand sich als „mengenmäßig überfordert“ und fast die Hälfte äußerte, dass „Pausen nicht in den Arbeitsablauf passen“. Vor allem eine hohe Arbeitsintensität (besonders Termin- und Leistungsdruck), ungünstige Arbeitszeiten (z. B. lange Arbeitszeiten, Schichtarbeit, Pausenausfall), fehlender Handlungsspielraum und fehlende soziale Unterstützung von Kollegen oder Vorgesetzten wurden von Beschäftigten als belastend angegeben. Durch ein Zusammenwirken verschiedener Belastungsfaktoren können diese das Entstehen einer psychischen Störung begünstigen.
1.2 Folgen psychischer Störungen in der Arbeitswelt
1.2.1 Definition arbeitspsychologisch und sozialrechtlich relevanter Begriffe
Die Bedeutung psychischer Störungen bei Erwerbstätigen ist deutlich gestiegen. Diese Bedeutung erwächst zum einen aus dem Leiden, das mit der Störung selbst einhergeht. Zum anderen wirken sich psychische Störungen negativ auf die Leistungsfähigkeit und Fehlerquote der Betroffenen am Arbeitsplatz aus. Psychische Störungen haben direkte sozialrechtlich relevante Auswirkungen, die in Tabelle 1 definiert werden.
|6|Tabelle 1: Definition arbeitspsychologisch und sozialrechtlich relevanter Begriffe
Arbeitsunfähigkeit (AU) | Nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 Sozialgesetzbuch V (SGB V) liegt eine AU dann vor, wenn ein Arbeitnehmer aufgrund einer Krankheit seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen kann - ...
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