1. Einleitung
Es war im Frühjahr 2010, als ich zum ersten Mal den Satz hörte: »Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts.« Seitdem ist mir diese Aussage in abgewandelter Form immer wieder begegnet: »Daten sind das neue Öl.« Oder allgemeiner: »Der Rohstoff der Zukunft sind Daten.« Spätestens bei einer Lesereise nach Südkorea und Taiwan im Jahr 2015 realisierte ich, dass dies möglicherweise die erste globale Metapher für das digitale Zeitalter ist. Es gibt viele Metaphern, die genutzt werden, um Veränderungen zu erklären, Bilder von Naturgewalten werden herangezogen oder eben von Rohstoffen. Die Metaphorisierung von technologischem Wandel ist nicht neu, wird aber im Zusammenhang mit Daten und Digitalisierung besonders gern verwendet, um allgemeine technische Prozesse und deren Tragweite fassbarer und damit verständlicher zu machen.
Es sind nicht zuletzt die Unternehmen selbst, die sich der Metapher bedienen. Brian Krzanich, Chef von Intel, dem weltweit führenden Hersteller von Mikroprozessoren für PCs, schrieb Ende 2016 auf der Firmenwebseite mit Bezug auf die Automobilindustrie, Daten würden die Welt verändern, wie es vorher nur das Öl getan habe. Ähnliches hörte man vom Vorstandschef der Deutschen Telekom, Timotheus Höttges, und vom ehemaligen CEO des beruflichen Netzwerks XING, Stefan Groß-Selbeck schon früher.
Der britische Economist titelte im Mai 2017: »The world’s most valuable resource is no longer oil, but data«, und illustrierte seinen Artikel mit einer Zeichnung, die Datenkonzerne als Ölbohrinseln im Meer zeigte. Und natürlich hat auch die Politik den Vergleich längst aufgegriffen. Bundeskanzlerin Angela Merkel nutzt den Rohstoffvergleich regelmäßig in ihren Reden, allein in den vergangenen Monaten über ein Dutzend Mal.
Und Neelie Kroes, die damalige EU-Kommissarin für die Digitale Agenda, verkündete es bereits 2012: »Data is the new oil.«
Doch wo immer der Vergleich herangezogen wird, in der Regel begnügt man sich mit dem bloßen Schlagwort, das offensichtlich suggestiv genug ist und keiner weiteren Erklärung bedarf. Nirgendwo wird er hinterfragt oder gar weitergedacht. Genau darum soll es hier gehen, um die Frage, ob und inwiefern der Vergleich seine Berechtigung hat und was man aus ihm lernen kann. Fest steht in jedem Fall, dass es sowohl bei Daten also auch beim Öl nicht allein um unsere Wirtschaft geht. Es geht vielmehr auch um ein Freiheitsversprechen. Öl ist seit Jahrzehnten der Garant für unsere Mobilität, in Form von Treibstoff für Autos und Flugzeuge. Auch Plastik basiert wesentlich auf Erdöl, und Plastik ist vielleicht das Sinnbild für unsere form- und wandelbare moderne Konsumgesellschaft. Ein ähnliches Freiheitsversprechen geht offensichtlich auch von der Digitalisierung aus, gerade mit den Möglichkeiten des offenen Internets mit dem World Wide Web ab Mitte der neunziger Jahre. Öl und Daten standen und stehen für eine neue Bewegungsfreiheit, für die Überwindung von Grenzen. Wie wir bislang mit dem Auto oder im Flugzeug größte Distanzen zurücklegten, so holen wir uns jetzt mit digitalen Daten die ganze Welt zu uns nach Hause.
Es geht aber nicht nur um ein Versprechen, sondern auch um eine Verantwortung. Beim Öl diskutieren wir die Folgen der Verbrennung des fossilen Rohstoffs für den Klimawandel, den langfristigen Abschied vom Verbrennungsmotor und damit vom Öl. Aber wie sieht der Nachhaltigkeitsgedanke bei Daten aus? Ein solcher muss erst noch entwickelt werden.
Aber ist der Vergleich von Daten und Öl denn wirklich angebracht? Auf den ersten Blick scheint er zu simpel. Die Unterschiede von Daten und Öl sind überdeutlich. Erdöl ist über Millionen Jahre in einem Umwandlungsprozess aus organischen Stoffen entstanden. Als Rohstoff ist er auf der Welt nur begrenzt verfügbar. Und Daten? Nun, in Form von bildlichen und schriftlichen Aufzeichnungen sind sie ebenfalls sehr alt, viele Tausend Jahre. Aber wir reden natürlich von digitalen Daten, die synonym für einen Wandlungsprozess stehen, nämlich die Veränderung unserer Alltagswelt durch die Digitalisierung. Klar ist, Daten sind kein natürlicher Rohstoff, und sie sind nicht begrenzt, sondern werden neu erzeugt, sind endlos reproduzierbar, vervielfachen sich immer schneller und können zeitgleich mehrere Nutzer haben.
Aber natürlich geht es nicht um eine stoffliche Ähnlichkeit, sondern um eine funktionale. Es geht um die Bedeutung, die Daten und Öl jeweils gespielt haben, die sie zurzeit spielen und in Zukunft noch spielen werden. Es geht um die Bedeutung, die beide im Alltag der Menschen und für die Wirtschaft spielen. Es geht darüber hinaus um Machtfragen und Machtstrukturen, die Einfluss nehmen auf jeden Einzelnen, auf ganze Gesellschaften, auf Wirtschaftssysteme, auf die Politik und unsere Demokratie. Und es geht um die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, um diese Macht zu kontrollieren, die Veränderungen zu gestalten und positiv zu nutzen.
