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Im Namen der Flagge

Die Macht politischer Symbole

AutorTim Marshall
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783423432320
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Eine unterhaltsame Lektion in Weltpolitik und Weltgeschichte Sie wehen vor der UNO, auf Parlamenten, Palästen und in amerikanischen Vorgärten - und sie werden benutzt, um Gräueltaten zu rechtfertigen. Tim Marshall erklärt die Flaggen der Welt, jene von Großmächten, staatenübergreifenden Organisationen, aber auch solche, die Hass und Terror verbreiten sollen. Als Experte für außenpolitische Fragen erläutert er die Historie und die Wirkung der Flaggen und erzählt anhand dieser Symbole Weltpolitik und Weltgeschichte. Auch Kuriositäten kommen nicht zu kurz: zum Beispiel das Zeremoniell für die Bestattung der Stars and Stripes, wenn das bunte Stück Tuch zu zerschlissen ist und der Repräsentation der USA nicht mehr würdig.  

Tim Marshall, Jahrgang 1959, ist renommierter Experte für Außenpolitik und internationaler Bestsellerautor. >Die Macht der Geographie<, 2015 bei dtv erschienen, wurde in 30 Sprachen übersetzt und weltweit mehr als zwei Millionen Mal verkauft. 2020 folgte mit >Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert< der nächste Bestseller über brisante Krisenherde der Welt.

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Leseprobe

Einleitung


»Ich bin nicht mehr als du glaubst, dass ich bin,
und ich bin all das, was du glaubst, was ich sein kann.«

Die US-Flagge »im Dialog« mit dem amerikanischen
Innenminister Franklin K. Lane am Flag Day 1914

Am 11. September 2001, nachdem sich die Flammen gelegt und der Staub weitgehend gesetzt hatten, kletterten drei New Yorker Feuerwehrleute auf die noch rauchenden Trümmer des World Trade Center und hissten die amerikanische Flagge.

Die Aktion war nicht geplant und es waren keine offiziellen Fotografen dabei: Die drei Männer folgten einfach ihrem Impuls, inmitten von Tod und Zerstörung »ein Zeichen« zu setzen. Tom Franklin, der Fotograf einer Lokalzeitung, hielt den Moment fest. Später erklärte er, sein Bild hätte ihn »etwas über die Stärke des amerikanischen Volks gelehrt«.

Wie konnte ein buntes Stück Tuch eine solche Schlagkraft haben, dass das Foto nicht nur überall in den USA, sondern in Zeitungen auf der ganzen Welt abgedruckt wurde? Die Bedeutung einer Flagge entspringt den Gefühlen, die sie weckt. »Old Glory«, wie die Amerikaner ihre Flagge nennen, spricht auf eine ganz besondere Weise zu ihnen, die man als Nichtamerikaner schlicht nicht kennt – doch wir können das verstehen, weil viele von uns ähnliche Gefühle gegenüber unseren eigenen Symbolen für Nationalität und Zugehörigkeit haben. Man kann unverhohlen positive oder auch negative Ansichten darüber haben, wofür die eigene Flagge steht, aber eines ist klar: Dieses simple Stück Tuch ist die Verkörperung der Nation. Geschichte, Geographie, Volk und Werte eines Landes sind allesamt in dem Tuch, seiner Form und den Farben, mit denen es bedruckt ist, symbolisiert. Es ist mit Bedeutung versehen, auch wenn diese Bedeutung für die verschiedenen Menschen unterschiedlich ist.

Alle Flaggen dieser Welt sind zugleich einzigartig und ähnlich. Sie alle sagen etwas aus – manchmal vielleicht auch zu viel.

