Einleitung
Silvia Henke und Alexandra D’Incau
In der Schweiz ist die Bedeutung von Kunst und Kultur im interkulturellen Kontext in politischer, sozialer, kunsttheoretischer und auch kunstpädagogischer Hinsicht seit längerem erkannt. Nachdem die UNESCO an der zweiten Weltkonferenz zu Kunsterziehung in Seoul (2010) die Bedeutung der Kunst und Kultur zur Herausbildung von sozialer Verantwortung und kultureller Diversität neu prioritär bewertet hat, sind die Begriffe der kulturellen Teilhabe und der Partizipation auch in der Kulturbotschaft der Schweiz 2015 fest verankert worden. Im Absatz 2.2.5 halten die Verfasser*innen der Botschaft fest: «Die Förderung kultureller Teilhabe ist eine zentrale Antwort auf die Herausforderungen der kulturell diversen Gesellschaft. Individuen und Gruppen, die am kulturellen Leben teilnehmen, sind sich ihrer kulturellen Prägung bewusst, sie entwickeln selbstbestimmt eine kulturelle Identität und tragen so zur kulturellen Vielfalt der Schweiz bei.»1
Um Teilhabe zu erreichen, dies hält die Kulturbotschaft fest, braucht es kulturelle Vermittlungsarbeit – diese wird seit 2016 in der Schweiz mit neuen Förderprogrammen unterstützt. In Folge dessen haben fast alle Kulturinstitutionen in den letzten Jahren ihre Vermittlungsangebote erweitert oder diversifiziert, um verschiedene kulturelle Milieus anzusprechen mit ihren Programmen. So übernehmen etwa Museen neue gesellschaftliche Aufgaben im Hinblick auf Repräsentation, Wissensaustausch, Bildung und Beteiligungsorientierung und finden dazu neue Konzepte von Vermittlungsarbeit.2
Wünschenswert ist, dass diese neue, auf kulturelle Teilhabe angelegte Vermittlungsarbeit, mit kultureller, resp. ästhetischer und gestalterisch-visueller Bildung 3 an den Schulen einhergeht, wo sich Jugendliche selber als Produzent*innen von Kultur erfahren können. Im Musikunterricht, im Bildnerischen Gestalten und in Theaterprojekten entwickeln Kinder und Jugendliche über ihre eigenen kreativen Tätigkeiten Interesse an der Kultur, gerade auch jene, die durch die Familie nicht dafür sensibilisiert werden. Darauf reagiert der neue Lehrplan 21 auch im Fach «Bildnerisches Gestalten» auf der Stufe 1.–8. Schuljahr (Primarschule und Sekundärstufe 1), indem er festhält: «Kinder und Jugendliche entwickeln ein ästhetisches Urteilsvermögen und eine Werthaltung zu Kunst und Kultur. Bezüge zu Kultur und Geschichte zeigen ihnen auf, dass sich Kultur im Wechselspiel von Tradition und Innovation fortwährend neu erschafft. Bildnerisches Gestalten leistet durch Kontakte zu Kunstschaffenden und direkten Begegnungen mit Kunstwerken in Museen, Ateliers, Galerien und im öffentlichen Raum einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Bildung».4
Nach langen Diskussionen und Vernehmlassungen im Verband der Lehrer und Lehrerinnen für Bildnerisches Gestalten (LGB) wurden deshalb die Ziele des Unterrichts neu formuliert. So soll es, wenn der Lehrplan 21 sich in Zukunft auch auf die Stufe 9.–12. Schuljahr erstreckt, nicht nur um technische und handwerkliche Fähigkeiten, sondern auch um kulturelle Kenntnisse, Sinn und Orientierung, das heisst um kulturelle Werte und kulturelle Bildung gehen.5
Der hier vorliegende Reader sucht aufgrund dieser drei grossen kultur- und bildungspolitischen Eckpfeiler (UNESCO-Botschaft, Kulturbotschaft 2016–2020, Lehrplan 21) nach Präzisierungen und Konkretion. Kulturelle und ästhetische Bildung geschieht nicht zuerst durch Museumsbesuche, sie muss auch oder sogar vor allem in den Kernhandlungen des Schulunterrichts stattfinden, durch die konkrete Einübung gestalterischer und ästhetischer Prozesse und einem offenen Austausch über diese. Wenn es darum geht, junge Menschen zu einer kulturellen Teilhabe zu befähigen, sollten sie als erstes mit den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten und der ihnen zur Verfügung stehenden Phantasie in Kontakt kommen, um dann Anschluss zu suchen und zu finden an weitere kulturelle Angebote und Leistungen. Es lohnt sich also, den Blick zu schärfen für die Anforderungen und Möglichkeiten des Fachs Bildnerisches Gestalten – heute und in Zukunft. Denn seine anspruchsvolle Aufgabe erscheint auf den ersten Blick noch komplizierter, wenn man «kulturelle Bildung» als inter- oder transkulturelle Aufgabe versteht. Nimmt man die demographische Entwicklung in der Schweiz in den Blick, dann stellen sich wichtige neue Fragen: Um welche kulturellen Kenntnisse soll es an Mittelschulen in postmigrantischen Gesellschaften gehen? Was bedeutet dies für die Hochschulen, die die künftigen Lehrpersonen ausbilden? Welcher Kulturbegriff wird dabei zu Grunde gelegt? Welchen Stellenwert haben Fragen der Identität und der mit ihr verbundenen Frage von kultureller Differenz – eine Dichotomie, von welcher unser Kulturbegriff geprägt ist?
