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AUF DER SUCHE NACH EINEM MENTOR
Michael, ein fünfundsechzigjähriger Physiker, ist mein letzter Patient an diesem Tag. Er war vor zwanzig Jahren schon einmal bei mir in Therapie, etwa zwei Jahre lang, und ich hatte bis vor ein paar Tagen, als er mir eine E-Mail schickte, nichts mehr von ihm gehört. »Ich muss Sie unbedingt sprechen – der angehängte Artikel hat vieles aufgewühlt, Gutes und Schlechtes.« So schrieb er mir. Der Link führte zu einem Artikel in der New York Times, der beschrieb, wie ihm kürzlich ein bedeutender internationaler Wissenschaftspreis verliehen worden war.
Während er in meinem Praxiszimmer Platz nimmt, eröffne ich das Gespräch.
»Michael, ich habe Ihre E-Mail erhalten, in der Sie sagen, dass Sie Hilfe brauchen. Es tut mir leid, dass es Ihnen nicht gut geht, aber ich möchte auch sagen, dass ich mich freue, Sie zu sehen und von Ihrem Preis zu erfahren. Ich habe mich oft gefragt, wie es Ihnen wohl geht.«
»Danke, dass Sie das sagen.« Michael schaut sich im Sprechzimmer um – er ist drahtig, aufmerksam, fast kahlköpfig, etwa ein Meter achtzig groß, und seine leuchtend braunen Augen strahlen Kompetenz und Selbstvertrauen aus. »Sie haben die Praxis umgeräumt? Diese Stühle standen früher da drüben? Stimmt’s?«
»Jawohl, ich räume alle fünfundzwanzig Jahre um.«
Er lacht. »Sie haben also den Artikel gelesen?«
Ich nicke.
»Vermutlich können Sie sich vorstellen, wie es mir damit ging: ein ziemlich kurzer Anflug von Stolz und danach beständige Wellen von Selbstzweifeln. Es ist immer noch dasselbe – tief im Innern bin ich hohl.«
»Dann lassen Sie uns gleich mal loslegen.«
Den Rest der Therapiesitzung verbrachten wir damit, die damaligen Themen nochmals durchzugehen: seine ungebildeten Eltern, die irische Immigranten waren, sein Leben in den New Yorker Wohnblocks, seine schlechte Grundschulbildung, der Mangel an einem maßgeblichen Mentor. Er ging ausführlich darauf ein, wie sehr er Menschen beneidete, die von einem erfahrenen Menschen an die Hand genommen und gefördert wurden, während er sich ohne Ende anstrengen und die besten Noten vorweisen musste, um überhaupt bemerkt zu werden. Er musste sich selbst erschaffen.
»Ja«, sage ich, »sich aus eigenen Kräften zu erschaffen, ist ein guter Grund, stolz zu sein, aber es gibt einem auch das Gefühl, keine Basis zu haben. Ich kenne viele Kinder von Immigranten, die sich vorkommen wie Lilien, die in einem Sumpf wachsen – wunderschöne Blumen, aber ohne feste Wurzeln.«
Er kann sich noch entsinnen, wie ich dies schon vor Jahren zu ihm gesagt habe, und meint, er sei froh, daran erinnert zu werden. Wir vereinbaren, dass wir uns für einige Sitzungen treffen wollen, und er erklärt, dass es ihm schon besser geht.
Ich hatte mit Michael immer gut arbeiten können. Wir hatten gleich von der ersten Therapiestunde an einen guten Kontakt zueinander, und er hatte gelegentlich bemerkt, ich sei der einzige Mensch, der ihn wirklich verstehen könne. Im ersten Jahr seiner Therapie sprach er oft von seinem diffusen Identitätsgefühl. War er wirklich der glänzende Schüler, der alle anderen überflügelte? Oder war er der Außenseiter, der sich die Freizeit im Pool-Zimmer oder mit Würfeln vertrieb?
Als er wieder einmal über sein diffuses Identitätsgefühl klagte, erzählte ich ihm eine Geschichte von meiner Abschlussfeier an der Roosevelt High School in Washington, D.C. Einerseits hatte man mir mitgeteilt, dass ich bei der Abschlussfeier mit dem Roosevelt High School Citizenship Award ausgezeichnet werden sollte. Andererseits hatte ich im letzten Schuljahr ein kleines Wettbüro für Baseballwetten laufen: Ich bot die Quote 10:1, dass je drei ausgewählte Spieler an einem Tag keine sechs Hits erzielen. Die Chancen standen zu meinen Gunsten. Ich war bekannt dafür, immer gut dazustehen, und hatte immer genug Geld, um Gardenien-Ansteckblumen für meine feste Freundin Marilyn Koenick zu kaufen. Doch ein paar Tage vor der Feier verlor ich mein Wettbuch. Wo war es nur hingekommen? Ich war verzweifelt und suchte fieberhaft danach bis kurz vor der Abschlussfeier. Sogar als ich hörte, wie mein Name aufgerufen wurde und schon die Bühne betrat, zitterte ich vor Angst: Würde ich die Auszeichnung als bester Schüler der Roosevelt High des Schuljahrgangs 1949 erhalten oder würde ich wegen Wetten der Schule verwiesen werden?
