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E-Book

Einsamkeit und Freiheit

Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen

AutorHelmut Schelsky
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl342 Seiten
ISBN9783688104826
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
?Die soziale Idee der Universitätsgründung Humboldts Die Situation der deutschen Universitäten am Ende des 18. Jahrhunderts / Die Neugründung einer Bildungsanstalt / Einsamkeit und Freiheit / Universität und Staat ?Gestalt und Problematik der Universität in der Gegenwart Die sozialen Wandlungen der Wissenschaft und der Universität / Die Reform der Universität / Der Weg in die Zukunft ?Daten zur Universitätsgeschichte ?Literaturhinweise ?Personen- und Sachregister Erstmals erschienen 1963.

Helmut Schelsky (1912-1984) war ein deutscher Soziologe.

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Leseprobe

Erster Teil Die soziale Idee der Universitätsgründung Humboldts


I. Die Situation der deutschen Universitäten am Ende des 18. Jahrhunderts


1. Mittelalterliche Wurzeln


Die Universität ist die soziale Institution, die in der abendländischen Geschichte das Streben nach einer geordneten Erkenntnis der Wahrheit, die Idee des gelehrten Wissens, verkörpert. Die Geschichte der Universität kann geschrieben werden als die Folge ihrer historischen Ereignisse, ihrer Gründungen und Leistungen und ihrer jeweiligen Bedeutung für Staat, Kultur und Gesellschaft; sie kann aber auch beschrieben werden als ein Ausdruck der geistigen Bewegungen, die die Geistesgeschichte unserer Tradition ausmachen. Beide Formen der Geschichtsschreibung weisen über das Leben der Universität hinaus auf umfassendere Zusammenhänge. Wir wollen hier beide Gesichtspunkte unter dem engeren und besonderen Aspekt vereinen, daß wir nach der Angemessenheit oder Unangemessenheit fragen, mit der die soziale Institution der Universität jeweils die Idee des gelehrten Wissens verkörpert und gestaltet hat. Unter diesem Gesichtspunkt stellt die Entwicklung der Universität eine Geschichte ihrer Versteinerungen und ihrer Befreiungen dar. Es gibt nicht nur eine Tradition der Lebensformen, Statuten und Personengruppen, deren Identität sich im geschichtlichen Wandel als die Gestalt der Universität aufweisen läßt, es gibt ebenso eine Tradition des Universitätsverfalls und der Universitätsreform. Die periodisch auftauchenden und zuweilen gelingenden Bestrebungen der Universitätserneuerung wenden sich zumeist gegen die institutionelle Erstarrung und die geistige Leere eben der Idee des gelehrten Wissens, die vor Generationen jeweils selbst die Universität zu einer neuen geistigen Lebendigkeit befreit hat. So ist die Universitätsreform stets eine Auseinandersetzung der Universität mit sich selbst, der ständige Versuch, eine immer ‹reinere› Idee des Wissens und der Wahrheit der eigenen, historisch verfallenden Gestalt entgegenzusetzen. Das ‹Sapere audete› (Habt den Mut zum Wissen), das MELANCHTHON seinen Kommilitonen zurief, als er seine Tätigkeit an der Universität Wittenberg als einundzwanzigjähriger Magister mit einer Rede über die Universitätsreform – ‹de corrigendis adolescentium studiis› – begann[1], ist der Grundton der Universitätsreformen, die sich als eine Befreiung des Geistes verstanden. Die Absicht, diese Tradition der Universitätsreform für die Gegenwart zu verlebendigen, ist der Leitfaden, an dem wir uns zunächst der Geschichte der deutschen Universität zuwenden. –

Die gesellschaftliche Sonderstellung der Universität

Als sich die Professoren und Studenten um 1200 in Paris und Bologna zur ‹universitas magistrorum et scolarium› oder ‹studentium› zusammenschlossen, faßten sie das schon seit der Mitte des 12. Jahrhunderts dort betriebene ‹Studium› der Wissenschaften zu einer korporativen Gesamtheit, zu einer Genossenschaft oder Gemeinschaft von Lehrern und Schülern, zusammen[1]. Sie schufen sich damit jene Form und Institution der korporativen Selbstverwaltung, die dann als ‹Universität› bis heute diese Tradition bewahrt hat. Zur Sicherung ihrer sozialen, rechtlichen und vor allem auch geistigen Selbständigkeit gegen die Übergriffe der lokalen geistlichen und städtischen Mächte suchten sie Rückhalt bei den übergeordneten politischen Kräften, bei Kaiser und Papst, die durch Privilegien oder Gründungsurkunden diese Autonomie der Universität stützten. Schon 1158 hatte Kaiser FRIEDRICH BARBAROSSA auf dem Ronkalischen Reichstag das erste kaiserliche Privileg für die Scholaren, insbesondere des geistlichen und weltlichen Rechts, erlassen. Zur Wahrung ihrer rechtlichen und geistigen ‹Freiheiten› drohten die Professoren und Studenten oft, die Stadt gemeinschaftlich zu verlassen, und machten diese Drohung zuweilen auch wahr, wovon die zahlreichen von Bologna und Paris ausgehenden neuen Universitätsgründungen in Italien und Frankreich zeugen. Sie fanden in diesem Selbstbehauptungswillen meist die Unterstützung von Papst und Kaiser; Papst HONORIUS III. selbst mahnte 1217 die Bologneser Studenten, lieber die Stadt zu verlassen, ohne ihre societas aufzulösen, als ihre libertas scholarium beeinträchtigen zu lassen. Da dieser ‹Exodus›, der Auszug von Professoren und Studenten aus der alten Universitätsstadt und die Neugründung der Universität an anderer Stelle, auch gegen die als untragbar angesehenen geistigen Bevormundungen angewandt wurde, können wir darin die Form der mittelalterlichen ‹Universitätsreform› erblicken.

