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Die blinden Flecken der RAF

AutorWolfgang Kraushaar
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl423 Seiten
ISBN9783608109764
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Der Deutsche Herbst im Jahre 1977 bildet die düsterste Epoche der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Wolfgang Kraushaar, der beste Kenner dieser Zeit, wirft neue Fragen auf und gibt neue Antworten. Terrorismus tritt uns heute als Phänomen der unmittelbaren Gegenwart entgegen. Doch schon einmal hat Terror die Bundesrepublik in Atem gehalten. Die Greueltaten der RAF haben im Herbst 1977 mit der Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer und der Entführung des Flugzeugs »Landshut« ihren Höhepunkt erreicht. Doch die Gewalt der RAF hat ihre Vorgeschichte in der Frühphase der scheinbar eher harmlosen 68er-Bewegung. Ihre Protagonisten, die sich als anti-bürgerliche Heroen stilisierten, sind zugleich tief verwurzelt im deutschen Nachkriegsbürgertum. Weit über die rätselhafte Todesnacht von Stammheim, in der sich das Führungstrio Baader, Ensslin und Raspe selbst tötete, agierte die RAF bis tief in die 1990er-Jahre und führt sogar bis heute ein Nachleben. Von der Vorgeschichte, den entscheidenden Ereignissen, den ideologischen Grundlagen bis zu den Folgen des Terrors der RAF. Wolfgang Kraushaar bringt neues Licht in das dunkle Gewirr aus Missverständnissen und Verklärungen und gelangt dabei zu überraschenden Erkenntnissen.

Wolfgang Kraushaar arbeitet seit 1987 als Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung. Im Zentrum seiner Forschungen stehen Protestbewegungen und der moderne Terrorismus. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen »Die Protest-Chronik 1949 - 1959«, »Frankfurter Schule und Studentenbewegung«, »Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus« sowie »Die RAF und der linke Terrorismus« sowie »Die blinden Flecken der RAF«. 

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Leseprobe

Einleitung


Wer vierzig Jahre nach dem »Deutschen Herbst« des Jahres 1977 und damit nach der Geschichte der RAF fragt, nach ihrer Herausforderung wie ihrer Bewältigung, der muss sich auch umgekehrt die Frage gefallen lassen, welche Bedeutung der damalige und 1998 nach fast dreißig Jahren beendete linke Terrorismus für die Gegenwart überhaupt noch haben soll. Worum geht es, wenn nach so langer Zeit noch einmal Verbrechen unter die Lupe genommen werden, die in manchen Fällen zwar immer noch ihrer strafrechtlichen Aufklärung harren, politisch aber längst bedeutungslos geworden sind? Oder zugespitzter gefragt: Was macht eigentlich die vom Kapitel RAF noch immer anhaltende Irritationskraft aus? Und worin sollte die Aufgabe bestehen, dieses besser als bisher zu begreifen?

Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist der Terror ja zu einer furchterregenden Konstante des politischen Lebens geworden. Was an Schreckensmeldungen früher eher punktuell auftrat, das ist seither zu einem regelrechten Kontinuum geworden. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass uns Nachrichten von angsteinflößenden Terroranschlägen erreichen. Allein in der irakischen Hauptstadt Bagdad explodieren durchschnittlich vier Bomben am Tag. Das allein ist unseren Medien inzwischen schon längst keine Zeile mehr wert. Und selbst wenn es Anschläge mit mehr als zwanzig oder dreißig Todesopfern gibt, die zudem rein zivile Ziele wie Schulen, Krankenhäuser oder etwa Hochzeitsfeiern treffen, dann fällt die Berichterstattung hierzulande sehr begrenzt aus. Die einzige Frage, die in diesem bedrohlichen Zusammenhang bleibt, lautet, wie nah das Unheil inzwischen bereits gekommen ist.

