Wolfgang Schmidbauer
Der entgrenzte Suizid
Narzisstische Kränkung im kalten Frieden
Die meisten gewissenhaften Selbstbeobachter werden zugeben, dass ihnen Mordimpulse nicht gänzlich fremd sind. Kaum einer hat das in einer so schönen Mischung von Idylle und Schauder vorgetragen wie Heinrich Heine:
»Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt – ja man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden.« (Heinrich Heine, Gedanken und Einfälle)
Der Dichter bekennt sich zu seiner Mordlust gegen jene, die ihn gekränkt haben. Aber er nimmt die Tat nicht selbst in die Hand, er wünscht sich, es möge ihm jemand die Henkersarbeit abnehmen. In der bürgerlichen Schicht hatte man damals noch Personal.
In Heines Notiz fällt der Zusammenhang zwischen Vereinfachung und Todeswunsch auf. Dem Dichter ist das städtische Leben mit seinen verletzenden Rivalitäten und seiner Unübersichtlichkeit zu kompliziert, er will es einfach haben. Und in der Tat ist der Tod der größte Vereinfacher und Kränkungslinderer von allen – einmal abgesehen davon, dass die Endlichkeit des Lebens selbst eine tiefe Kränkung darstellt. Die einem buddhistischen Weisen zugeschriebene Variante des Heine-Themas ist der Rat: »Meditiere am Ufer des Flusses, bis die Leiche deines Feindes vorbeitreibt.«
Noch viel stärker verbreitet ist die Fantasie vom Selbstmord als Erlöser, glänzend dramatisiert in Hamlets Monolog. Mit einem ausgeführten Suizid hat sie wenig gemein. Ich erinnere mich, wie im Alter von vier Jahren eine Ärztin schalt, weil ich angesichts einer drohenden Injektion schrie: »I mog nimma lem!« (hochdeutsch: Ich mag nicht mehr leben). Vielleicht erriet die strenge Frau Doktor, dass meine Absicht, sich dem Diphtherieserum durch solchen Todesmut zu entziehen, ihrer ärztlichen Kunst ins Gesicht spuckte.
In Fantasien wird der Selbstmord mehrfach genutzt: einmal, wie schon in der kindlichen Szene, als Wunschbild, um sich Angst und Schmerz zu entziehen; oft auch als symbolische Rache an jenen, die mich zu diesem Akt genötigt, die mich aus dem Leben vertrieben haben. Eine Fantasie, wie die Eltern am Grab des Kindes, das sie lebend missachtet haben, weinen, wird oft berichtet. Selbstmord ist bei jungen, körperlich gesunden Menschen nur ganz selten eine sozusagen unsoziale, nicht auf die Lebenden, sondern allein auf das eigene Ende gerichtete Tat.
Seit dem 11. September 2001 ist der Mann, der sein Leben opfert, um möglichst viele zu töten und ein Zeichen zu setzen, Symbol einer neuen Gefahr. Er verbindet die Todessehnsucht des Gekränkten mit dessen Mordlust zu einem archaischen Geltungswahn, der die triviale Mythologie der Drehbücher von Mortal Kombat umsetzt: In einer Schattenwelt müssen die Opfer ihren Mörder bedienen und seine Macht steigern. Politisch weniger bedeutungsvoll, aber wegen des wahllosen Mordens dem Terroristen zum Verwechseln ähnlich: Der Amoktäter, der seine Mitschüler, seine Lehrer oder einfach die jugendlichen Gäste in einem Lokal niederschießt.
Wie angespannt die gesellschaftliche Stimmung ist, wie wenig es den durch Bürokratie gegängelten und durch Sicherheit verwöhnten Mitteleuropäern gelingt, krasse Ereignisse einzugrenzen und möglichst viel Normalität um sie herum zu bewahren, hat sich nach einem Schüler-Amoklauf in einem Münchner Einkaufszentrum gezeigt. Kurz vorher hatte es in Bayern einen ersten Fall von islamistischem Terror gegeben – einen 17-Jährigen, der mit Axt und Messer in einem Vorortszug auf Reisende losging.
Der bayerische Löwe fängt den eigenen Schwanz
Vom Abend bis nach Mitternacht stand München an einem Tag im Juli 2016 unter Schock. Das gesamte Netz der öffentlichen Verkehrsmittel und der Hauptbahnhof wurden auf polizeiliche Anordnung gesperrt und stillgelegt, Hubschrauber kreisten über der Stadt, Straßen und Plätze waren wie ausgestorben. Es twitterte überall, es hieß, drei Männer mit Langwaffen seien aus dem einzigen Ort, wo es Schussverletzte gab, geflohen – einem Einkaufszentrum im Nordwesten. Männer mit Langwaffen – das sind Terroristen, das ist kein Amoklauf eines Jugendlichen, wie die ersten Zeugenaussagen hatten vermuten lassen. Bald wurden auch Schüsse gehört und in die Gerüchteküche der sozialen Medien eingespeist, deren Macht zuerst die kritische Haltung der Polizei und in der Folge die ganze Stadt lahmlegte.
