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E-Book

Vom Aussteigen und Ankommen

Besuche bei Menschen, die ein einfaches Leben wagen

AutorJan Grossarth
VerlagRiemann
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641054854
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Raus aus dem Hamsterrad!
Ein spannender Report über 13 Individualisten am Rande der Gesellschaft

Alternative Lebensformen gewinnen wieder an Aktualität. In den Siebzigerjahren war die Aussteigerbewegung eine romantische Jugendkultur in einem satten Land, heute sind die Gründe für die Suche nach einem einfacheren Leben andere: das Wachstum verliert an Geschwindigkeit, die Menschen müssen Kompromisse eingehen, wenn sie von ihrem Einkommen noch so gut leben wollen, wie sie es gewohnt sind. Sie müssen Mobilität versprechen, Überstunden machen, auf Familie und freie Zeit verzichten. Die Entfremdung nimmt zu. Jan Grossarth hat auf einer Rundreise mit dreizehn Stationen in Deutschland, der Schweiz und Norditalien Menschen besucht, die es gewagt haben, sich den Tretmühlen zu entziehen. Manche haben von heute auf morgen ihr altes Leben aufgegeben, andere sind schon früh einen radikal nichtbürgerlichen Weg gegangen. Alle leben einfacher, als es nötig wäre, und hoffen damit wiederzufinden, was ihnen verloren gegangen ist: Gemeinschaft, ein naturverbundenes Leben, Konsequenz, Glauben, Spiritualität, Freiheit.

Jan Grossarth (geboren 1981) studierte Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte und wurde Journalist. Zunächst arbeitete er frei für die Süddeutsche Zeitung, heute ist er Wirtschaftsredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Für seine Reportagen erhielt er mehrere journalistische Auszeichnungen, u. a. den Axel-Springer-Preis.

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Leseprobe
"Mit dem Gaukler von Telgte im Odenwald (S. 163-164)

Jörg von Winterfeld lebte seit einigen Monaten in einem Zirkuswagen. Der Wagen stand an einer Bahnstrecke in der Nähe von Münster. Das Dach und der chromglänzende Schornstein des Wagens schauten über einem brennnesselbewachsenen Erdwall hervor. Ein Zug rauschte vorüber, die Waggons schimmerten durch die Äste. Ich ging um den Wall herum und sah nun den ganzen Wagen.

Er war bunt und fröhlich und hatte eine Terrasse, auf der Jörg von Winterfeld saß und sein Gesicht in Richtung Sonne hielt. Jörg von Winterfeld hatte kurzgeschorenes Haar, er war ein großer, hagerer Mann mit etwas grobporiger Haut. Tags darauf wollten wir gemeinsam zu einem Mittelalterfest im Odenwald fahren, wo Jörg als Magister von Winterfeld auftreten würde. Der war er fast an jedem Wochenende: ein mittelalterlicher Gaukler und Minnesänger. Diesen Beruf hatte er schon seit zwanzig Jahren, und bald wollte er parallel eine neue Karriere als Liedermacher beginnen. Er übte dafür seit einigen Wochen Akkordeon.

Er machte Kaffee. Das dauerte eine halbe Stunde, denn Jörg von Winterfeld hatte eine neue Kaffeemühle. Ein einfaches Gerät aus Plastik, in das man eine Handvoll Bohnen füllte, mehr passte nicht hinein. Und dann musste man kurbeln. Das billige Mahlwerk schluckte mühsam Bohne für Bohne. Der Gastgeber mühte sich. Züge fuhren vorbei, eine schüchterne Nordwestbahn, ein brüllender Güterzug. Nach zwanzig Minuten war das Kaffeepulver fertig. »Die Mühle habe ich neu gekauft«, sagte Jörg von Winterfeld, »das ist auch so ein Schritt in die Einfachheit: bewusster trinken, bewusster essen.«

Er hatte die raue, lustige Stimme eines starken Rauchers. Wir tranken jeder drei Kaffee. Seine beiden Kinder, ein neunjähriger Sohn und eine siebenjährige Tochter, spielten auf dem Feld, das man von der Terrasse überblickte. Die Kinder gingen, wir tranken Bier. Die Luft war mild geworden, die Sonne senkte sich über die Bahngleise und versprach uns ein langes Sommerwochenende. Jörg von Winterfeld legte chilenische Sonnenuntergangsmusik auf.

Die Sonne ging daraufhin tatsächlich unter. Der Gastgeber warf sich einen chilenischen Wollponcho über. Als seine Ehe zerbrochen war, ließ sich Jörg von Winterfeld diesen Zirkuswagen zusammenzimmern. Der Wagen kostete sechsunddreißigtausend Euro, er sollte ihn mobil machen und sein Leben schlichter. Vorher hatte er alles, was er besaß, als Selbstverständlichkeit hingenommen, das sollte sich ändern. Er kannte das Lebensmodell Zirkuswagen schon lang aus der Mittelalterszene. Er hielt diese Leute bis vor einem Jahr für Spinner. Ihn als alten Bürgersohn würde das nie reizen, hatte er gedacht.

Nach der Trennung von seiner Frau änderte sich seine Wahrnehmung. Wie alle Aussteiger rauchte er Selbstgedrehte, Filter von Gizeh, Tabak von American Spirit, er zündete sich eine nach der anderen an. »Ich bin ein Suchtmensch«, sagte er, »wie mein Vater.« Der war auch ein Leben lang Kettenraucher und wurde siebenundachtzig. Der Gaukler stammte aus der Familie von Winterfeld, die so lange preußische Generäle hervorgebracht hatte, bis es keine preußischen Generäle mehr gab. Sein Vater war dann schon Kunstmaler und Übersetzer, Wehrmachtsdeserteur und strenger Atheist.

Sein Sohn begriff den Atheismus seines Vaters erst, als dieser fünfundachtzig Jahre alt war, die beiden einen Spaziergang im Garten des Altenpflegeheims Telgte unternahmen und der alte Mann plötzlich mit seinem Spazierstock zum Himmel zeigte und rief: »Ich habe das Gefühl, dass der da oben mich die ganze Zeit beobachtet.« Sein Vater sei der gläubigste Atheist gewesen, den man sich vorstellen könne, sagte Jörg von Winterfeld."
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