1. Von Le Havre nach Paris
Jede Woche wurden im Schaufenster des Papier- und Rahmenhändlers Gravier in der Rue de Paris, der zentralen Einkaufsstraße von Le Havre, neue Karikaturen von Claude Oscar Monet ausgestellt (Abb. 1). Mit schnellem, sicherem Strich widmete sich der Teenager Mitgliedern der Stadtgesellschaft. Er zeichnete Geschäftsleute, Notare, Lehrer oder einfach skurrile Typen, von denen es in der an der Seinemündung gelegenen Hafenstadt reichlich gab. Hatte der Schüler seine Karikaturen vorher nur Freunden und Klassenkameraden gezeigt, wurden seine Zeichnungen so rasch zum Stadtgespräch: «Mit fünfzehn Jahren war ich in ganz Le Havre als Karikaturist bekannt. Mein Ruf war so verbreitet, dass man mich von allen Seiten ganz unverhohlen um karikaturistische Porträts bat», wunderte sich der Künstler noch Jahre später. Obwohl einige der Zeichnungen direkt von Zeitschriftenillustrationen inspiriert waren, fanden sie reißenden Absatz: «Je nach Aussehen der Leute verlangte ich zehn oder zwanzig Francs für die Karikatur und hatte mit diesem Vorgehen wunderbare Erfolge.» Schon hier zeigte sich neben Monets künstlerischem Talent auch sein kaufmännisches Geschick, selbst wenn er später, wie so viele Maler, regelmäßig über Geldsorgen klagte.
1 Claude Monet: Mario Uchard, 1858, The Art Institute of Chicago
Claude Monet, der von seiner Familie Oscar gerufen wurde, kam am 14. November 1840 in Paris zur Welt. Aber nicht die französische Hauptstadt wurde zu seiner Heimat, sondern Le Havre in der Normandie. Die Hafenstadt erlebte damals einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung. Da der Lebensmittelhandel von Monets Vaters in Paris wenig erfolgreich war, zog die Familie 1845 nach Le Havre, um in den florierenden Kolonialwarenhandel des Schwagers Jacques Lecadre einzusteigen. Im großen Stil belieferte die Firma im Hafen liegende Schiffe. Durch die Verwandtschaft fanden die Monets rasch Anschluss in der Stadt. Mit zehn Jahren wechselte der Pennäler von der privaten Grundschule auf das städtische Gymnasium, ohne hier jedoch einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Talent und Interesse zeigte Monet wohl nur im Zeichnen: «Ich malte Girlanden an den Rand meiner Bücher, verzierte das blaue Papier meiner Hefte mit überaus fantastischen Ornamenten und zeichnete Gesicht oder Profil meiner Lehrer auf respektloseste Weise, indem ich sie so verzerrt wir nur möglich darstellte. In diesem Spiel war ich sehr geschickt.» Als Monets Mutter 1857 starb, nahm sich die Halbschwester seines Vaters, Marie-Jeanne Lecadre – eine Amateurmalerin –, ihres Neffen an und unterstützte ihn in seinen künstlerischen Bestrebungen. Schon bald stellte sich heraus, dass der Wunsch des Vaters und Onkels, der Filius möge in das florierende Handelshaus der Familie einsteigen, wohl nicht in Erfüllung gehen würde.
Sosehr sich Monet über seinen lokalen Ruhm als Karikaturist freute, sosehr ärgerte er sich, dass Gravier neben seinen Zeichnungen auch Gemälde von Eugène Boudin ins Schaufenster stellte. Der 1824 in Honfleur geborene Maler gehörte zu den angesehensten Künstlern der Stadt; im Kunstmuseum – dem heutigen Musée d’art moderne – waren gleich mehrere seiner Werke zu sehen. Boudin, Sohn eines Seemanns, hatte zunächst als Rahmenhändler gearbeitet. Zu seinen Kunden zählten etliche Künstler, die auf dem Weg an die Atlantikküste ihre Farben und Leinwände bei ihm erwarben. Angeblich waren es Jean-François Millet, Gustave Courbet und Jean-Baptiste Isabey, die ihn davon überzeugt hatten, seinen Beruf aufzugeben und seiner Leidenschaft zu folgen und sich, obwohl Autodidakt, ebenfalls als Maler zu versuchen. Ohne Boudin je getroffen zu haben, hatte sich Monet in jugendlicher Überheblichkeit bereits ein Urteil über den Landschaftsmaler gebildet. «Was sollte ein so lächerlicher Mann mir schon beibringen?», formulierte Monet in bewusster Übertreibung Jahrzehnte später. «Es kam allerdings ein Tag, ein schicksalhafter Tag, an dem der Zufall mich gegen meinen Willen mit Boudin zusammenbrachte.» Schon bald erkannte Monet, dass er nichts zu verlieren hatte und von der Erfahrung des Älteren und dessen Einladung, gemeinsam in der Natur zu malen, nur profitieren konnte: «Ich fing damit an, meine Leinwand vollzuklecksen […] Und dann sah ich ihm beim Malen zu. Da erfasste mich eine tiefe Bewegung […] Besser, ich hatte eine Erleuchtung. Und Boudin wurde tatsächlich mein erster Lehrer. Und von diesem Moment an war mein Weg geebnet, mein Schicksal beschlossen.»