Das war zum Beispiel im Oktober 2014 der Fall, als die serbische Fußballnationalmannschaft die albanische im Stadion Partizana in Belgrad empfing. Es war der erste Auftritt der Albaner in der serbischen Hauptstadt seit 1967. Die dazwischenliegenden Jahre waren vom jugoslawischen Bürgerkrieg geprägt, zu dem auch der Konflikt mit den ethnischen Albanern im Kosovo gehörte. Dieser hatte 1999, nachdem die NATO drei Monate lang serbische Militärstützpunkte, Städte und Dörfer bombardiert hatte, mit der faktischen Abspaltung von Serbien geendet. 2008 erklärte sich der Kosovo schließlich einseitig zum unabhängigen Staat. Dieser Schritt wurde von Albanien unterstützt und von vielen Ländern anerkannt – bezeichnenderweise gehörte Spanien nicht dazu. Man ging davon aus, dass der Anblick einer kosovarischen Flagge, die über der Hauptstadt eines unabhängigen Kosovo wehte, der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung Auftrieb verschaffen könnte.

Sechs Jahre später waren die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo – und auch Albanien – nach wie vor groß. Da auswärtige Fans mit Sicherheit angegriffen worden wären, waren sie nicht zugelassen.

Das Spiel war wenig temporeich, die Atmosphäre jedoch aufgeheizt. Von den Rängen erschallten laute »Schlachtet die Albaner ab«-Sprechchöre. Kurz vor der Halbzeitpause entdeckten Fans und dann einige der Spieler eine ferngesteuerte Drohne, die sich aus dem Nachthimmel langsam in Richtung Mittellinie bewegte. Später stellte sich heraus, dass sie von einem 33-jährigen albanischen Nationalisten namens Ismail Morinaj gesteuert worden war, der sich in einer Kuppel der nahe gelegenen Erzengel-Gabriel-Kirche versteckt hatte, von wo aus er das Spielfeld sehen konnte.

Als sich die Drohne senkte, machte sich eine erstaunte Stille im Stadion breit, und als sie sich schwebend der Mittellinie näherte, brach das Stadion in einen kollektiven Wutausbruch aus. Die Drohne trug eine albanische Flagge.

Und es handelte sich dabei nicht bloß um die Landesflagge, die für sich genommen schon zu Problemen geführt hätte. Diese Flagge trug neben dem doppelköpfigen schwarzen albanischen Adler die Bilder zweier albanischer Freiheitskämpfer vom Anfang des 20. Jahrhunderts und eine Karte von »Großalbanien«, das auch Teile von Serbien, Mazedonien, Griechenland und Montenegro einschließt. Zudem schmückte sie das Wort »autochthon«, der Hinweis auf die »indigenen« Bevölkerungsgruppen. Die Botschaft lautete, dass die Albaner, die sich als Nachfahren der Illyrer des 4. vorchristlichen Jahrhunderts betrachten, die rechtmäßigen Bewohner der Region seien – und nicht die Slawen, die erst im 6. Jahrhundert nach Christus kamen.

Der serbische Verteidiger Stefan Mitrović langte nach oben und griff sich die Flagge. Später erklärte er, dass er sie »so ruhig wie möglich« zusammenlegen wollte, um sie »dem vierten Offiziellen zu übergeben«, damit das Spiel fortgesetzt werden konnte. Zwei albanische Spieler entrissen ihm die Flagge, und damit lief die Sache aus dem Ruder. Mehrere Spieler begannen sich zu prügeln, dann stürmte ein serbischer Fan von den Rängen auf das Spielfeld und schlug dem albanischen Kapitän mit einem Plastikhocker auf den Kopf. Als weitere serbische Zuschauer auf das Feld liefen, kam das serbische Team zur Besinnung und versuchte, die albanischen Spieler zu schützen, die das Spiel Spiel sein ließen und Richtung Kabine rannten. Wurfgeschosse hagelten auf sie herab, während Ordnungskräfte die Fans auf den Rängen zu bändigen suchten.

