II. Das Gedächtnis ist erfinderisch. Befunde aus der Neurowissenschaft und der kognitiven Psychologie
«Eine meiner ältesten Erinnerungen würde, wenn sie wahr wäre, in mein 2. Lebensjahr hineinreichen. Ich sehe noch jetzt mit größter visueller Genauigkeit folgende Szene, an die ich noch bis zu meinem 15. Lebensjahr geglaubt habe: Ich saß in meinem Kinderwagen, der von einer Amme auf den Champs-Élysées (nahe beim Grand Palais) geschoben wurde, als ein Kerl mich entführen wollte. Der gestraffte Lederriemen über meiner Hüfte hielt mich zurück, während sich die Amme dem Mann mutig widersetzte (dabei erhielt sie einige Kratzwunden im Gesicht, deren Spuren ich noch heute vage sehen kann). Es gab einen Auflauf, ein Polizist mit kleiner Pelerine und weißem Stab kam heran, worauf der Kerl die Flucht ergriff. Ich sehe heute noch die ganze Szene, wie sie sich in der Nähe der Metro-Station abspielte. Doch als ich 15 Jahre alt war, erhielten meine Eltern einen Brief jener Amme, in dem sie ihren Eintritt in die Heilsarmee mitteilte und ihren Wunsch ausdrückte, ihre früheren Verfehlungen zu bekennen, besonders aber die Uhr zurückzugeben, die sie als Belohnung für diese – einschließlich der sich selbst zugefügten Kratzspuren – völlig erfundene Geschichte bekommen hatte. Ich mußte also als Kind diese Geschichte gehört haben, an die meine Eltern glaubten. In der Form einer visuellen Erinnerung habe ich sie in die Vergangenheit projiziert. So ist die Geschichte also eine Erinnerung an eine Erinnerung, allerdings an eine falsche. Viele echte Erinnerungen sind zweifellos von derselben Art.»
Diese kleine Geschichte stammt von dem berühmten Entwicklungspsychologen Jean Piaget[11], und besonders seine Schlußfolgerung ist überraschend. Gewiß kommt es gelegentlich vor, daß wir feststellen, irgend etwas «falsch» erinnert zu haben, aber daß «echte» Erinnerungen oft mit etwas zu tun haben sollen, das wir gar nicht selbst erlebt haben, daß wir unsere Lebensgeschichte sozusagen mit Erinnerungen aus zweiter Hand ausstatten, mutet zunächst doch etwas befremdlich an. Ein Blick auf den aktuellen Stand der Gedächtnisforschung mag vielleicht Aufschluß darüber geben, wieweit wir Piaget in seiner Überlegung folgen können.
Bekanntlich hat die lange Zeit gängige Vorstellung, Erlebnisse und Ereignisse würden im Gehirn wie in einem Computer gespeichert und wären – vorausgesetzt, man verfügt über die richtigen Passwörter und Aufrufbefehle – aus diesem Speicher wieder abrufbar, mit der Funktionsweise des Gedächtnisses, soweit sie bis heute entschlüsselt ist, nicht allzu viel zu tun. Wie die falsche Erinnerung Piagets schon nahelegt, kann man eher davon ausgehen, daß das Gedächtnis ein konstruktives System ist, das Realität nicht einfach abbildet, sondern auf unterschiedlichsten Wegen und nach unterschiedlichsten Funktionen filtert und interpretiert. Das Gedächtnis als «constructive memory framework»[12] operiert mit unterschiedlichen Systemen des Einspeicherns, Aufbewahrens und Abrufens, die ihrerseits wieder, je nach Art und Funktion verschiedener Lern- und Repräsentationsebenen, auf unterschiedliche Subsysteme des Gedächtnisses zugreifen. Mentale Repräsentationen von Erfahrungen werden mithin als multimodale Muster der unterschiedlichen Aspekte und Facetten der jeweiligen Erfahrungssituation verstanden.
Die Erinnerungsspuren oder Engramme, die die Erfahrungen im Gehirn repräsentieren, sind nun nicht – wie man lange Zeit annahm – an bestimmten Stellen des Gehirns zu finden, sondern als Muster neuronaler Verbindungen über verschiedene Bereiche des Gehirns verteilt und als solche, verändert oder unverändert, abrufbar. «Dabei wird zunächst ein Teil der Komponenten, die eine bestimmte Erfahrung konstituieren, reaktiviert, woraufhin sich dann die Aktivierung auf die übrigen konstituierenden Komponenten der Erfahrung ausweitet.»[13] Sich zu erinnern bedeutet mithin, assoziativ Muster zu aktivieren, und bei diesem komplexen Vorgang kann einiges mit dem Erinnerungsinhalt geschehen. Schon intuitiv leuchtet ein, daß dieser Prozeß der Muster-Vervollständigung so vielfältigen internen und externen Einflüssen unterliegt, daß von einer authentischen Erinnerung an die Situation und das Geschehen, die sich bei jemandem als eine Erfahrung niedergeschlagen hat, nur im seltenen Grenzfall auszugehen ist. Im Regelfall leistet das Gehirn eine komplexe und eben konstruktive Arbeit, die die Erinnerung, sagen wir: anwendungsbezogen modelliert.
