Einleitung
§ 1 »Wege – nicht Werke«
»Ein Gebirge erscheint.« Mit dieser Überschrift kündigt der SPIEGEL für 1975 die Edition der Gesamtausgabe von Martin Heideggers Schriften durch den Verlag Vittorio Klostermann an3. Der damals 85jährige Autor schätzt die Gesamtzahl der Bände auf »höchstens 50«, im Verlag ist von 70 Bänden die Rede. Doch knapp vier Jahrzehnte später steht fest, dass diese Erwartungen bei weitem übertroffen wurden: Die GA umfasst bisher 80 Bände mit 27.406 Seiten4; hinzukommen zahlreiche in die GA noch nicht aufgenommene Einzelpublikationen und eine stets wachsende Zahl von Briefbänden.
Wenn bei Heideggers Denkweg5 angesichts des Umfangs der vorliegenden Texte6 die Beschränkung auf das Nötigste unvermeidlich ist, so gilt dies noch mehr für die Auswahl der Sekundärliteratur. Bei allem Bemühen um Ausgewogenheit liegt es auf der Hand, dass jede referierende Darstellung bereits durch die Entscheidung für bestimmte und das Fortlassen anderer Texte eine Art von Interpretation ist.
a) Die Sache des Denkens
i. Unterwegs
Wenige Tage vor seinem Tod stellt Heidegger der Gesamtausgabe letzter Hand diesen Leitspruch voran: »Wege – nicht Werke« (GA 1, 437):
»Die Gesamtausgabe soll auf verschiedenen Wegen zeigen: ein Unterwegs im Wegfeld des sich wandelnden Fragens der mehrdeutigen Seinsfrage. Die Gesamtausgabe soll dadurch anleiten, die Frage aufzunehmen, mitzufragen und vor allem dann fragender zu fragen. 〈 . 〉 Es handelt sich um das Wecken der Auseinandersetzung über die Frage nach der Sache des Denkens (als Bezug zum Sein als Anwesenheit; Parmenides, Heraklit; νοεῖν, λόγος) und nicht um die Mitteilung der Meinung des Autors und nicht um die Kennzeichnung des Standpunktes des Verfassers und nicht um die Einordnung in die Reihe anderer historisch feststellbarer philosophischer Standpunkte. Dergleichen ist freilich, zumal im Zeitalter der Information, jederzeit möglich, aber für die Vorbereitung des fragenden Zugangs zur Sache des Denkens gänzlich ohne Belang.« (GA 1, 437 f.)
Die Unterscheidung in »Wege« und »Werke« ist für Heideggers Schriften bedeutsam: Werke sind in sich geschlossen, auf Wegen ist der Wanderer »unterwegs«. Dies trifft auch auf die »Seinsfrage« zu, die im Zentrum von Heideggers Denken steht. Auch wenn er selbst oft nur diese Kurzform gebraucht, kann nicht von einer allen Veränderungen entzogenen Frage ausgegangen werden. Denn dann besteht die Gefahr einer Substantivierung, indem der Geschehnischarakter des Fragens außer Acht bleibt7. Auch ist Heideggers Weg nicht von vornherein eindeutig – es gibt verschiedene Wege, die auch zu Um- oder gar Irrwegen werden können. Dies alles gehört zum »wundersamen Wegebau« (GA 12, 105).
»Der Denk-Weg zieht sich weder von irgendwoher irgendwohin wie eine festgefahrene Fahrstraße, noch ist er überhaupt irgendwo an sich vorhanden. Erst und nur das Gehen, hier das denkende Fragen, ist die Be-wegung. Sie ist das Aufkommenlassen des Weges.« (GA 8:2, 174)
Der Titel des ersten Hauptwerks, Sein und Zeit, zeigt das Problem an: Welcher Sinn von Sein leitet die Überlieferung? Welche Auffassung der Zeit steht dahinter? Wie ist das und zu verstehen, das »Sein« und »Zeit« eint?
