2 Meine sonderbare Familie
»Wir sagen nicht Handy, wir sagen Handtelefon«
Der Tag, an dem ich geboren wurde, ein Sonntag im April 1992, beschreibt die Familie, in der ich aufgewachsen bin, ganz gut: Mein Vater fuhr meine Mutter zwar noch in die Entbindungsklinik, blieb aber nicht dort, sondern kehrte, nachdem er sie abgeliefert hatte, gleich wieder nach Hause zurück. Offenbar sah er sich dem Stress nicht gewachsen. Warum? Das weiß nur er. Wahrscheinlich fühlte er sich überfordert. Zu viel Hektik, Aufregung und Gefühle, die von ihm erwartet wurden.
Wir wohnten in einem Dorf in der Nähe von Fürstenfeldbruck bei München, 300 Einwohner, sehr ländlich, sehr bayerisch, viel Holz. Eigentlich typisch für diesen Landstrich, trotzdem sah es bei uns anders aus als in den Häusern, in denen meine Freundinnen wohnten. Bei uns hing kein hölzernes Kreuz über dem Esstisch, sondern ein Kalender der Heimattreuen Deutschen Jugend, ein Runengebäck aus Salzteig und Stickdeckchen mit völkischen Sprüchen drauf.
Wir hatten viele Bücher. Die vermeintlich harmlosen standen in einem Regal im Wohnzimmer, zum Beispiel Baska und ihre Männer, ein Buch über die legendäre Wolfshündin Baska, die von der Wehrmacht an der Ostfront eingesetzt wurde und als einziges Tier mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war, – eine Art Lassie für Nazis. Die anderen Bücher waren im Keller oder unter dem Dach im Fernsehzimmer, Bildbände über den Zweiten Weltkrieg, Biographien von NS-Größen, Holocaust-Literatur, in der mein Vater immer wieder blätterte. Auf den Frühstückstisch kam nicht wie bei den meisten in München und Umgebung die Süddeutsche oder die Abendzeitung, sondern die Preußische Allgemeine Zeitung, ein rechtskonservatives Blatt mit einer Auflage von 18 000 Stück. Meine Mutter las am liebsten Romane, wofür sie von meinem Vater permanent gehänselt wurde.
Wir hatten einen Fernseher, schauten aber wenig, eigentlich nur im Winter, weil im Frühjahr und Sommer so viele Blätter an den Bäumen hingen, dass die Satellitenschüssel nicht richtig funktionierte. Mein Vater liebte es, gemeinsam mit uns Heinz Rühmann- oder Sissi-Filme anzuschauen. Filme aus der Zeit zwischen 1930 und 1960 lösten etwas in ihm aus. Er wurde sentimental und schwelgte in alten Zeiten.
Es gab noch eine Samstagabendbeschäftigung, die ihm Spaß machte: Tischkicker. Mein Vater ist ein Mensch, der sich gern mit anderen misst, Leistung ist ihm wichtig. Und weil ich nicht untalentiert war, lobte er mich hin und wieder für einen strammen Schuss oder einen überraschenden Reflex. Abgesehen davon zeigte er mir eher selten seine Anerkennung, eigentlich nur, wenn er mich dabei beobachtete, wie ich im Keller vor seiner alten Modelleisenbahn kniete und selbstvergessen Züge in den Bahnhof einfahren ließ.
Es waren die wenigen Momente, in denen er erkennen ließ, dass er stolz auf mich war. Es muss ihn gerührt haben, mit anzusehen, wie ich 30 Jahre nach ihm vor seiner Eisenbahn hockte, wie dieses alte Spielzeug von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurde und immer noch dieselben Glücksgefühle auszulösen imstande war.
Manchmal frage ich mich, ob es ihm gutgetan hätte, wenn ich kein Mädchen, sondern ein Junge geworden wäre, wenn wenigstens eines seiner vier Kinder ein Junge gewesen wäre, aber ich glaube, einen zweiten Mann im Haus hätte er früher oder später als Konkurrenten angesehen. Uns konnte er auf Distanz halten, mal mit der Andeutung einer Zuneigung locken, dann wieder bestrafen und von sich weisen.
Wer zu uns kam, konnte nicht ahnen, was für eine Gesinnung mein Vater hatte. Im Wohnzimmer hing keine Hakenkreuzfahne; trotzdem glaube ich, dass unsere Gäste spüren konnten, dass sie es mit einer sonderbaren Familie zu tun hatten.
Mir war es unangenehm, wenn wir Besuch hatten. Nie wollte ich, dass meine Freundinnen zu mir kamen, viel lieber spielte ich bei ihnen. Trotzdem waren wir im Dorf keine Außenseiter: Mein Vater war als Betriebsinspektor ein angesehener Beamter und Mitglied im Schützenverein, kein Sonderling, im Gegenteil, ein geselliger Typ, der gern feierte. Meine Mutter war freundlich und beliebt. Sie plauderte regelmäßig mit den Nachbarn, und wenn wir in Urlaub fuhren, kam die Großmutter meiner besten Freundin vorbei und goss die Blumen.