Als ich Michael diese Geschichte erzählte, lachte er schallend und murmelte: »Ein Therapeut nach meinem Geschmack.«
* * *
Nachdem ich mir zu unserer Stunde Notizen gemacht habe, ziehe ich mich um, Freizeitkleidung und Tennisschuhe, und hole mein Fahrrad aus der Garage. Mit vierundachtzig kann ich längst nicht mehr Tennis spielen und joggen, aber ich drehe fast jeden Tag auf einem Radweg in der Nähe unseres Hauses eine Runde. Ich radele zuerst durch einen Park voller Kinderwagen und Frisbees und Kinder, die auf hypermodernen Geräten herumklettern, überquere dann eine einfache Holzbrücke über den Matadero-Creek und fahre einen kleinen Hügel hinauf, der Jahr für Jahr steiler wird. Oben auf der Kuppe entspanne ich mich und beginne die lange Fahrt den Hang hinab. Ich liebe es, dahinzurollen, wenn ein warmer Luftzug mir übers Gesicht streicht. Nur in solchen Momenten beginne ich meine buddhistischen Freunde zu verstehen, die davon sprechen, den Geist zu leeren und sich dem Gefühl des einfachen Daseins hinzugeben. Aber die Ruhe ist immer von kurzer Dauer, und heute spüre ich, wie sich allmählich irgendwo im Kopf ein Tagtraum vorbereitet, auf die Bühne zu treten. In diesem Tagtraum geht es darum, dass ich mir meine Leistungen nur eingebildet habe, vielleicht Hunderte von Malen in meinem langen Leben. Der Traum schlummerte schon seit Wochen in mir, aber Michaels Klage darüber, dass er nie einen Mentor hatte, erweckt ihn nun zum Leben.
Ein Mann mit einer Aktentasche, mit Seersucker-Anzug, Strohhut, weißem Hemd und Krawatte, betritt den kleinen, schäbigen Lebensmittelladen meines Vaters. Ich bin nicht dabei: Ich schaue von oben zu, als würde ich an der Decke schweben. Ich erkenne den Besucher nicht, aber ich weiß, dass er einflussreich ist. Vielleicht ist er der Direktor meiner Grundschule. Es ist ein heißer, schwüler Junitag in Washington, D.C., und er zieht sein Taschentuch heraus, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, ehe er sich meinem Vater zuwendet. »Ich habe etwas Wichtiges wegen Ihres Sohnes Irvin mit Ihnen zu besprechen.« Mein Vater ist konsterniert und erschrocken; so etwas ist ihm noch nie passiert. Mein Vater und meine Mutter, die sich nie an die amerikanische Kultur assimiliert haben, fühlten sich nur im Umgang mit ihresgleichen wohl, mit anderen Juden, die mit ihnen aus Russland emigriert waren.
Obwohl andere Kunden im Laden seine Aufmerksamkeit fordern, weiß mein Vater, dass er diesen Mann nicht warten lassen darf. Er ruft meine Mutter an – wir wohnen in einer kleinen Wohnung über dem Geschäft –, und außer Hörweite sagt er ihr auf Jiddisch, sie möge schnell herunterkommen. Ein paar Minuten später erscheint sie und kümmert sich rasch um die Kunden, während mein Vater den Fremden in einen kleinen Lagerraum im hinteren Teil des Ladens führt. Sie nehmen auf Kisten mit leeren Bierflaschen Platz und unterhalten sich. Zum Glück tauchen keine Ratten oder Kakerlaken auf. Meinem Vater ist die Situation offensichtlich unangenehm. Ihm wäre es wesentlich lieber gewesen, wenn meine Mutter das Gespräch übernommen hätte, aber es wäre nicht schicklich, öffentlich zuzugestehen, dass sie und nicht er die Geschäfte in der Hand hat und alle wichtigen Familienentscheidungen trifft.
Der Mann in dem Anzug berichtet meinem Vater erstaunliche Dinge. »Die Lehrer in meiner Schule sagen, dass Ihr Sohn Irvin ein exzellenter Schüler ist und das Zeug hat, einen außergewöhnlichen Beitrag zu unserer Gesellschaft zu leisten. Aber das wird nur dann geschehen, wenn ihm eine gute Bildung zuteil wird.« Mein Vater wirkt wie erstarrt, seine schönen Augen mit dem eindringlichen Blick sind auf den Fremden fixiert, der fortfährt: »Heutzutage ist das Schulsystem in Washington, D.C. gut aufgestellt und für den durchschnittlichen Schüler zufriedenstellend, aber es ist nicht für Ihren Sohn geeignet, nicht für einen sehr begabten Schüler.« Er öffnet seine Aktentasche und überreicht meinem Vater eine Liste von mehreren Privatschulen in D.C. und fährt fort: »Ich rate Ihnen dringend, ihn für seine weitere Schulzeit auf eine von diesen Schulen zu schicken.« Er holt aus seiner Brieftasche eine Visitenkarte und überreicht sie meinem Vater. »Wenn Sie mit mir Verbindung aufnehmen, werde ich mich dafür einsetzen, dass er ein Stipendium bekommt.«
Als er die Verwirrung meines Vaters sieht, erklärt er: »Ich werde versuchen, dass er Unterstützung für das Schulgeld bekommt – diese Schulen sind nicht kostenfrei wie die öffentlichen Schulen. Bitte, Ihrem Sohn zuliebe sollten Sie dem höchste Priorität einräumen.«
Schnitt! Der Tagtraum endet immer an dieser Stelle. Meine Phantasie scheut davor zurück, die Szene zu beenden. Nie sehe ich, wie mein Vater reagiert oder wie er anschließend das Gespräch mit meiner Mutter führt. Der Tagtraum bringt meine Sehnsucht zum Ausdruck, gerettet zu werden. Als Kind gefiel mir mein Leben gar nicht, mein Viertel, meine Schule, meine Spielgefährten – aus all dem wollte ich gerettet werden, und in dieser Geschichte werde ich zum ersten Mal als besonders erkannt, und dies von einem wichtigen Repräsentanten der Welt da draußen, der Welt jenseits des kulturellen Ghettos, in dem ich aufwuchs.
Wenn ich jetzt zurückblicke, erkenne ich diese Vision von Rettung und Anerkennung in meinem ganzen Schreiben. Im dritten...