Die Tradition folgt seit Platons ἰδέα und der οὐσία des Aristoteles einem fraglos übernommenen Sinn von Sein. Die Zeit wird im Hinblick auf ihre Messbarkeit definiert (↑ GH I, § 7 b). Der Zusammenhang von Sein und Zeit resultiert daraus, dass »Sein« seit den frühen Griechen im Zeitmodus der Anwesenheit steht und dies die nachfolgende Metaphysik prägt (↑ § 6). Trotz späterer und teils grundlegender Modifikationen stellt die Überlieferung diese Vorgaben nicht grundsätzlich in Frage.
ii. Metaphysik und Onto-Theo-Logie
Für Heidegger beginnt die Metaphysik mit Platon und endet mit Nietzsche. Seit Aristoteles verbirgt sich in ihr ein ihr selbst unbekanntes Geschick, ihre onto-theo-logische Verfassung. Deren Grund wird im dritten und sechsten Buch der Metaphysik gelegt. Das dritte Buch beginnt mit dem Satz:
Ἔστιν ἐπιστήμη τις ἢ θεωρεῖ τὸ ὂν ᾗ ὄν καὶ τὰ τοῦτῳ ὑπάρχοντα καθ’ αὑτό.8 »Es gibt eine gewisse Wissenschaft, die erforscht das Seiende als Seiendes und dasjenige, was diesem als solchem eignet.« (GA 26, 12)
Diese Wissenschaft wird in der Neuzeit unter dem Namen »Ontologie« zur metaphysica generalis9. Sie ist eines der Hauptthemen der πρώτη φιλοσοφία (der prima philosophia oder Ersten Philosophie, die später den Titel Metaphysik bekam10): die Wissenschaft vom Seienden als solchen, dem ὂν ᾗ ὄν.
Das sechste Buch untersucht das würdigste Seiende (τὸ τιμιώτατον ὄν) als allgemeinstes (κοινότατον)11. Dies ist von fundamentaler Bedeutung: »καθόλου besagt für Aristoteles zugleich: κοινότατον und τιμιώτατον ὄν (GA 11, 63(54)) Die Wissenschaft vom Göttlichen (θεῖον12) gilt jenem Seienden, an dem am reinsten der Grundzug des Seins hervortritt: die Überzeitlichkeit.
»Ontologie« und »Theologie«13 interpretiert Aristoteles am Leitfaden des λόγος qua Aussage: λέγειν τι κατά τινος, »etwas von etwas aussagen«14. Zu dieser »logischen« Einheit des Seienden als solchen (ὂν ᾗ ὄν) und im Ganzen (καθόλου) sagt Heidegger 1957:
»Für den, der lesen kann, heißt dies: Die Metaphysik ist Onto-Theo-Logie.« (63).
Dem λόγος liegt ein bestimmter und nicht weiter befragter Begriff des Seienden als solchen (ὂν ᾗ ὄν) zugrunde; er leitet sich aus dem alltäglichen Umgang mit Gebrauchsdingen her (↑ § 6 c). Dazu kommt, dass das θεῖον Thema der aristotelischen Physik ist; es ist das Ziel (wie auch in Metaphysik Λ 8), die Göttlichkeit des κόσμος, also der Welt, zu beweisen. Dieser onto-theo-logische Beginn der Metaphysik endet mit Nietzsches Erkenntnis: »Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!«15
Die Herkunft des metaphysischen Gottesbegriffs veranlasst Heidegger, »von Gott im Bereich des Denkens zu schweigen«, und zwar »aus der Erfahrung eines Denkens, dem sich in der Onto-Theo-Logie die noch ungedachte Einheit des Wesens der Metaphysik gezeigt hat (GA 11, 63).
b) Der hermeneutische Zirkel
Schon früh spricht Heidegger von einer »Kreisbewegung des Denkens« (GA 1, 217), später sagt er vom Zirkel, er sei »das Fest des Denkens« (GA 5, 3). Dieser sogenannte hermeneutische Zirkel unterscheidet sich vom circulus vitiosus der Logik16: Es liegt keine petitio a principiis vor, denn das Sein, auf das sich das Fragen richtet, ist beim ersten Mal das Gefragte, erwartet wird als Antwort das Sein als Erfragtes.
Der hermeneutische Zirkel geht auf die Praxis des Lesens zurück. Ein erstes Vorverständnis bringt der Leser mit und reichert es bei fortschreitender Lektüre mit neuen Details an. Steht am Anfang ein weitgehend unbestimmtes »Ganzes« (z. B. ein Inhaltsverzeichnis), so führt die wachsende Kenntnis der »Teile« zu einem genaueren Wissen um das Ganze, was wieder der Detailkenntnis zugute kommt17. Dieser Zirkel ist unvermeidlich:
»Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen« (GA 2, 203)18.
Mit dem Hineinkommen meint Heidegger allerdings mehr als nur den Lesevorgang. Zu ihm gehören die Arbeit der hermeneutischen Phänomenologie (↑ GH I, § 8), die Gewaltsamkeit der Interpretation (↑ § 2 a) und die formale Anzeige (§ 5 d). Die Auslegung erschließt die dem Verstehen immanente Vorstruktur, um »seine Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewusst zu machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen«19. Ziel ist die Destruktion der Metaphysik...