2. Hirnkrankheiten: Nur Schicksal?
Hans Rudolf Olpe
Im Folgenden möchten wir epidemiologische Studien zur Frage der Risikofaktoren der drei Krankheiten Alzheimer, Hirnschlag und Depression vorstellen und diskutieren. Da hierbei erstaunlich viele Ähnlichkeiten und Überlappungen zutage treten, werden wir im zweiten Teil dieses Kapitels drei wichtige Risikofaktoren auswählen und sie uns genauer ansehen. Würde es uns gelingen, ihr schädigendes Potenzial zu verringern, so wäre dies sehr zu begrüßen. In der Tat gibt es bei den drei Krankheiten Studien, die in diese Richtung weisen, die aber noch viel zu wenig bekannt sind.
Wir beginnen mit dem Alzheimer, weil bei dieser Krankheit die Risikofaktoren zwar recht gut erforscht, aber allgemein am wenigsten bekannt sind.
Der Alzheimer und seine Risikofaktoren
Etwa 10 Prozent aller Menschen über 65 leiden an Alzheimer. Bei den über 85-Jährigen sind es bis zu 50 Prozent. In der Schweiz leiden aktuell über 110000 Personen an dieser Krankheit und es wird prognostiziert, dass sich diese Zahl bis zur Jahrhundertmitte verdreifachen könnte. In den USA ist Alzheimer schon jetzt die teuerste Krankheit überhaupt und in England wurde 2016 berichtet, dass Alzheimer die Haupttodesursache geworden sei. Da die Gesellschaft in den westlichen Nationen altert, werden die Kosten explodieren. Im Jahre 2010 kosteten Demenzen (und davon ist Alzheimer bei Weitem die häufigste) weltweit bereits etwa 600 Milliarden US-Dollar. Vor allem die Schwellenländer werden mit einer starken Zunahme der Erkrankungen rechnen müssen. Es wäre für alle Beteiligten – Patienten, Pflegende und die Krankenkassen − ein höchst wünschenswerter Fortschritt, könnten diese neurodegenerativen Krankheiten geheilt, verhindert oder wenigstens die Dauer des Leidens verkürzt werden. Die pharmazeutische Industrie hat in den vergangenen dreißig Jahren weltweit Hunderte von Millionen Dollars in die Forschung und Entwicklung von Medikamenten gegen diese Krankheit entwickelt. Der Erfolg blieb ihr verwehrt. Über 200 Medikamente sind bereits klinisch geprüft worden. Man kommt schwerlich um den Schluss herum, dass eigentlich neue Wege beschritten werden müssten. Die zunehmend wichtige Frage lautet, ob wir der Entwicklung machtlos ausgeliefert sind, zumindest so lange, wie keine wirksamen Medikamente auf den Markt gelangen. Es gibt eine gewisse Hoffnung, dass dem nicht so ist.
In den vergangenen fünf bis zehn Jahren haben sich Indizien dafür erhärtet, dass der Alzheimer zumindest teilweise mit unserem Lebensstil zu tun hat (Imtiaz et al., 2014). Man kann von einem Paradigmenwechsel sprechen. Die Forschergemeinde ist zusehends davon überzeugt, dass der Alzheimer viel breiter betrachtet werden muss als bisher. Damit ist gemeint, dass diese Krankheit nicht erst in fortgeschrittenem Alter ihren Anfang nimmt, sondern dass der ganze Lebensverlauf Einfluss hat (ebd.). Einige wenige Prozente der familiären Alzheimer-Erkrankungen sind zwar genetisch bedingt. Daran lässt sich kaum etwas ändern – wenigstens bislang nicht. Die Schätzungen schwanken zwischen einem und 5 Prozent aller Erkrankungen. Der große Rest – man spricht von sporadischem Alzheimer − ist neben diversen genetischen Einflüssen an Risikofaktoren gebunden, die auch unserem Lebensstil geschuldet sind. Die noch zu diskutierenden genetischen Faktoren spielen bei diesen eine kleinere Rolle. Sollte sich herausstellen, dass durch eine Reduktion der Risiken die Entwicklung dieser Krankheiten verzögert oder gar verhindert werden könnte, hätte dies positive Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft – nicht zuletzt wegen der anwachsenden Pflegekosten bei dieser Krankheit.
Beim Morbus Alzheimer haben epidemiologische Studien übereinstimmend auf eine Reihe von Risikofaktoren hingewiesen. Im Folgenden besprechen wir drei wichtige Publikationen zu diesem Themenkreis und sehen uns den letzten Bericht der ADI (Alzheimer Disease International), einer Dachorganisation vieler internationaler Alzheimer-Organisationen, an. Wir beginnen mit einer Publikation der Forscherinnen Barnes und Yaffe von der Stanford University in San Francisco. Sie veröffentlichten 2011 eine Übersichtsarbeit, in der sie den Standpunkt vertraten, dass etwa 50 Prozent aller Alzheimer-Erkrankungen auf sieben Risikofaktoren zurückzuführen sind. Sie basierten ihre Studie auf einen im Jahre 2010 veröffentlichten Bericht des Nationalen Institutes für Gesundheit der USA (NIH), der seinerseits auf mehreren Meta-Analysen zu Ursachen und Risiken des Alzheimers beruhte. (Meta-Analysen sind zusammenfassende Analysen von mehreren Analysen und haben daher ein größeres Gewicht als Einzelstudien.) Die beiden Forscherinnen berücksichtigten für ihre Berechnungen folgende Faktoren: körperliche Inaktivität, Fettleibigkeit, Diabetes vom Typ II, Bluthochdruck im mittleren Alter, Rauchen, Depressionen, geistige Inaktivität oder eine niedrige Ausbildung. Diese Faktoren sind mit Ausnahme des Alters alle eng mit dem Lebensstil verbunden. Die Autorinnen gingen davon aus, dass die sieben Faktoren voneinander unabhängig sind, was aber zu bezweifeln ist. Diabetes vom Typ II und Fettleibigkeit sind auch mit genetischen Faktoren verknüpft, aber vermutlich nur zu einem kleinen Teil.
