Einleitung
»Ich werde kurz eine Reihe von Fragen aufzählen und formulieren, die bislang kaum näher untersucht wurden und die eine sorgfältige und grundlegende Aufklärung erfordern […] Die äußeren und inneren Ghettoeinrichtungen; die Unterschiede zwischen den mittelalterlichen Ghettos und denen der Nationalsozialisten in ihrer Anlage und ihren Zwecken; die Rolle solcher Schöpfungen wie Sammelghetto, Durchgangsghetto etc. Natürlich müssen die externen und internen Aspekte des Ghettolebens ebenfalls berücksichtigt werden.«
Philip Friedman, »Problems of Research on the European Jewish Catastrophe« (1959; in: Roads to Extinction, 1980)
Das Ghettophänomen war von zentraler Bedeutung für das jüdische Leben unter dem NS-Regime und ist ein Grundpfeiler des Wissens um den Holocaust und der Erinnerung daran. Die vorherrschende Vorstellung vom Schicksal der Juden während des Holocaust ist die, dass die Deutschen sie als ein systematisches Element ihrer Judenpolitik in Ghettos zusammengefasst hätten und dass in Gebieten, in denen die Nationalsozialisten (aus welchen Gründen auch immer) nicht so verfuhren, dennoch erste Schritte einer Ghettoisierung unternommen wurden, womit eine Absonderung von Juden ohne sichtbare Mauern oder Zäune gemeint war. Inzwischen gibt es zahlreiche Untersuchungen, die sich mit einzelnen Ghettos befassen, hauptsächlich in Polen und in Litauen und in geringerem Umfang auch in anderen Regionen. Es gibt zudem ausführliche Schilderungen in den so genannten Jiskor-Büchern (Gedenkbücher über lokale jüdische Gemeinden, von denen in den vergangenen sechs Jahrzehnten etwa 1400 publiziert wurden) und in Erinnerungen Überlebender (ein Genre, das heute Tausende Veröffentlichungen umfasst). Diese Literatur vermittelt uns ein facettenreiches Bild vom Leben in einer sehr geringen Zahl von Ghettos.
1959 versuchte Philip Friedman, einer der führenden Holocaustforscher der unmittelbaren Nachkriegsperiode, die Ziele der Holocaustforschung zu definieren, die damals noch in den Kinderschuhen steckte:
»Um zu vermeiden, lediglich abstrakte Begriffe abzuhandeln, werde ich eine Reihe von Fragen benennen und kurz beschreiben, die bislang kaum untersucht wurden und einer sorgfältigen und grundlegenden Aufklärung bedürfen.
Das Ghetto und der Judenrat: Wir haben es mit einer Form jüdischer Selbstverwaltung zu tun, doch tatsächlich ist diese Selbstverwaltung nichts anderes als ein Hohn auf diesen Begriff, da die Nationalsozialisten die Ideen einer jüdischen Autonomie und eines eigenen Territoriums in den Schmutz gezogen haben, um die Bevölkerung zu täuschen und in die Irre zu führen. Weitere Probleme sind: die äußeren und inneren Ghettoeinrichtungen; der Unterschied zwischen dem mittelalterlichen und dem nationalsozialistischen Ghetto in der Anlage und dem mit ihm verbundenen Zweck; die Rolle solcher Schöpfungen wie Sammelghettos, Durchgangsghettos etc. Natürlich müssen auch die externen und internen Aspekte des Ghettolebens berücksichtigt werden.«[1]
Erstaunlicherweise hat sich jedoch die Forschungsliteratur niemals systematisch und tiefschürfend mit einer Reihe grundlegender Fragen zur Entstehung und zur Natur dieses Phänomens beschäftigt. Wann genau hat die Idee der Errichtung von Judenghettos im Denken der für die »Judenpolitik« Verantwortlichen des NS-Regimes Gestalt angenommen? Waren die näheren Umstände das Ergebnis einer geregelten und überlegten Planung (wie von vielen angenommen wird) oder resultierten sie aus lokalen Zwängen, ohne vorherige Vorbereitungen (wie in manchen Untersuchungen angedeutet wird)? Wer unterstützte diese Idee eines Ghettos und wer war dagegen? Welches waren ihre Ursprünge? Warum schlug der Begriff »Ghetto« Wurzeln (und in welchem Bezug steht er zu alternativen Begriffen, die der nationalsozialistische Diskurs für dasselbe Phänomen gebrauchte)? Wie viele Ghettos gab es? Zu welchem Zweck wurden sie tatsächlich gebraucht? Ging ihre Errichtung Hand in Hand mit der Entwicklung der Idee der »Endlösung«? Sollte man den Begriff »Ghettoisierung«, der sich aus dem Substantiv »Ghetto« ableitet, auch auf die Maßnahmen der Ausgrenzung und Konzentration anwenden, die gegen die Juden in Regionen gerichtet waren, in denen gar keine Ghettos errichtet wurden (etwa in Westeuropa)? Waren die Judenräte – ein weiterer fundamentaler Bestandteil der Geschichte des Holocaust und seines Gedenkens – intrinsisch mit dem Phänomen der Ghettos verbunden?