Die politischen Folgen waren dramatisch. Die serbische Polizei durchsuchte die Kabine der albanischen Spieler und bezichtigte danach den Schwager des albanischen Premiers, er habe die Drohne vom Rang aus gesteuert. Die Medien beider Länder verfielen in hyperventilierenden Nationalismus. Der serbische Außenminister Ivica Dačić erklärte, sein Land sei »provoziert« worden, und sagte, »wenn irgendein Serbe eine großserbische Flagge in Tirana oder Priština entrollt hätte, stünde das schon längst auf der Tagesordnung des UN-Sicherheitsrats«. Ein paar Tage danach wurde der geplante Besuch des albanischen Premiers in Serbien, der erste nach fast siebzig Jahren, abgesagt.

George Orwells Spruch, Fußball sei »Krieg ohne Schießerei«, erwies sich als wahr, und angesichts der instabilen Lage auf dem Balkan hätte die Mischung aus Fußball, Politik und einer Flagge erneut zu einem ernsthaften Konflikt führen können.

Die amerikanische Flagge auf den Trümmern der Zwillingstürme zu hissen, prophezeite einen Krieg. Tom Franklin sagte, als er sein Foto machte, sei ihm die Ähnlichkeit mit einem berühmten Bild aus einem früheren Konflikt bewusst gewesen – dem von –US-Marines, die im Zweiten Weltkrieg die amerikanische Flagge auf Iwojima hissten. Vielen Amerikanern dürfte die Parallele sofort aufgefallen sein, ebenso wie die Tatsache, dass beide Ereignisse mit widerstreitenden Gefühlen verbunden sind: mit Trauer, Mut und Heldentum, mit Trotz, kollektiver Ausdauer und Anstrengung.

Beide Fotos, vielleicht noch stärker das vom 11. September, rufen auch die letzten beiden Zeilen der ersten Strophe der amerikanischen Nationalhymne »The Star-Spangled Banner« ins Gedächtnis:

O say does that star-spangled banner yet wave

O’er the land of the free and the home of the brave?

(O! Sagt, ob das Banner, mit Sternen besät,

Überm Land der Freien und Tapferen noch weht?)

In einem Moment tiefgreifenden Schocks für das amerikanische Volk war der Anblick der wehenden Flagge für viele beruhigend. Dass die Sterne der fünfzig Bundesstaaten von Männern in Uniform hochgehalten wurden, ließ sicherlich die militaristische Färbung der amerikanischen Kultur anklingen, aber das Rot, das Weiß und Blau inmitten des schrecklichen Graus der Zerstörung auf Ground Zero zu sehen, das dürfte auch vielen normalen Bürgern dabei geholfen haben, mit den anderen, zutiefst verstörenden Bildern umzugehen, die sie an diesem Herbsttag aus New York erreichten.

Woher stammen diese Nationalsymbole, denen wir so verbunden sind? Flaggen sind ein verhältnismäßig neues Phänomen in der Menschheitsgeschichte. Ihre Vorläufer sind Standarten und auf Tuch gemalte Symbole, die schon von den alten Ägyptern, Assyrern und Römern benutzt wurden, aber die chinesische Erfindung der Seide ermöglichte den Flaggen, wie wir sie kennen, ihren Aufstieg und ihre Ausbreitung. Herkömmliches Tuch war zu schwer, um es in die Höhe zu halten, zu entrollen und im Wind flattern zu lassen, insbesondere, wenn es bemalt war. Seide war viel leichter, was bedeutete, dass die Banner beispielsweise Armeen auf das Schlachtfeld begleiten konnten.

Der Stoff und der Brauch verbreiteten sich entlang der Seidenstraße. Die Araber waren die Ersten, die beides übernahmen, und die Europäer folgten ihnen, nachdem sie bei den Kreuzzügen damit in Kontakt gekommen waren. Diese Feldzüge und die großen westlichen Armeen, die teilnahmen, haben den Gebrauch von heraldischen Symbolen und Wappenkennzeichen, mit denen die Beteiligten leichter identifiziert werden konnten, vorangetrieben. Diese heraldischen Bedeutungen wurden dann mit Rang und Herkunft verknüpft, insbesondere bei Herrscherdynastien, und das ist einer der Gründe, warum europäische Flaggen sich aus der Verbindung mit Schlachtfeld-Standarten und...

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