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Lebe wohl, Italien!

Goethes Reise in die Schweiz 1797. Klassizismus im Selbstversuch - eine Fußnote zu Goethes Leben

AutorClara Hermans
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl344 Seiten
ISBN9783744880565
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
>>Denn wirklich verkörpert dieser Diskurs über Kunst geradezu paradigmatisch die Ideen, ja, die Ideologie des Klassizismus: jenes Bildungsideals, das in dieser Epoche nicht nur Goethe leidenschaftlich bewegte. Wobei er sie im Werk und als Person verinnerlicht hat... Dass man die Ideale des Klassizismus auch leben kann, beweisen Goethes mittlere und späte 1790er Jahre. Ein Zeugnis dieser "klassizistischen" Lebensart liefert die Reise in die Schweiz des Jahres 1797, die damit hinter die phantastischen italienischen Träume einen definitiven Schlusspunkt setzt. Davon handelt dieses Buch. << Dies ist die überarbeitete Fassung der Dissertation, mit der die Autorin 1954 bei Walther Rehm in Freiburg mit Auszeichnung promoviert wurde. Sie gibt Zeugnis ab, wie damals geistig gearbeitet wurde und wie geistig damals gedacht wurde. Von der formalen und intellektuellen Ungebundenheit, und von der gedanklichen Strenge, die Doktorvater und Doktorandin verband.

Clara Hermans, in Heilbronn geboren, hat in Freiburg Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat mit ihrem Mann, dem Kunsthistoriker Claus Hermans, viele Dokumentationen für das Fernsehen verfasst. Sie ist Autorin einer Untersuchung zu Goethes zweiter Schweizer Reise und weiterer Bücher.

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Leseprobe

Einleitung


Von jeher ist Goethes “Reise in die Schweiz 1797” ein Stiefkind der Literatur. Auch Goethe selber hat, was er dem mitreisenden Schreiber Geist damals an Ort und Stelle ins Tagebuch diktierte, jahrzehntelang in seinem Archiv vergraben - und vielleicht seit 1797 niemals wieder auch nur eines Blickes gewürdigt - bis er 26 Jahre später, 1823, seinem neuen Gehilfen Eckermann die Hinterlassenschaft seiner Schweizerreise1 zum Redigieren der Texte für die Aufnahme in seine Gesammelten Werke übergab: “Sie werden sehen, es ist alles nur so hingeschrieben, wie es der Augenblick gab; an einen Plan und eine künstlerische Ründung ist dabei gar nicht gedacht, es ist, als wenn man einen Eimer Wasser ausgießt.”2 Für Eckermann war eine solche Aufgabe, seine allererste, eine hohe Auszeichnung, möglicherweise auch eine Talentprobe? Außer drei Heften mit Niederschriften enthielt das Konvolut auch alles, was Goethe 1797 auf der Reise gesammelt und nach Weimar mitgebracht hatte; nach seinen Worten

“alle Arten von öffentlichen Papieren: Zeitungen, Wochenblätter,

Predigtauszüge, Verordnungen, Komödienzettel, Preiskuraten”,

die jetzt allerdings keine Verwendung mehr finden würden. Denn ursprünglich war durchaus an eine spätere “künstlerische Ründung” gedacht und hatte Goethe Tagebuch, Reisebriefe und das Informationsmaterial zu einem Buch verarbeiten wollen. Schade, dass er nach seiner Rückkehr die Flinte so schnell ins Korn warf und damit das ganze Sammelsurium von Zeitungen und “fliegenden Blättern” Makulatur werden ließ - anstatt ein Stück Literatur daraus zu machen. Auf die von Eckermann besorgte Redaktion hat mit Gewißheit der alte Goethe ein Auge gehabt. Das Tagebuch wurde aufgefüllt durch dazwischengestreute Briefe: Goethe von unterwegs an Schiller, an den Herzog Karl August, an andere Freunde; so bekommt auch derjenige Leser, der sich keine Ausgabe von Goethe-Briefen leisten kann, einen Eindruck von des Dichters exzellenter brieflicher Schreibe. Und gerade weil Tagebuch und Briefe später nicht geglättet, nicht poliert und nicht vereinheitlichend durcheinander und ineinander verarbeitet wurden, behielt das Material seine originale Frische und Unmittelbarkeit, und wer sich wirklich für Goethe interessiert, wird die “Schweizerreise” gewiß nicht gelangweilt aus der Hand legen. Allerdings: dass Goethe die Redaktion seiner Reiseaufzeichnungen für die Veröffentlichung nicht eigenhändig besorgt hat, kostete seine “Reise in die Schweiz 1797” in den Augen der Goethe-Philologie einen Teil ihrer Authentizität - obgleich sämtliche Texte von Goethe legitimierte Originale sind.