Einige dieser Fragen blieben unbeantwortet, da es als unumstößlich galt, dass Ghettos feste Bestandteile der nationalsozialistischen Judenpolitik gewesen seien.[2] Doch eine sorgfältige Untersuchung des reichen Quellenmaterials, das uns zur Verfügung steht, und der wissenschaftlichen Literatur über die nationalsozialistische Judenpolitik vor allem aus den letzten Jahren macht offenbar, dass diese Annahme auf einer Täuschung beruht: Die zentralen Stellen des NS-Regimes haben zu keiner Zeit eine klare und eindeutige Definition erarbeitet, was ein Ghetto war oder sein sollte. Außerdem verfügen wir über kein einziges bedeutendes Dokument, das auf die Quellen des Ghettobegriffs, seine Essenz und die Methoden seiner Umsetzung verweist. (In einem späteren Kapitel werde ich die Bedeutung von Reinhard Heydrichs bekanntem »Schnellbrief« vom 21. September 1939 erörtern, der häufig als unwiderleglicher Beweis angesehen wird.)[3] Deutsche Dokumente aus jener Zeit, verfasst von Beamten, die an der Errichtung von Ghettos beteiligt waren, führen jedoch im Gegenteil ganz unterschiedliche Gründe und Erklärungen für deren Notwendigkeit und Einrichtung an, was zeigt, dass sie selbst über die Ursprünge der Idee und ihre eigentlichen Zwecke keine klaren Vorstellungen hatten.
In der vorliegenden Untersuchung werde ich versuchen, eine Antwort auf die oben gestellten Fragen zu geben – anscheinend der erste Versuch dieser Art (abgesehen von einem Aufsatz Philip Friedmans, der vor mehr als fünfzig Jahren geschrieben wurde).[4] Meine Erörterung wird sich auf die Geschichte der Semantik und der kulturellen Kontexte des Begriffs »Ghetto« konzentrieren. Die meisten Autoren der bisherigen Behandlungen des Ghettophänomens während des Holocaust haben versucht, sich ihm unter einer administrativen und organisatorischen Perspektive zu nähern, und haben die sprachlichen und kulturellen Aspekte völlig übergangen. Ich bin überzeugt, dass in diesem Fall ein zugleich kultureller, sprachlicher und semantischer Zugang ergiebiger sein wird als die bisherigen Ansätze. Ich bin mir dessen bewusst, dass dieser neuartige Ansatz neue Fragen aufwerfen wird, deren Beantwortung einer künftigen Forschung vorbehalten bleibt. Doch wenn die hier vorgetragene Hypothese den Anstoß zu einer erneuten Diskussion eines Themas auslösen sollte, das für den Holocaust von so zentraler Bedeutung ist, hat sie ihren Zweck erfüllt.
Die hier vorgetragenen Überlegungen haben sich im Verlauf der ersten Monate des Jahres 2007 herauskristallisiert, als ich in meiner Funktion als Chefhistoriker in Yad Vashem mit der Abfassung einer Einleitung zur The Yad Vashem Encyclopedia of the Ghettos During the Holocaust begann, die zwei Jahre später erschienen ist. Bereits 2005, während der ersten Beratungen des Lexikon-Teams, stellte sich die Frage, welche Orte darin Eingang finden sollten. Während dieser Diskussionen wurde uns etwas klar, das zwar bekannt, aber bislang nicht ausreichend gewürdigt worden war, nämlich die Tatsache, dass die NS-Bürokratie zu keiner Zeit wirklich definiert hatte, was sie eigentlich unter dem Begriff »Ghetto« verstand. Unter dem Druck, eine eigene Definition anzubieten, einigten sich die Mitarbeiter der Enzyklopädie auf die folgende: »Jede Konzentration von Juden unter Zwang länger als ein Monat in einem klar abgegrenzten Wohnbezirk einer bereits bestehenden Ansiedlung (Großstadt, Kleinstadt oder Dorf) in Gebieten, die von Deutschland oder seinen Verbündeten kontrolliert wurden.« Mit dieser Definition wurden verschiedene Muster konzentrierten Wohnens erfasst – Wohnviertel, Straßen, Gruppen von Gebäuden – nicht jedoch einzelne Gebäude wie die »Judenhäuser« oder Kasernen –, und sie erforderte nicht die Existenz einer jüdischen Verwaltung, auch wenn diese Komponente häufig vorhanden war. Gleichzeitig entwickelte eine Gruppe am United States Holocaust Memorial Museum in Washington eine geringfügig andere Definition eines »Ghettos« für ihre mehrbändige Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, deren erster Band ebenfalls 2009 erschien. Das keineswegs triviale Problem, das sich hier stellte, machte eine systematische Untersuchung notwendig. The Yad Vashem Encyclopedia of the Ghettos During the Holocaust enthält eine knappe Version meiner These; das vorliegende Buch ist eine wesentlich ausführlichere und reichhaltig mit Belegen gestützte Version.
Auch wenn die ursprünglichen Fragen von mir selbst gestellt wurden, haben zahlreiche Freunde und Kollegen dazu beigetragen, Probleme zu klären und die Ideen und Antworten zu entwickeln. Zuerst und vor allem danke ich meinen Kollegen am Yad Vashem International Institute for Holocaust Research und der Arbeitsgruppe, die am Zustandekommen der Encyclopedia of the Ghettos beteiligt waren: Prof. David Bankier, der leider im Februar 2010 gestorben ist, Dr.Tikva...