Buch I
„Eine Glorifizierung eines Krieges ist eine Glorifizierung des Leides, der Mordlust, der Zerstörung. Manche Kriege, jedoch, sind unentbehrlich, besonders der innere Krieg mit sich selbst.“
Leutnant Georg Steingarten
Kapitel I
Angriff
Ein kalter blasser Mond schien am nächtlichen Firmament. Dunkelgraue Wolkenfetzen zogen rastlos über die Stellungen hinweg und eine beklemmende Stille hatte das Schlachtfeld umgeben. Trotz der Stille lag eine unerträgliche Spannung, ausgelöst durch eine unausgesprochene Vorahnung auf die bevorstehenden Ereignisse bei Tagesanbruch, in der frühsommerlichen Luft. In wenigen Stunden wird sich eine tödliche Macht entfesseln und einen vernichtenden Feuersturm entfachen. Am Morgen wird ein zerstörender Artilleriebeschuss gegen die feindlichen Stellungen den Tag einläuten, dem dann ein Sturmangriff folgen wird.
Jene, die dazu verdammt waren, die Hölle von Verdun von Anbeginn mitzuerleben, hatten schon viele schlaflose Nächte vor Sturmangriffen durchlebt. Längst hatten wir die Furcht vor dem Tode abgelegt – man nannte uns an der Front die „Alten“– denn keiner, der nicht schon monatelang im Kampf gestanden war, machte sich noch eine große Hoffnung, diesen Krieg zu überleben. Man lebte von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, Minute zu Minute. Das Leben war billig geworden. Im nächsten Augenblick konnte eine Granate oder die Kugel eines Scharfschützen ein Menschenleben beenden. Viele Male waren wir durch das Niemandsland mit gezogenem Bajonett gestürmt, hatten einen Hagel von Maschinengewehr und Artillerie über uns ergehen lassen, und nach jeder Kampfhandlung hatten wir viele Kameraden in der Hölle zurückgelassen. Auf unsere Angriffe waren Gegenangriffe der Franzosen gefolgt, die erbittert ihre Heimaterde verteidigten, zumal Verdun, wenngleich es nicht der strategisch wichtigste Ort gewesen war, doch für die Kriegsmoral Frankreichs eine wichtige Rolle spielte.
So lag ich im Schützengraben unseres Zuges in dieser Nacht und wartete auf den Sturmbefehl, der um sieben Uhr folgen soll. Kurz nach Anbeginn der ersten Offensive war ich als frischer Leutnant aus der Kriegsschule an diesen kahlen, desolaten Abschnitt bei Verdun versetzt worden. Hier war meine jugendliche Kriegsbegeisterung sehr schnell vergangen, nachdem ich Zeuge der Grausamkeiten in meiner ersten Schlacht geworden war. Anfangs hatte ich noch Mitleid und zeigte bodenlose Fassungslosigkeit aufgrund des unsäglichen Leids, das die Menschheit sich gegenseitig zufügt, aber sehr bald, viel zu schnell und übergangslos war mein Gemüt bald regungslos geworden.
Zu Kriegsbeginn hatte ich mein begonnenes Studium abgebrochen, um meinem Vaterland dienen zu dürfen. Vorerst wurde ich auf einer Kriegsschule zum Leutnant herangebildet, denn man glaubte, in mir ein Führungstalent gesehen zu haben. Nach der Ausbildung konnte ich mein brennendes Verlangen an dem großen Krieg teilhaben zu dürfen, endlich stillen. Die jungen Männer dieser Zeit hatten das Soldatendasein, den Krieg und die Schlachten mit einer aus den alten Kriegen übertragenen Romantik verbunden, eine Romantik, die ich auch erleben wollte. Was bedeutete schließlich der Krieg für einen naiven, jungen Mann? Kampf, Männlichkeit, Ehre und Auszeichnung? Im Grunde dankte ich doch den Sternen, dass ich schnell das wahre Gesicht des Krieges kennengelernt hatte: Leid, Entbehrung, Verstümmelung, Hunger, Durst, Ratten, Verwesung, Gleichgültigkeit, Verrohung und Entmenschlichung. Die diesen Attributen entgegengestellte Alternative des eigenen Todes hatte ich in den vergangenen Monaten oft als Erlösung, als Ende der Geißelung herbeigesehnt. Diese Gedanken und der allgegenwärtige Alb des Todes wogen schwer auf meiner Brust.
Es war eine dunkle Nacht. Ich rauchte im Graben liegend, eine Zigarette nach der anderen, als könne ich auf diese Weise die bösen Geister aus mir vertreiben, die in meinem Gemüt ihr Unwesen trieben. Aber auch der Rauch konnte den immerwährenden Verwesungsgeruch nicht verbergen. Die zunehmend wärmeren Tage und laueren Nächte hatten den Verwesungsprozess der vielen nicht begrabenen Leichen im Niemandsland beschleunigt. Im Laufe der Zeit war der penetrante Geruch in alle Dinge gedrungen, sogar in die Seele. Dieser tödliche Gestank war allgegenwärtig; er war immer da. Er begleitete uns in den Kampf, ins Hinterland, in die Traumwelt. Auf ihn konnte man sich verlassen. Am Ende konnte er sich immer an einer reichen Ernte an jungem Blut erfreuen.