Es liegt also die Beschreibung einer dem Anschein nach wohlgelungenen Reise vor.

Der bedeutende Goethe-Kenner und -Forscher B. Suphan hat innerhalb der Großen Weimarer Sophienausgabe einen Ergänzungsband zur Schweizer Reise 1797 herausgegeben und ihr, die immer noch mit dem Ruch der Illegitimität behaftet war, kraft seines hohen Ansehens als Gelehrter einen ganz besonderen Rang als Gesinnungs-Dokument zugesprochen. lässt sich das verifizieren?

Man muss wissen: Goethe unternahm 1797 seine nunmehr dritte Reise in die Schweiz keineswegs, um wieder einmal das schöne Land zu besuchen. Die Reise musste gewissermaßen herhalten als psychologischer Schlusspunkt eines Dramas, das - von der Goethe-Biographik so gut wie nie beachtet -soeben zu Ende gegangen war. Es handelt sich um eine seit mehreren Jahren mit großem Einsatz vorbereitete, mit den höchsten Hoffnungen verbundene - geplante - zweite große Reise Goethes nach Italien, die der wissenschaftlichen Dokumentation seiner unvergleichlichen Idealvorstellung von Italien hätte dienen sollen. Sie musste abgesagt werden - und zwar für immer. Sämtliche Unterlagen der jahrelangen Vor-Arbeiten blieben jedoch in Goethes Archiv erhalten: der umfangreiche Briefwechsel zwischen Goethe und dem Maler Heinrich Meyer, der sich in Goethes Auftrag bereits seit 1795 in Italien aufhielt, sowie Goethes Aufzeichnungen über seine eigenen Studien - die eindrucksvollen Bruchstücke eines monumentalen Ideengebäudes: Goethes Traum - Italiens Apotheose.

Entstehen sollte die umfassende Darstellung, das Panorama der einzigartigen Idealität Italiens, in dem alles mit allem durch das Medium seiner Kunst zu klassischer Einheit verbunden war - Natur, Kunst, Geschichte. Wenn es so gelungen wäre, wie Goethes Vision es vorsah - zumindest der Goethe‘sche Teil - besäße Italien heute womöglich ein Nationaldenkmal aus deutscher Hand, vorausgesetzt, Goethe hätte seine rund zwei Jahre lang theoretisch vorbereiteten Pläne verwirklichen und zur Vollendung bringen können. Da Goethes Briefpartner Meyer nicht nur Maler, sondern auch Kunstgeschichtler war, dreht sich in seinen wie in Goethes Briefen naturgemäß alles um Malerei, Bildhauerei, Architektur - und zwar ausschließlich unter dem Patronat der damaligen Zeitströmung “Klassizismus”. Man darf annehmen, dass Kunst und Kunstwerke das alles verbindende Herzstück von Goethes Italienprojekt gewesen sind.

So ist - durch diesen Briefwechsel dokumentiert - Vokabular und Geist des Klassizismus die Haupt-Erbschaft, vielmehr die Haupt-Erblast des Italien-Projekts mit seinen Stichworten: Ordnung, Regelhaftigkeit, Gesetzmäßigkeit, Ebenmaß, Harmonie, Proportion, das makellos Schöne in der Kunst -und die Beurteilbarkeit, ja, Herstellbarkeit von Kunst mittels Lehren und Erlernen eindeutiger Regeln. Diese Regeln sind gleichsam das Arkanum, nach dem Goethe in seiner klassizistischen Lebensphase auf der Suche war und das er nirgendwo anders als in Italien zu finden hoffte. Die Kunst “der Alten” ist ihm inzwischen zu einer Art Kunst-Religion geworden - und er selbst zum Missionar, ja, zu ihrem Apostel. Unter dieser Prämisse befand sich Goethes Mitarbeiter, der Maler und Kunstgelehrte Heinrich Meyer, schon seit Herbst 1795 in Italien. Sein Ressort: Kunst und ihre Geschichte.