Diese Autonomie der Universität wirkte jedoch nicht nur nach innen als Selbstverwaltung, in der eigenen Wahl der Rektoren und Dekane, in einer universitätseigenen Gerichtsbarkeit, im Prüfungs- und Promotionsrecht usw., sondern schuf auch eine Selbständigkeit des sozialen Standes der Professoren und Studenten in der mittelalterlichen Gesellschaft. Zunächst waren diese Universitäten international: Aus aller Herren Länder strömten Magister und Scholaren an die großen Universitäten. Auch in der sozialen Herkunft oder Stellung durchbrach die Universität die strengen ständischen Schranken der mittelalterlichen Gesellschaft: Adlige, Bürger- und Bauernsöhne, Reiche und Arme wurden unterschiedslos als Studenten oder Lehrer aufgenommen; der Hauptteil der Studierenden kam aus den Familien der Handwerker und des kleinen Gewerbes. Immer ist der Anteil von armen Studenten, die Gebührenfreiheit genossen und auf Stipendien angewiesen waren, hoch gewesen. Auch die kirchliche Ständescheidung in Kleriker, Mönche und Laien hatte für die Universität keine entscheidende Bedeutung: Zwar waren die Lebensformen weitgehend klösterlich – die Magister und Studenten lebten in ihren Bursen und Kollegien in klösterlicher Zucht zusammen –, aber Laien oder Kleriker hatten gleichermaßen Zugang zum Studium und zur Lehre. Während des Studiums, das im Mittelalter länger zu dauern pflegte als heute, gehörten also die Studenten einem anderen sozialen Stand an als vor oder nach dem Studium. Diese soziale Eigenständigkeit in einer Ständegesellschaft war von der anderen Seite gesehen eine Ausgliederung der Studenten und der ganzen Universität aus der politischen, kirchlichen und gewerblichen Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft, eine soziale Freiheit und Unabhängigkeit, die als Grundlage des gelehrten Wissens von ihren Trägern immer wieder verteidigt, von der Gesellschaft grundsätzlich anerkannt worden ist. So waren die mittelalterlichen Universitäten ‹weder kirchliche noch staatliche Anstalten im vollen Sinne des Wortes, sondern Korporationen, die in ihrer Entstehung und in ihrem Dasein durch Staat und Kirche bedingt, bei beiden Mächten Schutz und Förderung suchten, aber zugleich kraft ihrer Natur das Streben nach Unabhängigkeit in sich trugen› (BEZOLD)[2].

H. GRUNDMANN, der in seiner Abhandlung ‹Vom Ursprung der Universität im Mittelalter› (Nr. 25) diese Zusammenhänge darstellt, weist mit Recht darauf hin, daß diese eigentümliche Sonderstellung der Universität in der mittelalterlichen Gesellschaft nicht durch wirtschaftliche, politische oder soziale Interessen hinreichend begründet wird. Zwar steht das Aufblühen der mittelalterlichen Universität mit dem Aufkommen der Städte, den Anfängen des Frühkapitalismus und der Geldwirtschaft, dem wachsenden Handel und Verkehr usw. in Verbindung, aber diese Beziehungen sind für die Gestaltung der Universität nicht entscheidend gewesen. Gewiß waren die mittelalterlichen Universitäten immer auch Stätten der Berufsausbildung und boten zu allen Zeiten einzelnen ihrer Mitglieder große, sonst in der Gesellschaft kaum vorhandene Chancen des sozialen Aufstiegs – nicht ohne Grund sprach schon Papst HONORIUS III. von der Jurisprudenz und der Medizin als den scientiae lucrativae, den Wissenschaften mit goldenem Boden –, aber das Studium und der akademische Grad waren im Mittelalter nirgends Voraussetzung zur Ausübung eines Berufs, allenfalls eine Empfehlung. Dem entspricht auch, daß die meisten Studenten ohne akademische Grade oder Würden die Universität verließen; PAULSEN schätzt, daß etwa ein Viertel der Immatrikulierten das Backalaureat, und von diesem wiederum nur etwa ein Viertel die Magisterwürde erreichte (Nr. 55 I, S. 31). Dabei war der ‹baccalarius› eine niedrige akademische Würde, die den Abschluß der Studien in der ‹Artistenfakultät›, in den ‹sieben freien Künsten› – Latein, Logik, Rhetorik einschl. Briefschreibekunst, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie – dokumentierte; das Studium in dieser Artistenfakultät war die notwendige Vorstufe, die man zum Studium in den ‹höheren› Fakultäten der Theologen, Juristen und Mediziner durchlaufen mußte; daher gehörte dieser ‹niederen› Fakultät auch die überwiegende Mehrheit der Studenten an, so z.B. in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts an der Universität Köln über sieben Zehntel aller Studenten, während nur zwei Zehntel Juristen, der Rest Theologen und Mediziner waren. Die meisten Studierenden erwarben an der Universität allenfalls eine höhere Allgemeinbildung, wie sie etwa heute die Höheren Schulen vermitteln. Da man diese Allgemeinbildung aber auch an Dom- und Klosterschulen und bald auch an Stadtschulen lernen konnte, kann auch hierin nicht der entscheidende Grund für die Entstehung und...

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