Allgemein, so resümiert Daniel Schacter seinen umfangreichen Überblick über die Befunde der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung, ließe sich denn auch festhalten, daß unsere Gedächtnisse einigermaßen ordentliche Arbeit im Aufbewahren der allgemeinen Konturen unserer Vergangenheit und im Festhalten vieler Ereignismerkmale leisten,[14] daß die Präzision dieser Erinnerungsarbeit aber aus vielerlei Gründen doch arg begrenzt ist.
Denn zunächst einmal ist ganz generell davon auszugehen, daß Erinnerungen mit der Zeit verblassen oder ganz verschwinden, insbesondere dann, wenn sie selten oder nie abgerufen werden, weil die neuronalen Verbindungen, die die Erinnerungen im Gehirn repräsentieren, im Fall ihrer Nichtinanspruchnahme offenbar schwächer werden und sich schließlich auflösen. Dies ist übrigens nicht zuletzt ein Grund dafür, daß sich Erinnern nicht getrennt von Vergessen diskutieren läßt. Während etwa alltägliche und routinehafte Verrichtungen von äußerst geringer Erinnerungsrelevanz sind, werden Ereignisse, die aufgrund ihrer emotionalen Bedeutung einen besonderen Aufmerksamkeitswert haben, offensichtlich gerade deswegen erinnert, weil man sie sich oft wieder «ins Gedächtnis ruft», und auch, weil man häufig über sie spricht.
Dies wirft aber sofort die Frage auf, ob eigentlich Erinnern und Vergessen so klar zu scheidende Aktivitäten sind oder ob nicht das Gedächtnis prinzipiell als ein Wandlungskontinuum aufzufassen ist, auf dem weniger relevante Wahrnehmungen und Erfahrungen sukzessive dem Verblassen und Vergessen anheimfallen, während biographisch bedeutsame aufbewahrt, vertieft, refiguriert, neu bewertet, kurz: verändert werden. Daneben ist zu bedenken, daß es nicht nur einen einzigen Typ von Erinnerung gibt, sondern eine ganze Reihe verschiedener, die nach unterschiedlichen Logiken operieren und die unterschiedliche Funktionen erfüllen. Zunächst kann Gedächtnis auf einer zeitlichen Ebene differenziert werden, in Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Während das Ultrakurzzeitgedächtnis im Bereich von Millisekunden operiert und sich vorwiegend auf die neuronalen Vorgänge etwa des Wahrnehmungssystems bezieht, bleibt das Kurzzeitgedächtnis über einige Sekunden bis wenige Minuten aktiv – so lange etwa, wie Sie benötigen, eine nachgeschlagene Telefonnummer in die Tastatur einzugeben. Die durchschnittliche Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses liegt etwa bei sieben Informationseinheiten, die «online» präsent gehalten werden können. Das Kurzzeitgedächtnis ist weitgehend deckungsgleich mit dem in der neueren Literatur häufig anzutreffenden «Arbeitsgedächtnis», dem zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiven Teil des Gedächtnisses.[15] Alle zeitlich darüber hinausgehenden Gedächtnisfunktionen werden als Langzeitgedächtnis bezeichnet.
Abb. 2: Schematische Darstellung der Beziehung zwischen Dauer von Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis (Abszisse) und der Tiefe der Informationsverarbeitung (Ordinate). Gestrichelt ist noch ein «intermediäres Gedächtnis» als weitere mögliche Form zeitbezogenen Gedächtnisses dargestellt (Markowitsch 2002a, S. 86).
Daneben lassen sich auf einer funktionalen Ebene unterschiedliche Gedächtnissysteme mit je verschiedenen Einspeicherungs- und Abrufmodalitäten bestimmen. «Das zerebrale System, mit dem ich lernte, einen Baseball zu treffen, ist ein anderes als jenes, mit dessen Hilfe ich mich erinnere, wie ich den Ball zu treffen versuchte und ihn verfehlte, und dieses unterscheidet sich wiederum von dem System, das mich angespannt und nervös sein ließ, als ich am Schlagmal Aufstellung nahm, nachdem ich den Ball beim letzten Mal voll an den Kopf gekriegt hatte. Es geht in allen Fällen um eine Form von Langzeitgedächtnis […], die aber jeweils von einem anderen neuralen Zentrum vermittelt wird.»[16]
Wie der Neuropsychologe Joseph LeDoux hier andeutet, unterscheidet die neuere neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung Typen von Gedächtnissystemen, und zwar im wesentlichen fünf, die untereinander jeweils noch differenzierbar sind (s. Abb. 3).
Da die Erforschung jedes dieser fünf Gedächtnissysteme, die natürlich – wie das Beispiel von LeDoux schon andeutet – interdependent sind, Ergebnisse hervorgebracht hat, die für das Verstehen des kommunikativen Gedächtnisses wichtig sind, hierzu ein paar Erläuterungen.
Es ist eine sehr einfache Erfahrungstatsache, daß es Erinnerungen gibt, die man in vollem Bewußtsein absichtsvoll wieder «hervorholen» und...