Ein Jahr lang bearbeitete er in Rom und ein weiteres Jahr in Florenz herausragende Kunstwerke stichwortartig beschreibend nach der von Goethe vorgedachten, tabellarischen Methode - indessen er je länger desto schmerzlicher darauf wartete, dass der durch die Kriegsereignisse immer wieder verhinderte Goethe endlich höchstselbst in Italien erscheinen würde, um vor Ort sein eigenes, weitaus umfassenderes Programm abzuwickeln. Goethe indes wurde ein Opfer der Folgen der Französischen Revolution, respektive des derzeitigen Hauptdarstellers auf der politischen Bühne: Napoleon eroberte erst Oberitalien, später Rom, ließ eine Menge bedeutender Kunstschätze nach Paris abschleppen - und machte Goethe auch in dieser Hinsicht einen Strich durch die Rechnung. Das Projekt Italien - ein Projekt ganz im Geiste des Klassizismus - immer wieder in Frage gestellt, aber bis zum letzten Moment am Tropf der Hoffnung hangend, wurde endlich im Sommer 1797 endgültig aufgegeben und landete im Papierkorb der Literaturgeschichte unter dem Titel

“Vorbereitung zur zweiten Reise nach Italien.1795. 1796”,

Material, das - in der gelehrten Diktion Suphans

“ALS EIGENARTIGES PARALIPOMENON3 MEHR DER GANZEN EPOCHE ALS EINES EINZELNEN WERKES HIER AN DIE ÖFFENTLICHKEIT GELANGT”.

Denn wirklich verkörpert dieser zwischen Goethe und Meyer brieflich hin- und hergehende Diskurs über Kunst, in den auch immer wieder Schiller einbezogen wird, geradezu paradigmatisch die Ideen, ja, die Ideologie des Klassizismus: jenes Bildungsideals, das in dieser Epoche nicht nur Goethe leidenschaftlich bewegte. Wobei er sie im Werk und als Person verinnerlicht hat und sich in einer Rolle gefiel, die alles Ungeordnete, Aggressive, Chaotische, Pathologische in Kunst und Leben kategorisch ablehnte. dass man die Ideale des Klassizismus auch leben kann, beweisen Goethes mittlere und späte 1790er Jahre. Ein Zeugnis dieser “klassizistischen” Lebensart liefert die Reise in die Schweiz des Jahres 1797, die damit hinter die phantastischen italienischen Träume einen definitiven Schlusspunkt setzt. Davon handelt dieses Buch.

Meyer hatte sich Mitte 1797 krank und depressiv nach der Schweiz in seinen Heimatort Stäfa am Züricher See abgesetzt. Jetzt kannte Goethe nur noch ein Ziel: seinen Meyer in die Arme zu schließen, sich mit ihm endlich in persona über ihrer beider Vorstellungen von Kunst auszutauschen.

So also kam es zu Goethes Reise in die Schweiz. Fortan obsiegte notgedrungen die Kunst-Theorie über die Kunst-Anschauung - sprich: die Theorie über die Kunst.

1 Am 25.Oktober 1823 schreibt Eckermann: “Wir sprachen darauf dies und jenes über vorhabende Arbeiten. Es war die Rede von seiner Reise über Frankfurt und Stuttgart nach der Schweiz, die er in drei Heften liegen hat und die er mir zusenden will, damit ich die Einzelheiten lese und Vorschläge tue, wie daraus ein Ganzes zu machen.”

Vom 23.Dezember 1823 berichtet Eckermann: “Abends mit Goethe allein in allerlei Gesprächen. Er sagte mir, dass...

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