Kapitel II:
Der Ursprung Ihrer Persönlichkeit
Denken Sie bloß nicht, Sie seien allein. Sie können sich einreden, es wäre niemand im Zimmer. Denken, in Ihrer Beziehung gäbe es nur zwei Menschen. Sie können sich vorstellen, die Welt zu sehen, wie sie ist. Denken Sie neu, denn Sie denken falsch.
Es gibt kaum einen Gedanken, der uns so sehr in die Irre führt wie der, dass wir völlig unabhängig, frei und individuell seien. So ein Quatsch. Wer hat damit eigentlich angefangen? Natürlich sind wir Menschen fähig, moralische Entscheidungen zu treffen. Natürlich haben wir so etwas wie einen freien Willen. Natürlich kann ich mich bis zur Selbstaufgabe aufopfern für andere. Aber »frei« bin ich darin nicht, denn ich bin nie allein. Ich handle nie allein. Wer in uns handelt, mit uns lebt und was das bedeutet, kann uns der Fall von Sabrina K. verdeutlichen:
Sabrina ist erfolgreiche Managerin in einer internationalen Werbeagentur. Ihre beiden Töchter sind acht und zwölf Jahre alt, ihr Mann unterrichtet Religion und Englisch an einem Gymnasium. Sabrina steht viermal die Woche eine Stunde früher auf, um zu joggen. In ihrer knapp bemessenen Freizeit liest sie und beschäftigt sich mit ihren Kindern. Sie will eine vorbildliche Mutter sein. Die Hausarbeit hat ihr Mann übernommen – der ist ohnehin der bessere Koch. Eigentlich hat sich Sabrina K. ihr Leben gut eingerichtet. Trotzdem sitzt sie heute beim Therapeuten:
Therapeut: Hallo, Frau K., schön, dass Sie da sind. Worum geht es denn?
Sabrina K.: Ich weiß nicht, Herr Doktor, … irgendwie klappt im Moment gar nichts. Ich schlafe nachts nicht mehr, meine Mitarbeiter hassen mich, meine Kinder wachsen mir über den Kopf und mein Mann, der Schlappschwanz, ist auch keine Hilfe.
Therapeut: Hmmm …
Sabrina K.: Wissen Sie, ich bin die Letzte, die jammert, und es geht mir ja auch eigentlich ganz gut, aber das ist schon ein Scheiß-Deal, immer leisten, leisten, leisten. Alles bleibt an mir hängen. Nie fragt mal jemand, was ich brauche. Alle wollen immer nur was von mir.
Therapeut: Aha …
Sabrina K.: Eben! Und jetzt hab ich schon Bauchweh, wenn ich morgens ins Büro komme. Sie sollten mal sehen, wie die mich da anschauen. Klar, sagen tut keiner was, ich bin ja der Boss. Aber ich sehe es doch an ihren Blicken, wie sie mich hassen. Man kann wirklich niemandem vertrauen. Ich muss ständig aufpassen, dass da keiner an meinem Stuhl sägt. Sobald die eine Chance wittern, bin ich weg vom Fenster.
Therapeut: Soso …
Sabrina K.: Aber nicht mit mir. Meine Eltern haben mich nicht zum Verlieren erzogen. Am Ende hab noch immer ich gewonnen. Das hab ich auch zu meinem Mann gesagt, als er seine kleine Schlampe gevögelt hat. Und wer hat gewonnen? [grinst zufrieden] Zurückgekrochen gekommen ist er. Zu mir! Und den Kindern natürlich.
Therapeut: Mhm …
Sabrina K.: [runzelt die Stirn] Sagen Sie mal, Ihr Geld wert sind Sie aber auch nicht; so einsilbig wie Sie sind.
Therapeut: Hat für Sie Wert etwas mit Leistung zu tun?
Sabrina K.: Was soll die Frage denn? Ich lach mich tot! Mit was denn sonst?
Therapeut: [ernst] Ich frage Sie noch einmal: Hat für Sie Wert etwas mit Leistung zu tun?
Sabrina K.: [stiller] Mit was denn sonst?
Therapeut: [lächelt] So, jetzt können wir anfangen.
Unterbrechen wir hier das Gespräch für die Frage: Was ist passiert? Und was hat das mit unserem Thema zu tun? Nun, Sabrina K. sitzt dem Therapeuten zwar allein gegenüber; mit ihr gekommen sind aber noch ein paar andere Personen. Da wären einmal ihre Eltern. Dann ihr Ehemann, seine Geliebte, die Kinder und die Kollegen. Wohl auch Lehrer, Freunde und die Männer, die ihr im Laufe ihres Lebens nahegekommen sind. Warum diese Personen alle da sind? Weil sie sich als »Stimmen« in ihrem Kopf, ihrem Herzen oder in ihrer Seele festgesetzt haben. Mit ihren jeweils ganz eigenen Botschaften … Wenn Sie meinen, Sie seien allein, denken Sie neu!
