5. Salutogenese versus Pathogenese und der Ertrag für die Seelsorge
Antonovsky hat mit der Salutogenese ein neues Paradigma in der medizinischen, neurobiologischen und psychosozialen Forschung gelegt. Diese unterschiedlichen Vorannahmen von Pathogenese und Salutogenese werden im Folgenden näher erläutert und ihr Ertrag für die Seelsorge beschrieben.
BOXENSTOPP 1: SALUTOGENESE VERSUS PATHOGENESE
Ursachen von Gesundheit/Ressourcen | Konzentration auf | Ursachen von Krankheit/Defizite |
Heterostase | Grundannahme | Homöostase |
Krankheit, ein übliches Ereignis | Verständnis von Krankheit | Krankheit, die Abweichung von der Norm |
Gesundheits-Krankheits-Kontinuum | Verständnis von Krankheit | Dichotomie: entweder gesund oder krank |
Unterscheidung zwischen Stress und Spannung | Verständnis von Stress | Keine Unterscheidung zwischen Stress und Spannung |
Stressoren neutral, gesundheits- und/oder krankheitsfördernd | Bewertung von Stress | Stressoren immer krankheitsfördernd |
holistische Betrachtung des Menschen | Diagnose | Konzentration auf Krankheitsursache |
multidisziplinäre Suche nach effektiver Adaption | Therapie | monodisziplinäre Suche nach Heilmethoden für spezifische Krankheiten |
sucht Faktoren, die prädiktiv für Gesundheit | Forschungsinhalt | sucht Faktoren, die prädiktiv für Krankheit |
negative Entropie | Schlüsselwort | immanente Entropie |
betrachtet abweichenden Fall | Forschung | sucht Bestätigung für Hypothesen |
5.1 Neue Fragestellungen in der Seelsorge
Es war die neue Art der Fragestellung, die den entscheidenden Grundstein für ein neues Paradigma in der Forschung gelegt hat. „Wie entsteht Gesundheit?“ bzw. „Welche Faktoren tragen zur Gesunderhaltung bei?“ An der Salutogenese wird deutlich, dass die Art der Fragestellung für die Denk- und Forschungsrichtung entscheidend ist.30
Folglich wäre der inhaltlichen Ausrichtung der Fragen in der Seelsorge besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Führen diese zu einer Fixierung auf die Probleme und deren Ursachen oder motivieren sie zur Suche nach Lösungen, Gesundheit und Heil? Es sind die Fragen, die es dem anderen ermöglichen, anders zu denken, anders zu entscheiden, anders zu kommunizieren und neue Möglichkeiten des Handelns zu entwickeln als bisher. Mit entsprechenden Fragen ermöglichen wir es dem anderen, sich in eine Metaposition zu begeben, von der aus er sich selbst und die Welt neu betrachten kann, um daraus neue Einsichten zu gewinnen. Radatz nennt diese Art der Fragen „Denkfragen“.31 In der Fragestellung liegt das Hauptwerkzeug der lösungsorientierten Gesprächsführung, die Menschen mithilfe ungewöhnlicher Fragen einlädt, neu über sich und die Welt zu sprechen. Dabei steht nicht das Problem, sondern die angestrebte Entwicklungsrichtung im Mittelpunkt.32 Dazu dienen insbesondere zirkuläre und reflexive Fragen. Bei zirkulären Fragen geht es um mögliche Beziehungen, Zusammenhänge, Unterschiede und Auswirkungen. Sie dienen der Klärung und Differenzierung. Reflexive Fragen motivieren zur Selbstbeobachtung und Selbstreflexion und laden zu alternativen Sichtweisen oder Hypothesenbildungen ein.“33 In den Kopiervorlagen finden sich dafür einige Beispiele aus der Praxis von Petra Holey.
Diese Art der Fragen fördert die „kreative Eigenaktivität“34 und unterstellt eigene Kompetenzen und Ressourcen.35. Der Mensch wird als lebensbegabtes Ebenbild Gottes angesprochen. Die Zielrichtung der Fragen kann ein Umdenken und damit eine positive Bewegungsrichtung fördern, im Sinne von Röm 12,2: „Lasst euch verwandeln durch Erneuerung eures Denksinns.“ Fragen, die die Aufmerksamkeit auf die Entstehung von Gesundheit lenken, bahnen im Gehirn andere Verschaltungen an als pathogene Fragen.36 Diese Erkenntnis aus der Hirnforschung lässt das Wort aus Röm 12,2 nochmals in einem anderen Licht erscheinen. Sie zielen explizit darauf ab, eine „Veränderung der Handlungen in der Zukunft zu erarbeiten.“37. Damit wird der lebensbegabte Mensch mit der Verantwortung für sein eigenes Leben und seine körperliche, seelische und geistliche Gesundheit konfrontiert. Umdenken zeigt sich dann in der neuen Handlungsweise, was die Bibel „Frucht der Umkehr“ nennt.
