MADELEINE
In einer Passage seines monumentalen Werkes Auf der Suche nach der verlorenen Zeit beschreibt Marcel Proust den berühmten Madeleine-Moment. Der Protagonist seines Romans isst eine madeleine. Er tunkt sie in seinen Tee und beginnt unwillkürlich, an seine Kindheit zurückzudenken und sich an besonders emotionale Momente zu erinnern. Proust war nicht mit der Neurowissenschaft vertraut, doch heute bietet sie uns eine Erklärung für diese Art Erfahrung, die eigentlich ziemlich häufig vorkommt. Wenn wir etwas schmecken, ist es relativ normal, dass wir uns sogar viele Jahre später an Empfindungen und Gefühle erinnern, die das Gehirn mit diesem Geschmack assoziiert. Das autobiografische Gedächtnis ist untrennbar mit der Geschmacks- und Geruchsempfindung verbunden und wird durch diese reaktiviert.
Kaffee ist für uns wie eine madeleine. Wir trinken ihn bei Gelegenheiten, in denen wir emotional oder sozial engagiert sind. Wir trinken ihn, um unsere Konzentration oder Kreativität zu stimulieren, aber auch, um Freundschaft zu unterstreichen oder eine neue Bekanntschaft zu feiern, als Trost nach einem Versagen oder um einen Sieg zu feiern. Kaffee ist bei jedem wichtigen Moment unseres Lebens eine freundliche Präsenz, etwa wenn wir arbeiten oder lernen müssen, Auto fahren oder etwas schaffen, wenn wir jemand Besonderen kennenlernen oder einfach nur nachdenken. Wie ein Freund ist Kaffee besonders, weil er mit unserer Autobiografie verbunden ist. Doch all das trifft nur zu, wenn der Kaffee gut ist.
Gut für unsere Sinne, ja, aber auch fähig, unsere Psyche zu erfreuen und ein Gefühl von Wohlbefinden zu erzeugen sowie dank seiner Eigenschaften, die schweren Krankheiten vorbeugen können, unser Leben zu verlängern. Und er muss im ethischen Sinne gut sein: Kaffee muss Werte repräsentieren, nicht nur für Konsumenten, sondern auch für andere. Eine kleine Geste wie der Genuss einer Tasse Espresso kann dabei helfen, die Welt lebenswert zu machen.
FAKTOREN DES GENUSSES
Essen ist eng mit unserem emotionalen und autobiografischen Profil verbunden. Wie der primäre olfaktorische Kortex kommuniziert der primäre gustatorische Kortex direkt mit dem limbischen System, das für Emotionen und zu einem großen Teil für das Lustempfinden verantwortlich ist. Aus der Neurowissenschaft wissen wir, dass die Lust, die wir beim Genießen von Lebensmitteln empfinden, durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden kann, die nur minimal mit den Sinnen und den organoleptischen Merkmalen des Lebensmittels zusammenhängen.
Diese Hauptfaktoren sind:
– sensorische Merkmale (gustatorisch, olfaktorisch, haptisch, visuell etc.)
– Vorerfahrung mit dem Lebensmittel (oder Getränk)
– unser physiologischer und psychologischer Zustand
– der kognitive Zustand (Verpackung, Marke, Geschichte)
– unsere Umgebung während des Konsums (wo und mit wem wir etwas konsumieren)
AM URSPRUNG VON GESCHMACK UND AROMA
Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht trinken die meisten Menschen Kaffee nicht wegen des Koffeins. Rund neunzig Prozent der Weltbevölkerung konsumieren Koffein auf eine andere Art und Weise, beispielsweise durch Tee, Schokolade, Beeren oder anregende Getränke. Beim Kaffee ist ein anderer Faktor entscheidender: Die Menschen lieben das Aroma und den Geschmack. Man kann Koffein in so vielen verschiedenen Formen zu sich nehmen, die noch schneller und einfacher sind. Warum wird dann ein Getränk gewählt, das so schwierig zuzubereiten ist? Weil die Hauptfunktion des Kaffees – und das können wir mit Zuversicht bestätigen – Genuss ist.
Wenn wir etwas trinken, bewerten wir automatisch und oft unbewusst, was in unseren Mund kommt. Neben dem Aussehen bewerten wir, wie es schmeckt und riecht, das Aroma und die Konsistenz, und im Bruchteil einer Sekunde entscheiden wir, ob wir es mögen oder nicht. Analysieren wir also einen Espresso: Manchmal kann er wie Toast oder Karamell schmecken, doch der Geschmack kann auch fruchtig, blumig oder angenehm bitter sein. Was ist der wissenschaftliche Prozess, der hinter unserem Geschmacksempfinden steckt? Die Signale, die ausgelöst werden, folgen einem genauen physischen Weg innerhalb des Körpers. Sie erreichen das limbische System und treffen auf die Amygdala. Das limbische System, das für emotionale und primordiale Reaktionen zuständig ist, inklusive der Kodifizierung sensorischer Impulse in angenehm oder unangenehm, kommuniziert mit dem präfrontalen Kortex, einem Bereich des Gehirns, der die hedonistischen Systeme enthält, mit denen wir etwas als »gut« oder »schlecht« bewerten. Diese Gehirnbereiche sind dafür zuständig, das Signal in kognitiver, nicht nur sensorischer Hinsicht auszulösen, sowie dafür, eine semantische Bezeichnung zuzuweisen. Das Signal wird entschlüsselt und löst eine verhaltensbezogene Reaktion aus: weiterkonsumieren oder ablehnen. Daher ist das Gehirn nicht lediglich ein passiver Empfänger, sondern trägt dazu bei, Geschmack zu kreieren.