Sobald man den Anspruch auf kulturelle Bildung also ernst nimmt, befindet man sich in einem Dickicht von theoretischen und alltagsspezifischen Zusammenhängen der subjektiven und normativen Aneignungen von Kultur. Genau in diesem Wechselspiel von individuellen und gesellschaftlichen Bedeutungen stecken viele Fallen, aber auch ein grosses Erkenntnispotential, das wir zum Ausgangspunkt nehmen, indem wir aus der Perspektive aktueller künstlerischer und zeitgenössischer kunstpädagogischer Positionen nach Ausdrucks- und Übersetzungsformen für bildnerisches und plastisches Gestalten suchen. Denn zeitgenössische Kunst(formen), die medien- und popkulturelle Alltagsphänomene einbeziehen, können als sensibler Radar fungieren für soziale, politische und biographische Belange. Sie können neue Handlungsweisen eröffnen und stellen damit einen Möglichkeits- und Reflexionsraum für die komplexe Problematik zur Verfügung. Als Beispiel sei hier die Arbeit The perfect sound (2008) der polnischen Videokünstlerin Katarina Zdjelar genannt. Sie dokumentiert einen Moment von Bildung, in welchem genau das passiert, was transkulturelle Bildung zu verhindern sucht: Sie zeigt einen britischen Sprechtrainer, der seinem Schüler durch ein accent removal training den Akzent, der über individuelle, soziale und geographische Herkunft Auskunft gibt, zu eliminieren versucht. Die Arbeit führt somit ins Herz der Frage von Anpassung und Normierung, individuellem Ausdruck, zur Rolle des Lehrers und jener des Schülers. Wie überall ist auch in der Schweiz das Thema Sprache, Slang, Dialekt und fremde Namen durch die Migration in seiner heiteren wie auch in seiner diskriminierenden Wirkung äusserst präsent. Künstlerische Arbeiten, die solche Schnittstellen von Kultur und Ausgrenzung in den Blick nehmen, können deshalb zielführend sein für Projekte im bildnerischen Gestalten, die mit Differenzen arbeiten und einen Verhandlungsraum für kulturell Neues und Ungewohntes entstehen lassen wollen.
Einerseits gilt es also, der Komplexität der Thematik Rechnung zu tragen und gleichzeitig im Kleinen und Konkreten deutlich zu machen, was Lehre und ästhetisches Lernen ausmacht – mit allen Möglichkeiten und Widersprüchen. Denn etwas hat all unsere Forschungen begleitet: Die Aussage von Lehrpersonen, dass das Thema Kultur, Identität, Differenz und Rassismus Probleme verursacht – den Lehrpersonen wie auch den Schülern und Schülerinnen. Viele sprechen von Fallen und Fettnäpfchen. Tatsächlich ist es kaum möglich, sich dem Thema unvoreingenommen zu nähern. Es braucht die Forschungen und Erkenntnisse der Kulturwissenschaft. So zeigen wir in einem ersten Kapitel auf, wie die Beziehung von bildnerischem Gestalten und kulturwissenschaftlichen Fragen hergestellt werden kann und welche Empfehlungen sich daraus ableiten lassen. Im zweiten Kapitel werden wir eine von uns initiierte und begleitete Unterrichtssequenz, die sich dem Themenfeld Kultur/Transkultur durch künstlerisch-gestalterische Aufgaben nähert, darstellen und auswerten. Dabei geht es nicht nur um best practice im Sinne von erfolgreichem Projekt, sondern auch um die kritische Reflexion der Schwierigkeiten, die sich im Feld des Kunstunterrichts für den Einbezug einer transkulturellen Perspektive stellen. Dies bezeugen auch weitere Erfahrungen mit konkreten Unterrichtsbeispielen aus Praktikas, die Studierende im Master Art Fine Arts /Art Education an der Hochschule Luzern – Design & Kunst gemacht haben und die dieses Kapitel abrunden.
Das dritte Kapitel wirft den Blick über die Mittelschule hinaus auf die Hochschule und auf eine «Flüchtlingsschule». An der Hochschule kommen Studierende kommen zu Wort, die sich zu ihren Fremdheitserfahrungen als internationale Masterstudent*innen in Luzern äussern und damit die Herausforderungen von Internationalität genauer beschreiben.
Dann berichtet eine Gruppe von Studierenden ihre Erfahrungen, sich vor Ort mit Flüchtlingen zu konfrontieren, indem sie in eine Flüchtlingsschule auf die griechische Insel Chios reisten, wo sie versuchten – selber fremd – den Flüchtlingen mit kleinen edukativen, menschlichen und ästhetischen Gesten zu begegnen.
Den Abschluss der Publikation bildet eine Liste mit Hinweisen und Publikationen, die unter anderem auch auf die Breite und Virulenz der Thematik...