Und gerade im letzten Jahr hat sich gezeigt, dass die Anschlagspraxis von Dschihadisten auch auf Deutschland übergegriffen hat. Was sich zuerst in Bayern abgezeichnet hatte, das wurde dann auf einem Weihnachtsmarkt in Berlin schreckliche Wirklichkeit. Und was im Sommer bereits in Nizza passiert war und 86 Unschuldigen das Leben gekostet hat, dass sich ein Terrorist eines Lkws bemächtigt hatte, um wahllos möglichst viele Menschen umbringen zu können, das geschah nun auch in der deutschen Hauptstadt und hat sich inzwischen mit weiteren Stationen in London und Stockholm fortgesetzt. Spätestens seitdem weiß auch jeder Bundesbürger – oder sollte es wissen –, dass es einen überall treffen kann.1 Denn das primäre Ziel der Gewalttäter besteht ganz offenbar darin, möglichst viele Menschen, egal ob Christen oder Muslime, ob Einheimische oder Touristen, in den Tod zu reißen.

Inzwischen ist die RAF zu einer Art Referenzsystem des gegenwärtigen Terrorismus geworden. Fast immer, wenn hierzulande vom verharmlosend als »Islamismus« bezeichneten islamischen Terrorismus die Rede ist,2 wird rasch die Frage aufgeworfen, wie es denn im Vergleich dazu mit dem RAF-Terrorismus, vor allem dem seiner ersten Generation in den siebziger Jahren, ausgesehen habe. Dabei zeichnet sich seit Längerem die Tendenz ab, die Unterschiede zwischen dem damaligen und dem heutigen Terrorismus einzuebnen. Nicht wenige Kommentatoren folgen in dieser Hinsicht den Anschauungen von Terrorismusexperten wie dem französischen Politikwissenschaftler Olivier Roy,3 für den festzustehen scheint, dass Dschihadisten von heute und die Mitglieder der »Baader-Meinhof-Bande« von damals »denselben Ansatz« verfolgen.4

Doch die Differenzen zwischen dem aktuellen, religiös begründeten und dem alten, politisch gerechtfertigten Terrorismus sind gewaltig.5 Obwohl die Unterschiede eigentlich auf der Hand liegen sollten, so wird dennoch vielfach behauptet, dass es nicht nur eine Nähe zwischen beiden mörderischen Gewaltphänomenen gebe, sondern sogar eine bis hin zu einer partiellen Identität reichenden Ähnlichkeit in ihren jeweiligen Strukturelementen. Angesichts dieser, von fragwürdigen Experten vollzogenen Einebnung der Differenzen ist es von Bedeutung, diese in ihrem Stellenwert nicht nur zu benennen, sondern auch näher zu beschreiben und entsprechend hervorzuheben:

Ein geradezu gigantisch anmutender Unterschied liegt in der Anzahl der Opfer. Bei einem einzigen Anschlag im Irak, Afghanistan oder Pakistan werden häufig mehr Menschen ermordet als von der RAF in ihrer beinahe drei Jahrzehnte andauernden Existenz insgesamt. Wenn bereits die Opferzahl der Anschläge vom 11. September 2001, bei denen rund 3000 Menschen ihr Leben verloren haben, mit einem einzigen Schlag die von mehreren Jahrzehnten Terrorismus in den Schatten zu stellen vermocht hat,6 dann wird diese erschreckende quantitative Dimension noch einmal überboten von der nach dem Irakkrieg im Frühjahr 2003 ausgelösten Serie unablässig fortwährender terroristischer Anschläge und Attentate. In Syrien, im Irak oder in Afghanistan ist es längst keine Seltenheit mehr, dass an einem einzigen Tag über hundert Menschen bei Anschlägen umkommen. Während des gesamten 20. Jahrhunderts soll es dagegen lediglich vierzehn Terroranschläge gegeben haben, bei denen mehr als hundert Menschen ihr Leben verloren.7 Angesichts dieser quantitativen Dimension erscheint es durchaus gerechtfertigt zu sein, von einer massenmörderischen Dimension des islamisch geprägten Terrorismus zu sprechen. Wie selbstverständlich der Umschlag dieser tödlichen Dimension in eine neue »Qualität« mittlerweile offenbar geworden ist, lässt sich auch an einem ganz anderen Indiz ablesen. Inzwischen ist es in der Terrorismusforschung mehr oder weniger üblich geworden von einem eigenen »terrorism lethality index«, also der durchschnittlichen Anzahl von Todesopfern bei terroristischen Anschlägen, zu sprechen.8 Es kann jedenfalls kein Zweifel daran existieren, dass seit 9/11 die »Letalitätsrate« im Terrorismus außerordentlich stark angestiegen ist und zum Datenbestand moderner Gesellschaften – beinahe wie etwa die Rate von Opfern im Straßenverkehr – einfach hinzugezählt wird.