Boudins kleinformatige, atmosphärische Küstenszenen erfreuten sich nicht nur in Le Havre, sondern auch in Paris großer Beliebtheit, wobei die weiten Himmel und sein feines Gespür für die Nuancen des Lichts Bewunderung hervorriefen. Kaum ein anderer Maler verstand es, die Natur so unmittelbar und lebensnah auf die Leinwand zu bannen. Auch wenn Boudin seine Bilder im Atelier überarbeitete, haben sie die Direktheit und Offenheit von Skizzen. Zudem verweist Boudin in seinen Bildern auf die Gegenwart, was für Landschaftsdarstellungen damals höchst ungewöhnlich war. Moderne zeitgenössische Dampfschiffe oder modisch gekleidete Strandurlauber (Abb. 2) zeigten, dass es sich hier nicht um arkadische Idealdarstellungen handelte. Boudin war damit einer der ersten Künstler, die – Jahre vor den Impressionisten – das Freizeitverhalten des gehobenen Bürgertums zum Bildthema machten. Er wurde zu Monets Mentor und Freund, dem dieser viel mehr als bloß die Einführung in die technischen Voraussetzungen der Freilichtmalerei verdankte. Boudin war es, der als Erster Monets künstlerisches Talent erkannte und die entscheidenden Grundlagen für dessen Karriere legte. «Boudin machte sich mit unendlicher Güte an meine Ausbildung. Auf Dauer öffneten sich mir die Augen, und ich begann, die Natur wirklich zu begreifen; zugleich lernte ich, sie zu lieben.» Auch die Fokussierung auf ein begrenztes Motivfeld und die Betonung der Lichtstimmung sind für Boudins und Monets Kunst charakteristisch. Darüber hinaus verdankte Monet seinem Freund die entscheidende Erkenntnis, sich keinem Lehrmeister unterzuordnen, sondern sich vor allem auf das eigene Sehen zu verlassen.
2 Eugène Boudin: Der Strand, 1862, National Gallery, Washington
Eine künstlerische Karriere ohne einen längeren Aufenthalt in der Hauptstadt der Kunst, Paris, war im 19. Jahrhundert nicht vorstellbar. Im Frühsommer 1858 war es für Monet so weit. Mit der finanziellen Unterstützung seiner Familie reiste der Neunzehnjährige in die Metropole. Einer seiner ersten Wege führte ihn in die Salon-Ausstellung. Diese jährlich stattfindende Präsentation, die von einer Jury nach streng akademischen Grundsätzen zusammengestellt wurde, war das wichtigste Forum der internationalen Kunstwelt. Erfolg oder Misserfolg, Anerkennung oder Spott, hier entschied sich das weitere Schicksal eines jeden Künstlers. Tausende Maler und Bildhauer träumten vom Durchbruch, hofften auf eine Medaille, lobende Erwähnungen in der Zeitung und auf glänzende Geschäfte. Ursprünglich von Ludwig dem XIV. im 17. Jahrhundert gegründet, um den höfischen Kunstgeschmack zu propagieren, entwickelte sich die Ausstellung zur weltweit größten Leistungsschau zeitgenössischer Kunst. Das prestigeträchtige Forum bot – vor der Etablierung des privaten Galeriewesens – die einzige Möglichkeit für einen Künstler, seine Werke der Öffentlichkeit zu präsentieren. Monet war vor allem von den Landschaftsdarstellungen begeistert, bemerkte aber verwundert, dass in der Ausstellung Maler von Seestücken «überhaupt nicht vorhanden» seien, wie er Boudin berichtete: «Das ist ein Gebiet, das dir große Möglichkeiten bietet.» Diesen Mangel müsse Boudin für seine Zwecke nutzen. Schon hier, bevor Monet selbst die Bühne des Pariser Kunstlebens betrat, zeigte er ein verblüffend analytisches Gespür für die Mechanismen des Ausstellungsbetriebs.
Monet mietete sich in Montmartre ein Zimmer und machte sich, dem Wunsch seiner Familie nur widerwillig folgend, auf die Suche nach einem Lehrer. Ihrem Vorschlag, bei dem damals hoch angesehenen Maler Thomas Couture in die Lehre zu gehen, kam er allerdings nicht nach. Stattdessen entschied er sich für die weniger angesehene Académie Suisse, die das Aktstudium zwar ermöglichte, aber keinen formellen Unterricht anbot. Unterbrochen wurde Monets Ausbildung im Frühjahr 1861 von der Einberufung zum Militär. Auf seinen Wunsch hin erfolgte der Einsatz in Algerien. Dabei waren es vor allem das Licht und die Strahlkraft des blauen Himmels, die ihn faszinierten. Krankheitsbedingt – er hatte sich mit Typhus infiziert – kehrte der junge Künstler bereits im Sommer 1862 zur Genesung ...