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E-Book

Helfen als Beruf

Die Ware Nächstenliebe

AutorWolfgang Schmidbauer
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl252 Seiten
ISBN9783688105106
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Kann ein Mensch wirklich acht Stunden am Tag liebevolle Zuwendung geben? Darf sich eine Familientherapeutin scheiden lassen? Wie fühlt sich ein Helfer, der am Abend von seiner Partnerin die gleichen Klagen hört wie von seinen deprimierten Patientinnen tagsüber? Wolfgang Schmidbauer entwickelt eine fesselnd zu lesende Typologie der Wechselwirkung zwischen Berufsarbeit und Privatleben bei Helfern. Neben die Frage nach der Lebensgeschichte und den innerseelischen Schwierigkeiten von Helfern tritt darin auch die Betrachtung der äußeren Bedingungen, unter denen Menschen in den helfenden Berufen arbeiten.

Wolfgang Schmidbauer wurde 1941 geboren. 1966 promovierte er im Fach Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München über «Mythos und Psychologie». Er lebt in München und Dießen am Ammersee, hat drei erwachsene Töchter und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis.Neben Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, hat er auch eine Reihe von Erzählungen, Romanen und Berichten über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben. Er ist Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften.Außerdem ist er Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.

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Leseprobe

Vorwort


Ein Autor mag erwarten, daß seine Bücher bis zum Ende gelesen und so verstanden werden, wie er sie gemeint hat. Unter diesem Aspekt hat mir das Buch über die «hilflosen Helfer» neben der Freude an dem oft intensiven Interesse auch Kränkungen eingetragen. Nicht viel anders als orientalische Despoten, die erst einmal die Überbringer schlechter Nachrichten köpfen ließen, haben einige Rezensenten überlegt, was denn aus den jungen Sozialarbeitern werden solle, denen man schon im Erstsemester durch ein Buch über das Helfer-Syndrom jede Freude am Beruf und jedes unbefangene Engagement verderbe. Ein Monsignore und leitender Caritas-Angestellter in einer süddeutschen Diözese erhielt rauschenden Beifall, als er auf einer Tagung für Klinikpersonal sagte, er besitze das Buch, habe es aber nicht gelesen. Besonders beeindruckte mich jener Verwaltungsdirektor einer großen Klinik in Österreich, der mir nach einem Vortrag in Salzburg zum «Tag der Krankenschwester» zwischen Mozarts Dissonanz-Quartett und dem kalten Büfett entgegenhielt, er sei selbst kürzlich als Patient in seiner eigenen Klinik gelegen und habe keine Spur von einem Helfer-Syndrom bei seinen Pflegerinnen entdeckt. Irgendwo spricht mich ein stämmiger Sozialarbeiter an und sagt finster, ihm habe sein Beruf immer Spaß gemacht – ob ich das für nicht normal halte?

Man kann über ein Thema falsche Gedanken äußern; das ist in der Regel nicht schlimm. Man kann überhaupt keine Gedanken dazu äußern und damit sogar Professor werden, weil man es auf wissenschaftlich untadelige Weise getan hat. Aber einen Fehler sollte man nicht machen: über ein Thema nachdenken, über das man gar nicht nachdenken darf. Dann wird jeder Gedanke als zerstörerisch ausgelegt. Mir scheint, daß die Nächstenliebe ein solches Thema ist. Der Monsignore, der das Buch zwar erwirbt, es jedoch ungelesen wegstellt, drückt die Abwehr solcher Gedanken besonders anschaulich aus.

Die Beschäftigung mit den unbewußten Hintergründen menschlicher Hilfsbereitschaft ist nicht nur für die Konservativen ein Ärgernis. Auch manche «fortschrittlichen» Autoren gehen mit dieser Fragestellung um wie die von ihnen angegriffenen Psychiater mit ihren Patienten. Sie wird mit einem Etikett versehen («Psychologisierung» oder «Therapeutisierung») und abgeschoben. Es scheint die abstrakten Linien großräumig geplanter gesellschaftlicher Veränderungen zu stören, daß es so etwas wie eine subjektive Problematik der Helfer tatsächlich gibt.