Auch viele Freunde meiner Eltern waren auf den ersten Blick anständige und gebildete Leute, in Wahrheit waren sie stramm rechts, Akademiker, aber auch Öko-Bauern und hippieartige Weltverbesserer, die keinen Alkohol tranken, in Birkenstocksandalen rumliefen und sich in sektiererischen Verbänden engagierten.
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Mein Vater stammt aus Stuttgart, sein Vater war Schaffner bei der Deutschen Bahn gewesen, seine Mutter technische Zeichnerin. Er war ihr einziges Kind. Sein Verhältnis zu ihnen war kühl und förmlich.
Meine Großmutter hat mir oft stolz vom Bund Deutscher Mädel erzählt, bei dem sie in ihrer Jugend Mitglied gewesen war. Ich weiß noch, wie wir in den Tagen vor Weihnachten in der Stuttgarter Fußgängerzone auf eine Gruppe Kinder trafen, die »Jingle Bells« sangen, und meine Großmutter zu ihnen sagte, das sei ja alles ganz reizend, aber noch viel schöner wäre es, wenn sie ein deutsches Weihnachtslied singen könnten, zum Beispiel »O Tannenbaum« oder »Ihr Kinderlein kommet«.
Viele ihrer Sprüche wirkten bissig und gemein, ständig stieß sie einen vor den Kopf, sodass man ein Weilchen brauchte, bis man die passende Reaktion parat hatte, und dann war es meistens zu spät. Sie kommentierte es grundsätzlich, wenn ihr jemand über den Weg lief, der jüdisch aussah, oder besser gesagt: der so aussah, wie sie sich einen Juden vorstellte, mit blitzenden Augen und einer großen Nase. Was sie gar nicht ertragen konnte: wenn jemand Kaugummi kaute. »Mit Kaugummi im Mund«, sagte sie immer, »sieht man aus wie eine Kuh.« Knoblauchgeruch mochte sie auch nicht. Knoblauch war für sie ein orientalisches Gewürz und hatte in Deutschland nichts verloren.
Meine Großeltern waren keine Nazis – dafür waren sie im Dritten Reich zu jung gewesen –, aber sie sympathisierten offen mit rassistischem und völkischem Gedankengut. Vor allem meine Großmutter betonte bei jeder Gelegenheit, wie schön ihre Kindheit im Dritten Reich gewesen sei und wie dankbar sie für ihre autoritäre Erziehung sei. Von mir und meinen Schwestern erwartete sie Gehorsam, Anstand und Perfektion. Ein Anspruch, dem ich zu keinem Zeitpunkt gerecht wurde.
Mein Vater hatte ihre Ressentiments von klein auf unbewusst mitbekommen und verinnerlicht. Es muss völlig normal für ihn gewesen sein, er kannte es ja nicht anders. Wahrscheinlich hat er die Parolen erst nachgeplappert und irgendwann selbst geglaubt. Und als er auf einmal Töchter hatte, die er erziehen sollte, lag es nahe, sie mit den gleichen Sprüchen großzuziehen. Mir wurde von klein auf beigebracht, was ich ablehnen oder gutheißen musste.
Trotzdem hätte mein Vater nie gewollt, dass wir Skingirls werden, die von der Schule fliegen, auf Nazikonzerten rumhängen und sich ein Tattoo nach dem anderen stechen lassen. Ihm ging es von Anfang an darum, uns sein elitäres Verständnis deutscher Werte zu vermitteln: Disziplin, Gehorsam, Fleiß, Ehre, Heimatliebe. Wir sollten angesehene Berufe ergreifen und in gute Familien einheiraten. Und sollte dies nicht gelingen, hätte er sicher auch nichts dagegen gehabt, wenn wir genau wie er zum Zoll gegangen wären und Hundestaffeln trainiert hätten.
Von McDonalds bis Coca-Cola lehnten meine Eltern sämtliche Produkte ab, die aus Amerika kamen. Wir durften nicht »Handy« sagen, es hieß »Handtelefon«, Schlaghosen und Jeans waren verboten, ebenso T-Shirts und Pullover mit Aufdruck. Als Kind habe ich fast immer ein Dirndl oder eine geflickte Kordhose getragen, die ich von meiner älteren Schwester geerbt hatte, außerdem handgestrickte Pullover und Socken.
In der Kiste auf dem Speicher sind auch ein paar Fotos. Eines aus dem Sommer 1997 illustriert gut, wie es bei uns zu Hause zuging. Es zeigt mich und meine Schwestern bei der Brotzeit, alle im Dirndl mit geflochtenen Zöpfen, auf dem Tisch liegen Semmeln, Brezen und Gurken; neben uns zwei gesund aussehende blonde Lausbuben, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, Freunde der Familie, mit perfektem Scheitel, in weißen Hemden. Wenn man dieses Foto anschaut, kann man nicht glauben, dass es 1997 entstanden ist. Es könnte genauso gut aus den dreißiger Jahren stammen.
Neue Klamotten kauften wir so gut wie nie, und wenn doch, dann nur bei Aldi. Wir sollten auf...