Die Studie von Barnes und Yaffe brachte Carol Brayne auf den Plan. Sie ist Direktorin des renommierten Public Health Institutes in Cambridge, England, und hat jahrzehntelang epidemiologische Studien über Demenzen in England durchgeführt. Wie sie uns in einem persönlichen Gespräch erklärte (siehe Interview am Ende von Kapitel 4), war sie mit der Einschätzung von Barnes und Yaffe nicht einverstanden. Der Prozentsatz der vermeidbaren Alzheimer-Erkrankungen sei in dieser Studie zu hoch ausgefallen. Der Grund dafür läge darin, dass mehrere der identifizierten Risikofaktoren voneinander abhängig seien. Das ist richtig, denn Fettleibigkeit, Diabetes und Bluthochdruck treten oft zusammen auf. Sie werden in einem Krankheitsbild, dem sogenannten metabolischen Syndrom klinisch zusammengefasst. (Ein Syndrom ist eine Gruppe eng zusammen auftretender Krankheiten.) Brayne veröffentlichte in der Folge zusammen mit Barnes und Yaffe eine Arbeit, in der sie gemeinsam zum Schluss kamen, dass etwa 30 Prozent der Alzheimer-Fälle auf die genannten sieben Risikofaktoren zurückzuführen seien und nicht 50 Prozent, wie ursprünglich von Barnes und Yaffe angenommen (Norton et al., 2014). Das ist zwar ein deutlich geringerer, aber immer noch ein bedeutender Anteil, wenn man sich vor Augen führt, dass dies auf die Möglichkeit hinweist, dass viele Erkrankungen hinausgezögert oder gar verhindert werden könnten. Auch diese erweiterte Studie ist nur eine Einschätzung und daher mit einiger Unsicherheit behaftet. Als dritte, vielleicht wichtigste Datenquelle schauen wir uns den detaillierten und umfangreichen Bericht der ADI (Alzheimer Disease International) an. Er wurde 2014 veröffentlicht und befasst sich eingehend mit der Frage nach den Risikofaktoren. Die Hauptverantwortlichen sind allesamt Professoren am berühmten Kings College in London. Ihr Bericht wurde im Auftrag der Global Observatory for Ageing and Dementia Care verfasst und zielt darauf ab, protektive und modifizierbare Risikofaktoren zu identifizieren, um den Alzheimer bekämpfen zu können. Die Hauptstoßrichtung besteht darin, die Hirngesundheit zu fördern. In ihrer Analyse stützen sich die Autoren auf zahlreiche Studien und Meta-Analysen. Zu einem guten Teil decken sich die aufgelisteten Risikofaktoren mit jenen von Brayne, Barnes und Yaffe. Sie unterteilen diese in verschiedene Bereiche. Bei den Faktoren, die dem Lebensstil zuzuordnen sind, führen sie Ernährung, körperliche Aktivität respektive Inaktivität, Alkohol und Tabakwaren auf. Bei den psychologischen Faktoren diskutieren sie Depressionen und Schlafstörungen, wobei sie darauf hinweisen, dass dieser Prozess in beide Richtungen gedeutet werden kann. Eine Verschlechterung der Schlafqualität könnte nämlich ein frühes Anzeichen pathologischer Hirnveränderungen sein. Oder die Schlafstörungen könnten der Entwicklung einer Alzheimer-Erkrankung Vorschub leisten, weil sie frühe Anzeichen einer sich entwickelnden Störung der Hirnphysiologie sein könnten. Das ist bis heute unklar.
Der „World Alzheimer Report“ hebt darüber hinaus die Bedeutung der Qualität der ersten Lebensjahre als mögliche Ursache für Jahrzehnte später auftretende Alzheimer-Erkrankungen hervor. Eine erfolgreiche Prävention sollte sich somit gemäß den Empfehlungen dieser Organisation über das ganze Leben erstrecken. Das ist eine sehr wichtige Schlüsselinformation, der wir uns anschließen und auf die wir im vierten Kapitel zur Prävention zurückkommen werden. Als Beispiel eines belastenden Erlebnisses in der frühen Kindheit wird der Verlust eines Elternteils aufgeführt.
Schließlich werden zu hohe Cholesterinwerte im Blut als Risikofaktor aufgeführt, welche die Blutgefäße schädigen und damit den Alzheimer und den Hirnschlag begünstigen. Damit werden wir uns noch genauer beschäftigen, denn die alte Furcht vor den Fetten, inklusive dem Cholesterin, muss kritisch hinterfragt werden. Sehr hohe Cholesterinwerte im Blut bleiben in der Tat weiterhin ein Risikofaktor. Bei niedrigen Werten wird es etwas komplexer.
Die vierte Übersichtsarbeit zur Epidemiologie und den Risikofaktoren des Alzheimers mit prominenten Autoren der Columbia University in New York kommt zu weitgehend identischen Schlussfolgerungen wie der World Alzheimer Report (Reitz und Mayeux, 2014). Die beiden Autoren schreiben, dass die ätiologischen Ursachen des Alzheimers letztlich unklar bleiben, dass sie aber mit dem Lebensstil und der Genetik verknüpft sein dürften.
Insgesamt zeichnet sich in...