Hinzu kommt eine weitgehende Beliebigkeit der Opfer. Im Grunde genommen kann es jeden treffen – egal ob im Nahen Osten, in Asien, Afrika, Nordamerika oder Europa und zuletzt auch in Deutschland. Obwohl sich die Attacken des Islamischen Staats, Al-Qaidas oder etwa Boko Harams so sehr gegen den Westen und seine »Ungläubigen« richten, stärker noch richten sie sich gegen Muslime und damit letztlich gegen Angehörige der eigenen Religion. Sunniten bekämpfen etwa Schiiten und umgekehrt. Dabei wird zumeist keinerlei Rücksicht darauf genommen, ob man es mit Kindern, Frauen und älteren Menschen zu tun hat. Für den politischen Terrorismus ist dagegen die spezifische Auswahl derer, gegen die sich die Attacken richteten, charakteristisch gewesen. Als integraler Bestandteil seiner Rechtfertigungsformen galt, dass keine »Unschuldigen« getroffen werden durften.9 Anschlagsziele waren US-amerikanische Militärs, Angehörige von Polizei und Justiz, hochrangige Repräsentanten des als feindlich definierten Systems aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Finanzen. Die Auswahl erfolgte also entlang einer ideologisch weitgehend vordefinierten Linie. Arbeiter, Angestellte, abhängig Beschäftigte oder die Bevölkerung als solche galten regelrecht als Tabu. Schließlich handelte es sich ja bei ihnen gerade um diejenigen, die es als vermeintlich Unterdrückte und Ausgebeutete für die eigenen Revolutions- und Umsturzpläne zu gewinnen galt. Eine Verletzung dieses Grundsatzes führte deshalb auch nur zu häufig zu einer Infragestellung der ideologischen Voraussetzungen terroristischer Praxis. So löste etwa die Tatsache, dass bei dem im Mai 1972 von der RAF verübten Bombenanschlag auf das Gebäude des Axel Springer Verlags vor allem Arbeiter und Angestellte verletzt wurden, erhebliche Unruhe in der Gruppe aus. So sah sich Andreas Baader als Führungsfigur der RAF unmittelbar nach Bekanntwerden des Anschlags dazu veranlasst, dessen Urheberin, Ulrike Meinhof, zur Ordnung zu rufen. Arbeiter als Objekte eines Anschlags und damit als Opfer auszuwählen, stand in einem unmittelbaren Widerspruch zur deklarierten Absicht, den »bewaffneten Kampf« doch gerade für die Arbeiterklasse durchführen zu wollen. Man befürchtete daher, dass mit Opfern unter den »zu interessierenden Dritten« (Rolf Schroers) die Rechtfertigungslogik terroristischer Aktionen öffentlich in Zweifel gezogen werden konnte. Zu den Charakteristika des islamischen Terrorismus zählt hingegen, dass die Opferziele immer wahlloser ausgefallen sind. Inzwischen geht es um eine völlige Entgrenzung in der Wahl der Adressaten.

Ebenfalls in Betracht zu ziehen ist die weitestgehende Unkalkulierbarkeit der von ...

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