Nicht existierende Terroristen wurden mit einem riesigen Aufgebot an Einsatzkräften, Blaulicht und Hubschraubern im ganzen Stadtgebiet gesucht. Irgendwann stellte sich heraus, dass die Männer mit den Maschinenpistolen Polizisten in Zivil waren, deren Auftritt am Tatort Zeugen im Geist ihrer Ängste erlebt hatten. Weil in der Polizeiführung dieser naheliegende, aber undramatische Gedanke nicht gedacht, sondern das Bild der maximalen Gefahr sogleich übernommen wurde, hielt die von der schützenden Staatsmacht verbreitete Panik für viele Stunden die Stadt in ihrem Griff.
Wer sich mit der Rhetorik von Polizeisprechern und Innenministern ein wenig auskennt, wird gar nicht erwarten, dass später jemand über solche Fehleinschätzungen nachdenklich spricht. Im Gegenteil: Die Polizeiführung bestätigt sich selbst, sie habe alles professionell erledigt. Und dann wird das Durcheinander schnellstens vergessen. Mindestens bis zum nächsten Event: Ein Mann schmuggelt drei Flüchtlinge über die Grenze. Im Kofferraum seines Autos finden sich Waffen und Schwarzpulver. Resultat: Stundenlang wird die Autobahn gesperrt.
Es ist unfair, nachträglich erworbenes Wissen einzusetzen, um sich über jene zu erheben, die es nicht hatten und aus ihrer Unaufgeklärtheit heraus versuchten, ihr Bestes zu geben. Umgekehrt aber ist schlecht beraten, wer angesichts eklatanter Fehleinschätzungen so tut, als hätte es diese gar nicht gegeben, und sich das Versagen schönredet.
Ein Jugendlicher, der in einem Schnellrestaurant um sich schießt, ist schlimm genug. Aber die Reaktion der bayrischen Staatsmacht wiederholt im Kleinen die fatale Bereitschaft zur Überreaktion, die Gefahren nicht verkleinert, sondern multipliziert.
Schwerbewaffnete in Zivil, die nach dem Terroralarm U-Bahnhöfe durchkämmen und letztlich sich selber jagen, sind nur für den komische Gestalten, der sich die Szene am Schreibtisch ausmalt. Für einen verirrten Passanten, der den Weg nach Hause nicht findet, können sie zum Anlass werden, sich auf der Flucht vor unerkannten Helfern ein Bein zu brechen.
Eine fast 80-Jährige, die ich in den Tagen danach sprach, hatte bereits am selben Abend zu ihrem Humor zurückgefunden. »Mir hat es Spaß gemacht. Ich musste fast zwei Stunden zu Fuß gehen. Aber ich dachte: Geschieht euch recht. Jetzt wisst ihr, wie es ist, wenn alle Angst haben. Ich war als Kind dabei, wie meine Mutter mit halb verbranntem Gesicht aus unserer Wohnung nach einem Bombentreffer zu retten suchte, was zu retten war. Damals hat sich niemand um uns gekümmert.«
Der heiße Krieg scheint die beste seelische Vorbereitung zu sein, um sich von den hektischen Reaktionen zu distanzieren, die in unserem kalten Frieden entstehen. Aber wir haben nicht mehr viele Bürger, die sich an ihn erinnern und Gelassenheit angesichts des Schreckens finden, weil sie weit Schlimmeres überstanden haben. Es gibt keine einfache Kur für die Seuche der Angst vor dem Terror. Der Glaube an schnelle Lösungen ist ja gerade der Kern des Problems. Das immense Interesse der Medien für Terrortat und Terrortäter macht die Sache besonders unheimlich. Es multipliziert nicht nur die Zahl der Täter in der Fantasie erregter Zeugen, wie es in München geschah. Aufmerksamkeit in dieser exzessiven Form wirkt auf die entsprechenden narzisstischen Störungen wie ein Magnet.
Wenn Nachbarn und Angehörige von Selbstmordterroristen oder Amokläufern nach dem schrecklichen Ereignis über ihren Eindruck von den Tätern befragt werden, beobachten wir fast immer eine große Neigung zur kontrastierenden Normalisierung. Wir hören, es seien höflich grüßende, ganz normal wirkende junge Männer gewesen. Es ist wie in Robert Louis Stevensons Erzählung über Dr. Jekyll und Mr. Hyde, in der ein Trank den Gutmenschen in einen Bösewicht verwandelt – nur umgekehrt: Die Erinnerung an das Schreckliche erzwingt es, den Täter als freundlichen Menschen und seine Verwandlung als großes Rätsel zu sehen.
In der Konsumgesellschaft sind Medienpräsenz und öffentliche Aufmerksamkeit ein Gut schlechthin, eine hoch begehrte Möglichkeit, etwas Besonderes zu sein und so dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit und Bedeutungslosigkeit zu entrinnen. Besonders makaber ist die Beobachtung, dass die Aufmerksamkeit, welche dem Selbstmörder zuteilwird, der Tat eine...