Im Schutz der Dunkelheit arbeiteten lautlos die Pioniere an dem Stacheldrahtverhau vor unseren Stellungen, damit wir zur gegebenen Angriffsstunde schnell und ungehindert unsere Position verlassen können. Alles musste lautlos geschehen, denn die Pioniere befanden sich auf offenem Feld und wären für die feindlichen Scharfschützen eine leichte Beute geworden. In den Schützengräben und in den Bunkern beschäftigten sich die meisten Soldaten mit dem Reinigen ihre Waffen oder überprüften sich ihre Ausrüstung. Jedermann war einer Beschäftigung nachgegangen, denn keiner wollte in dieser Stunde tatenlos über die bevorstehende Schlacht grübeln. Nur die neuen Rekruten, die Grünen, die Jungen hatten keine Vorstellung von dem bevorstehenden Horror menschlicher Vernichtungswut. Sie hatten noch keine Schlacht erlebt, keinen Menschen getötet, hatten noch nicht erleben müssen, wie vor ihren Augen ihr bester Kamerad zerfetzt wurde. Sie lebten in einer illusorischen Gedankenwelt, geprägt von Ruhm, Ehre und Sieg, strammer Marschmusik, Stolz und den lieblichen ehrfürchtigen Augen der jungen Mädchen. Die „Alten“, die kampferfahrenen Männer, hatten sich an die kalte Wahrheit des Krieges vor langer Zeit gewöhnt. Daher machten sie sich auch keine falschen Hoffnungen und jeder dieser fronterfahrenen Männer hatte somit seine eigenen Methoden entwickelt, um bis zum Zeitpunkt des Kampfes seine Gedanken abzulenken.
„In dieser Schlacht sollte auch mein jüngerer Bruder Stefan teilnehmen“, dachte ich, als ich eine neue Zigarette anzündete. Er hatte vor kurzer Zeit sein Notabitur bestanden und meldete sich zum Kampf für Kaiser und Vaterland, um dem großen „Unrecht“ der Entente entgegenwirken zu können. Er war mit 18 Jahren noch ein Kind mit naiven Vorstellungen. Diese Romanisierung des Krieges war meist nach der ersten Schlacht in diesen jungen Kriegern verschwunden. Alle Erlebnisse hatten sich in das junge Gedankenleben eingeätzt und sie lernten schnell, welch ein Teufelswerk der Krieg letztendlich war.
Die alten Kämpfer hatten den Eifer der jungen Nachwuchsrekruten und ihren Drang, sich in einer Schlacht heroisch auszuzeichnen, erkannt und versuchten, den enthusiastischen Ausguss der Jungen etwas zu dämpfen.
Seit seiner Ankunft hatte der Umstand, dass mein junger Bruder auch an dieser Schlacht teilnehmen werde und ich nichts tun konnte, um ihn zu schützen, an meinem Gemüt gezehrt. Die Vorschriften hatten es nicht erlaubt, meinen Bruder in unserem Zug oder der Abteilung unterzubringen, so wurde er in einen anderen Abschnitt verlegt. Auch hatte ich versucht, ihn in die relative Sicherheit des Hinterlandes versetzen zu lassen. Leider war da nichts zu machen. Nichts hatte ich tun können, als dem Schicksal seinen Lauf zu gewähren, zu hoffen, zu bitten und die Gunst Gottes zu erflehen! Gab es denn noch einen Gott hier in der Hölle auf Erden? Warum ließ ein guter Gott all dies zu? Aber dennoch betete jeder. Jeder bat Gott insgeheim, sein Leben zu behüten. Ich bat in dieser Nacht um das Leben meines Bruders, wobei ich hinauf zum bewölkten Himmel blickte. Ich wusste gar nicht mehr, was ein Gebet war. Hier hatte ich mit der Zeit das Beten verlernt. Nun saß ich hier in einem Graben aus Dreck, in dieser Hölle, und stammle ein unbeholfenes Gebet einem Gott entgegen, den ich lange vergessen hatte, flehte um das Leben eines Soldaten, und bot mein eigenes Leben als Gegenopfer an.
Ruhe kehrte wieder in meinen Geist, um gleich wieder einer inneren Aufregung zu weichen. Ich zündete mir eine weitere Zigarette an und zog an ihr nervös, als sich vertraute Schritte näherten.
„Wenn’s schon so weit wäre, die ganze Sache! Das Warten macht mich noch ganz verrückt“, sprach Feldwebel Hofmeyer, mein erfahrener erster Gruppenführer.
Josef Hofmeyer war ein einfacher Mann, der jedoch im Gegensatz zu seinem Bildungsstand und Alter, eine ansehnliche Portion Lebensweisheit mit sich trug und Gefahren geschickt ausweichen konnte. In Oberbayern hatte er mit seiner Frau einen eigenen Hof und einen kleinen Sohn. Als äußerst fähiger Soldat genoss er ein großes Vertrauen unter den Männern. Er war etwa Mitte dreißig, also älter als sie meisten jungen Rekruten, etwas klein, aber kräftig gebaut, mit dichtem schwarzen Haar.
Ich sah zu ihm auf und versuchte etwas zu lächeln. „Da haben Sie recht, Josef! Man kann sich an den Sturmangriff, die Granaten und das Sterben gewöhnen, ja fast eine Gleichgültigkeit entwickeln, aber vor den Stunden einer Schlacht breitet sich ein ungutes Gefühl im Gemüt aus. Das war vor der ersten Schlacht genauso wie...