Nach wie vor glaube ich, daß die Unterscheidung zwischen «Helfen aus Abwehr» und spontaner Hilfsbereitschaft sinnvoll ist. Unsere Altruismus-Verwalter sehen diese Unterscheidung nicht gerne, weil sie dazu neigen, ihre bürokratische Macht mit dem Wohl der Kranken und Klienten zu rechtfertigen. Diesem gegenüber muß das Wohl der beruflichen Helfer zurückstehen. Der zwanghaft an die Helfer-Position gebundene Berufstätige wird zum willigen Opfer einer Sozialbürokratie, die Machtinteressen durch das «von oben» definierte Kranken- und Klientenwohl rechtfertigt. Der Helfer, der in einem umfassenden Sinn selbst-bewußter wird, ist auch weniger bereit, sich in solche Zusammenhänge einzuordnen. Er läßt sich sein Engagement nicht mehr von seinen Vorgesetzten vorschreiben. Wenn diese deshalb mein Buch für ihre Interessen unangenehm finden, habe ich nichts dagegen.

Ärgerlich finde ich freilich, wenn sich ein durch solche Interessen bestimmtes Zerrbild meiner Absichten auch in den Köpfen der Betroffenen festsetzt. Diese nehmen dann an, daß das Nachdenken über die Motive der eigenen Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe unweigerlich zu einer zerstörerischen Entlarvung führt. In den «hilflosen Helfern» habe ich mehrmals ausdrücklich gesagt, daß es gerade um die Wiederherstellung und Befreiung der spontanen, kreativen Hilfsbereitschaft geht, um die Trennung von einem zerstörerischen Ideal. Aber eine solche Trennung macht auch Angst – die Angst, alles zu verlieren, weil man alles behalten möchte. Immer wieder höre ich Fragen: Wie sieht denn das richtige Helfen, das Helfen ohne Helfer-Syndrom aus? Ich werde verlegen, wenn ich diese Frage beantworten soll. Denn ich bin überzeugt, daß sie besser offen bleibt, wie eine jener Wunden, die dann verhängnisvoll werden, wenn ein unkundiger Arzt es darauf anlegt, sie möglichst rasch mit scheinbar gesunder Haut zu bedecken.

Der Konflikt zwischen zweckrationaler Leistungsfähigkeit und spontaner Gefühlsreaktion, zwischen Technik und Natur bestimmt das Leben in den Industriegesellschaften. Wie er sich in den helfenden Berufen darstellt, versuche ich in diesem Buch zu zeigen. Obwohl ich meine Gedanken anhand der Arbeit über die hilflosen Helfer entwickle, ist es keine Fortsetzung davon, sondern untersucht einen neuen Aspekt: die Wechselwirkungen zwischen dem von der Gesellschaft angebotenen «sozialen» Beruf und den persönlichen Eigenschaften der Helfer. Der lebensgeschichtliche Gesichtspunkt wird so durch einen sozialpsychologischen ergänzt.

Mitbedingt durch die Produktionsweise eines Psychoanalytikers, der seine Freizeit zum Schreiben verwendet, vielleicht sogar Ausdruck meiner persönlichen Deformation durch die «freien Assoziationen», ist «Helfen als Beruf» eher assoziativ als systematisch verfaßt. Ich hoffe, daß sich auf diese Weise erreichen läßt, woran mir liegt: der subjektive Nachvollzug, der Anstoß, sich selbst Gedanken «gegen den Strich» der Schulweisheiten zu machen.