Geschichte wiederholt sich nicht, wir können aber aus ihr lernen. Viele grundsätzliche Fragen, die uns heute im Zusammenhang mit Daten und Digitalisierung umtreiben, werden schon seit über hundert Jahren im Zusammenhang mit Öl gestellt. Egal ob es um individuelle Sicherheitsbedürfnisse ging beim Einsatz von Petroleum zur Beleuchtung, Jobverlust und soziale Veränderungen durch den Verbrennungsmotor und den massenhaften Individualverkehr oder externe Effekte bei Fragen von Luftverschmutzung und Klimawandel und wie diesen global begegnet werden kann. Die Anliegen, um die es bei Öl ging und bei Daten jetzt geht, sind elementar, tiefgreifend, beeinflussen Machtstrukturen und sind vor allem ein internationales Thema.
Die Frage, die mich deshalb antreibt, lautet: Was können wir als Gesellschaft aus einem Jahrhundert des Öls für ein Jahrhundert der Daten lernen, und wie muss eine Politik aussehen, die aus den gewonnenen Erkenntnissen jetzt und in Zukunft eine digitale Gesellschaft gestalten will?
Ich wünsche mir einen reflektierten und ehrlicheren Umgang mit diesen Fragen, und ich wünsche mir eine Debatte, die nicht in Hinterzimmern oder Fachgremien stattfindet, sondern mitten in unserer Gesellschaft.
Mehr als siebzig Gespräche und Interviews habe ich für dieses Buch geführt. Mit Menschen wie Joseph Nye, dem früheren stellvertretenden Verteidigungsminister der USA und dann Dekan der Harvard John F. Kennedy School of Government, bei dem ich geduldig auf dem Sofa in seinem Eckbüro saß, während er in einem riesigen Bücherstapel auf seinem Schreibtisch eine Broschüre mit einem seiner Aufsätze suchte. Ich spreche mit ihm über neue Konflikte und außenpolitische Herausforderungen bei Daten und die Lehren aus früheren Konflikten mit Öl. Ein so sachkundiger Geist und kluger Denker, von dem man nicht vermuten sollte, dass er schon achtzig Jahre alt ist.
Oder mit Menschen wie Jürgen Müller, mit dem ich auf dem großen Balkon in einem wenige Wochen zuvor eröffneten Innovationszentrum von SAP saß. Jürgen Müller ist Chief Innovation Officer (CIO) beim viertgrößten Softwarehersteller der Welt, er ist zwei Jahre älter als ich, und zu Beginn unseres Gesprächs genossen wir erst einmal den wunderbaren Ausblick auf den kleinen See und die Wälder rund um Potsdam. Für ihn ist klar: Daten verändern unsere Wirtschaftswelt von Grund auf.
Nicht ganz so malerisch war das Ambiente bei Wirtschaftswissenschaftler Hal Varian, dessen Standardwerke zur Mikroökonomik viele Studenten aus ihren BWL-Grundkursen kennen. Er ist seit einem Jahrzehnt Chefökonom von Google. Er saß in seinem kleinen Büro in Mountain View im Silicon Valley in seiner braunen Cordhose und erklärt mir, dass Daten eigentlich nur ein Nebenprodukt sind.
Größere Zusammenhänge diskutierte ich mit Kate Crawford, der rothaarigen Australierin, die bei Microsoft Research in New York arbeitet und sich mit Fragen der künstlichen Intelligenz beschäftigt. Es ging um die Frage, was Daten eigentlich überhaupt sind. Aber auch darum, welche Menschen man schützen muss, und wie eine funktionierende Regulierung aussieht.
In Palo Alto besuchte ich den Historiker Joel Beinin. In seinem Büro ragten an allen Wänden drei Meter hohe Bücherregale auf. Der knapp Siebzigjährige mit dem markanten Schnauzbart erklärte mir, welchen Einfluss der Ölboom auf die Gesellschaften in der Region des Mittleren und Nahen Ostens hatte und wie der Ölreichtum weniger Menschen ganze Gesellschaftssysteme am Leben erhält und bestimmt.
In Cambridge nahe Boston saß ich in der Küche des Berkman Klein Center for Internet & Society der Harvard-Universität. Das Center platzt aus allen Nähten. Die Juristin Kate Darling ist Fellow am Center, und uns blieb nur die Küche für unser Gespräch. Es ging um Fragen der Robotik, wie sich Menschen gegenüber Robotern verhalten, welche Rechte Roboter haben sollten. Wir sprachen über Zukunftsfragen: Muss man zum Beispiel Sex mit Robotern regulieren? Fragen, denen wir uns stellen müssen, wenn Roboter in einem halben Jahrhundert vermutlich omnipräsent sein werden, nicht nur als Staubsaugerroboter, sondern auch als Alltagsassistenz.
Es waren sehr unterschiedliche Menschen, mit denen ich gesprochen habe. Mitunter wurden sie mir spontan von anderen Gesprächspartnern empfohlen. Aber wenn man zwei so unterschiedliche Dinge wie digitale Daten und Erdöl miteinander vergleichen will, führt das zwangsläufig zu einem fachübergreifenden Ansatz. Es geht eben nicht nur um die Wirtschaft, sondern auch um...