Es wird also nicht nur theoretisch, gedanklich geglaubt, sondern glaubensvoll gelebt. Der Beitrag von Kristin Kissmann geht den Fragen Jesu in der Bibel detailliert nach.
5.2 Betrachtung der Fragestellungen Jesu in den synoptischen Evangelien (Kristin Kissmann)
Alles begann mit der Schöpfung: Die Erschaffung des Menschen in der Urgeschichte ist der Beginn der liebenden Beziehung Gottes mit den Menschen. In der Schöpfungsgeschichte wird sichtbar, dass Gott den Menschen aus Liebe geschaffen hat: Fünf Tage bereitete er eine Erde, auf die am sechsten Tag der Mensch gesetzt wurde. Es wird berichtet, dass sich Gott am Anfang der Menschheitsgeschichte immer wieder mit dem Menschen im Garten Eden traf, um mit ihm in Beziehung zu treten. Es war offensichtlich eine innige, liebende und zugewandte Beziehung. Doch diese Beziehung wurde gestört, als der Mensch eine von den verbotenen Früchten vom Baum der Erkenntnis aß. Der Mensch versteckte sich – und Gott trat ihm mit der ersten in der Bibel erwähnten Frage entgegen: „Adam, wo bist du?“ oder auch „Mensch, wo bist du?“ Es ist eine Frage, die die Distanz des Menschen wahrt, die er vor Scham und Schuld zu Gott aufgebaut hat. Der Mensch versteckte sich, und Gott begegnete ihm mit einer Frage. Eine Frage, die der Ausdruck der liebenden Beziehung Gottes zu den Menschen ist: Er bewahrte Distanz und lockte Adam damit gleichzeitig aus der Reserve. Folgendes Gespräch entstand:
Aber Gott rief nach dem Menschen: „Wo bist du?“
Der antwortete: „Ich hörte dich kommen und bekam Angst, weil ich nackt bin. Da habe ich mich versteckt!“
„Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist?“, fragte Gott. „Hast du etwa von den verbotenen Früchten gegessen?“
Der Mensch erwiderte: „Die Frau, die du mir an die Seite gestellt hast, gab mir davon; da habe ich gegessen.“
Gott, der Herr, sagte zur Frau: „Was hast du da getan?“
Sie antwortete: „Die Schlange ist schuld, sie hat mich zum Essen verführt!“ (1 Mos 3,9–13)
Gott stellt Fragen. „Gott ist ein Wesen, das sich danach sehnt, mit seiner Schöpfung Gemeinschaft zu haben (Timm, 2015, 117)“. Immer wieder stellt Gott im Laufe der Bibel Fragen an die Menschen. Sie zeigen auf, dass er sich nach Gemeinschaft mit den Menschen sehnt und sie als verantwortlich betrachtet. Auch Jesus begegnete seinem Gegenüber immer wieder mit Fragen. Was sind das für Fragen? Was bewirken sie? Und was können wir von diesen Fragen für unsere Fragestellungen im seelsorgerlichen Gespräch lernen?
5.2.1 Einordnung und Wirkung von Fragestellungen
Die allgemeine Wirkung von Fragen ist bekannt: Sie bringen die Gedanken des Zuhörers hervor und befördern ein Gespräch. Entsprechend ist das Stellen von Fragen ein Ausdruck der Beziehung zwischen Fragenden und Antwortenden: „Die Frage ist der Auftakt zu mehr, sie ist der Beginn eines Miteinanders, das erst endet, wenn die Fragen ausgehen (Kindl-Beilfuß, 12)“. Fragen können Prozesse anstoßen, die am Ende heilsam, klärend, suchend oder wegweisend sein können. Somit sind Fragen eine Art der Interventionen (vgl. Kindl-Beilfuß, 17), denn: „Wer fragt, ist interessiert. Wer fragt, ist klug. Wer fragt, führt das Gespräch. Wer fragt, schafft Bewegung. Wer fragt, gestaltet menschliche Begegnung“ (Kindl-Beilfuß, 13).
Dabei scheint es von großer Relevanz zu sein, wie viel Spielraum dem Antwortenden bei einer möglichen Antwort eingeräumt wird. So gehört es zu den schlimmsten Fehlern in der Schlüsselkompetenz des Fragestellens, sein Gegenüber auszufragen. Wenn sich jemand ausgefragt fühlt, kann es schnell passieren, dass er sich unter Druck gesetzt oder bloßgestellt fühlt. Eher sollte ein einfühlsames Fragen angestrebt werden, das zum Ausdruck bringt, dass sich der Fragende in die Situation seines Gegenübers hineinversetzen kann. Der Fragende übernimmt vordergründig die Rolle des Zuhörers und zeigt damit, dass er Anteil an dem Erzählten nimmt. Damit wird das Gespräch in Gang gehalten (vgl. Brunner, 2013).
5.2.2 Die vier Grundformen der Frage
Wie die Wirkung einer Frage...