Einen solchen Gedanken «gegen den Strich» stellt auch der Untertitel dar. Die wahre und die Ware Nächstenliebe – das ist mehr als ein Wortspiel. Es geht um jene Grundsätze der bürgerlichen Gesellschaft, die etwas anderes sind als das Über-Ich des einzelnen. Therapeuten, die selbst Beobachtungen über die konkrete Ausprägung des christlichen Altruismus anstellen konnten, werden mir zustimmen, daß in der praktizierten «christlichen» Erziehung häufig Nächstenliebe auf dem Weg über den Selbsthaß erzeugt wird. Woran liegt das? Weshalb erinnern sich so wenige christliche Eltern in ihrer Erziehungspraxis an den Satz: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst»? Sie haben verlernt, sich selbst zu lieben. Sie wissen gar nicht, wie sie selber sind. Die Leistungsideale der Gesellschaft haben ihre Persönlichkeit kolonisiert. Nächstenliebe als Beruf, als bezahlte Dienstleistung, als Ware: hier droht stets die Gefahr, daß die Leistung – «Liebe deinen Nächsten» – die Erholung – «Liebe dich selbst» – auffrißt, bis endlich der Helfer nur noch eine funktionierende Dienstleistungsfassade aufrechterhält und alles ablehnt, was an kindlichen Gefühlen und Wünschen dahintersteckt. Wenn der Helfer nicht mehr schwach sein kann, braucht er die Schwachen draußen, braucht er Abhängige, Unmündige. Der Vollzug seiner eigentlichen, vornehmsten Aufgabe, sich selbst überflüssig zu machen, wird dann zur tödlichen Gefahr für sein Selbstgefühl, zu etwas, an das nicht einmal gedacht werden darf.

Das Gleichgewicht, welches in dem Satz: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» angedeutet ist, geht durch die Professionalisierung der Nächstenliebe verloren. Gleichzeitig ist dieser Verlust eine Voraussetzung der Professionalisierung. Sie kann erst stattfinden, wenn die Menschen verlernt haben, Schwäche, Regression, Kindlichkeit, Emotionalität in ihrer tiefen und umfassenden Bedeutung für ihr Leben zu sehen und zu akzeptieren. Dann werden die Gesellschaften erfolgreicher nach außen, im Kampf gegen die Natur und gegen andere Gesellschaften. Aber sie werden unglücklicher nach innen und müssen Helfer erfinden, die dieses Unglück verwalten. Beheben können sie es nicht, weil sie ein Teil seiner Bedingungen und Folgen sind.

Es ist an der Zeit, den Kolonialismus der Experten in der Gesundheits- und Erziehungswissenschaft zu beenden. Der Arzt, der die Fragen des Patienten überhört, tut das auch, weil er nicht gewohnt ist, sich selbst in Frage zu stellen. Der Therapeut, der vorgibt zu wissen, was das Dunkel des Unbewußten seiner Patienten birgt, gleicht dem Kind, das im Keller singt, weil es dann weniger Angst hat. Die Komplexe und Archetypen, die wir entdecken, entlarven unser eigenes Bedürfnis nach Ordnung und Struktur. Wenn ich einige Helfer anregen kann, ihre Arbeit zu entkolonisieren – und einige Klienten, ihnen dabei zu helfen, dann hat das Buch seinen Zweck erreicht. Es ist nicht nur ein Machtgewinn, sondern auch eine schwer erträgliche Last, Kolonisator zu sein, immer überlegen und stark sein zu müssen. Schwäche und Angst wieder zuzulassen, heißt auch die Kluft zu den unterworfenen «Wilden» verkleinern. Der Mächtige muß nicht mehr so viel Angst haben, seine Überlegenheit zu verlieren. Der Ohnmächtige muß nicht so viel Angst vor dem Mächtigen haben.

Ich habe vielen Menschen zu danken, ohne deren Hilfe dieses Buch nicht zustande gekommen wäre, obwohl ich mich während der eigentlichen Schreibarbeit wie ein Einsiedlerkrebs hinter meine Schreibmaschine zu verkriechen pflege. Es sind vor allem die vielen Helfer, die mir in Gesprächen zu zweit oder in Selbsterfahrungsgruppen von sich erzählt haben, deren privates und professionelles Schicksal ich oft über Jahre hin verfolgen konnte. Es sind die Kliniken, Praxisgemeinschaften und Verbände, die mich für kürzere, oft aber auch jahrelange Beratungen, Supervisionen und selbsterfahrungsorientierte Gruppenarbeit eingeladen haben. Der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik, dem Moreno-Institut in Stuttgart und seiner Geschäftsführerin Sarah Kirchknopf, WILL-Europa und der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse danke ich für die organisatorische Hilfe, ohne die ich keine so reichen...

Blick ins Buch

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