Somit befinden wir uns in dem Bereich, den Gordon M. Shepherd in seinem Buch Neurogastronomy: How the Brain Creates Flavor and Why It Matters als Neurogastronomie bezeichnet, eine neue Wissenschaft, die das Geruchs- und Geschmacksempfinden im Gehirn umfasst und analysiert sowie hilft, Phänomene wie Fettleibigkeit oder Leidenschaft für Fastfood zu erklären, Fragen zur Ernährung zu beantworten und Geschmack zu unterrichten. Denn man kann im Geschmack unterrichtet werden: Geschmack ist nicht etwas, das einmal erlebt und auf ein bestimmtes Maß an Empfänglichkeit »kalibriert« wird. Im Gegenteil, Bildung kann unser Geschmacksempfinden verbessern und erweitern. Geschmacksempfinden hängt zu einem großen Teil vom Gedächtnis ab, da Geruchs- und Geschmacksempfindungen vom Gehirn klassifiziert werden, jede mit ihrer eigenen Semantik. Durch Bildung und Training können wir unsere Wahrnehmung verbessern und dadurch eine Form von Eleganz in unserer Wertschätzung des »Guten« erreichen.
Darum beschäftigen wir uns bei illy nicht nur mit der sensorischen Bildung von Geschmack, sondern auch mit Gehirnuntersuchungen. Wir arbeiten seit Jahren mit Neurowissenschaftlern zusammen und dank Neuroimaging-Techniken wie funktioneller Magnetresonanztomografie (einem wichtigen Mittel zur Analyse des Tiefenhirns) machen wir jeden Tag Fortschritte im Verstehen der Mechanismen, die die Wirkung von Kaffee auf die Sinne und das Gehirn regulieren. Zum Beispiel wissen wir heutzutage, dass der Duft von Kaffee einer der stärksten existierenden olfaktorischen Reize ist und dass die hedonistische Reaktion auf Kaffee sehr stark ist, noch stärker als die, die durch Schokolade ausgelöst wird. Die sensorische Stimulation von Kaffee ist schneller als bei den meisten anderen Lebensmitteln, und wir wissen, dass jeder Reiz unterschiedliche Gehirnbereiche aktiviert und unterschiedliche Wirkungen auf Wahrnehmung und Gedächtnis hat.
WIE WIR GESCHMACK WAHRNEHMEN
Allgemein ist der Geschmack eines Lebensmittels eine Kombination seines Geschmacks und seines Aromas. Der Geschmack wird durch die Geschmacksknospen auf der Zunge kodifiziert. Die Zunge hat hier auch eine zweite Funktion, da wir sie benutzen, um die Konsistenz von Lebensmitteln anhand der Zähflüssigkeit oder der Schärfe wahrzunehmen, die auf die Berührung der Proteine auf den Geschmacksknospen folgt. Das Aroma hingegen wird durch den Geruchssinn wahrgenommen. Der Geruchssinn ist mit dem Geschmack verbunden und lässt uns sowohl die Konzentration als auch die Identität der vielen flüchtigen Moleküle in der Luft wahrnehmen.
Das Bouquet wird durch die Nase wahrgenommen, wohingegen das Aroma an sich eigentlich beim Ausatmen wahrgenommen wird. Das Organ, das wir dafür verwenden, ist die Nase (nicht die Zunge oder der Gaumen). Riechen ist von zentraler Bedeutung für den Geschmack, auch wenn alle Sinne, auch visuelle, haptische und sogar auditive Wahrnehmung, zu seiner Wahrnehmung beitragen. Wir unterscheiden zwischen fünf Geschmäckern: bitter, salzig, süß, sauer und umami (der Geschmack von Mononatriumglutamat, auch herzhaft genannt). Aromen haben ein breites Spektrum und werden retronasal wahrgenommen.
DIE ELEGANZ DES GUTEN
Wir haben alle schon Menschen gesehen, die Kleidung oder Schmuckwaren tragen, die nicht zusammenpassen oder überflüssig sind. Wenn man sie einzeln betrachtet, ist jeder Bestandteil ein wertvolles Stück Kleidung oder Schmuck, doch kombiniert lassen sie den Träger pöbelhaft und grell aussehen. Wenn das passiert, bemerken wir, dass etwas Wichtiges fehlt: das Gleichgewicht.
Wie Geschmack balanciert Eleganz die Elemente der verschiedenen Geschmackszutaten (oder Kleidungsstücke), um eine angenehme und proportionale Zusammensetzung zu erhalten. Ansonsten riskieren wir den entgegengesetzten Effekt. Da Kaffee das aromatischste Getränk ist, das wir trinken, ist Ausgewogenheit besonders wichtig. Seine...