Nach mehreren Sitzungen waren Sabrina K. und ihr Therapeut so weit, sich diesen Stimmen nähern zu können, sie den Personen zuzuordnen, zu denen sie gehörten – und deren Botschaften zu benennen.
Therapeut: Frau K., Sie sagten in unserer ersten Sitzung, Ihr Mann sei ein Schlappschwanz.
Sabrina K.: [scheinbar abgeklärt] Stimmt ja auch!
Therapeut: Wie kommen Sie denn darauf?
Sabrina K.: Wer bringt denn das Geld nach Hause? Ich hätte auch mal gerne eine starke Schulter, an der ich mich ausruhen kann. Nicht immer nur geben. Mein Mann ist ein Loser. Der kommt mittags heim und muss sich erst mal auf die Couch legen. Da geht es bei mir erst richtig los!
Therapeut: Frau K., wir hatten ja schon über die Stimmen gesprochen und ihre Botschaften.
Sabrina K.: Ja, die von wichtigen Menschen im Leben stammen und verinnerlicht wurden.
Therapeut: Genau. Und die dann auf andere neue wichtige Menschen übertragen werden.
Sabrina K.: Mhm …
Therapeut: Welche Botschaften von welchen Menschen haben Sie denn eben entdecken können?
Sabrina K.: [unwillig] Weiß nicht.
Therapeut: Also ich habe mindestens drei Botschaften gehört.
Sabrina K.: Und welche?
Therapeut: Ja, welche?
Sabrina K.: [zornig] Lassen Sie die Spielchen, ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.
Diese Sitzung war zäh. Sabrina K. hätte hier die Möglichkeit gehabt, drei Botschaften zu identifizieren. Aber die Abwehr war (noch) zu groß. Drei »Lebensweisheiten«, drei Botschaften hat Sabrina K. hier indirekt genannt:
Männer sind die Ernährer.
Erfolg heißt, viel und lange arbeiten.
Stark sein heißt, maximalen Druck aushalten – und dabei lächeln.
In einer späteren Sitzung war Sabrina K. bereit, sich auf »die Spielchen« einzulassen, und sehr schnell wurde klar, wessen Botschaften das waren: Ihre Eltern hatten sie ihr mitgegeben. Sie hatten es nicht als Belastung gemeint, sondern als Geschenk an ein Kind, dem sie Handwerkszeug zum erfolgreichen Leben an die Hand geben wollten. Sie hatten so gelebt, und ihre Tochter sollte auch so leben. Dass dieses Werkzeug im Leben ihres Kindes nicht funktionieren musste, haben sich Sabrinas Eltern nicht klargemacht. Für Sabrina K. war die Gabe zur Last geworden. Sie hatte die Stimmen der Eltern verinnerlicht und sie seitdem nicht mehr hinterfragt. Heute überträgt sie sie auf sich selbst und auf Menschen, die ihr wichtig sind, beruflich wie privat. Sie selbst kann diesem Druck standhalten – noch (ohne Schlaf geht es nicht lange gut). Aber ihr Mann, ihre Mitarbeiter und ihre Kinder werden diesem Anspruch schon lange nicht mehr gerecht. Und so wie sie sich selbst verachten würde für alles, was diesen drei Botschaften nicht entspricht, verachtet sie alle anderen für ihre »Schwächen«.
Wer jetzt meint, das sei ein Problem psychisch kranker Menschen, hat sich selbst noch nicht ehrlich betrachtet. Die Verinnerlichung von Stimmen bedeutender Menschen in unserem Leben – und dazu zählen zunächst unsere Eltern bzw. frühe Bezugspersonen, später Geschwister, Freunde, Lehrer, Pfarrer, Therapeuten, Trainer, Mentoren, Kinder, Partner, Chefs, um nur einige zu nennen – und die Übertragung der Botschaften auf uns selbst und andere ist ein grundlegend menschliches Phänomen. Jeder, der sich ernsthaft mit der Seele des Menschen beschäftigt, kennt den ursprünglich psychoanalytischen Begriff der »Übertragung«: vom Therapeuten und Psychiater über den Trainer und Coach bis hin zum Seelsorger und Pfarrer. Das ist völlig normal. Wichtig ist nur, es sich bewusst zu machen. Anderenfalls bewege ich mich nämlich in meinen inneren vier Wänden wie in einem Haus mit blind gewordenen Fenstern. Licht fällt nur spärlich ins Dunkel und erschwert mir einerseits die innere Orientierung, andererseits auch die klare Sicht nach außen. Zeit, die Fenster zu putzen!
Denken Sie an dieser Stelle einmal über die folgenden drei Fragen nach:
Welche Botschaften habe ich in meinem Leben?
Welche Stimmen sind bei mir einflussreich?
Woher kommen sie?
Nehmen Sie sich viel Zeit für Ihre persönlichen Antworten – sie haben maßgeblichen Einfluss auf Ihre Lebenszielplanung. Aber nun zurück zu Sabrina. Es gab noch weitere Stimmen und Botschaften in ihrem Leben, die sich im Laufe der Gespräche...