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E-Book

Erinnerungen und Reflexionen

AutorErnst Fischer
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783688105700
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Ernst Fischers Lebenskurve, die er hier mit bestechender Ehrlichkeit und präziser Objektivität nachzeichnet, ist gleichzeitig die Fieberkurve des 20. Jahrhunderts: Wir erleben den Kampf, die Irrtümer und die Verzweiflungen eines Menschen, der keineswegs auszog, seine Zeit in die Schranken zu fordern, der vielmehr ein sensibler, genießender, der Kunst und ihrer Analyse zugewandter Mann war. Aber eben aus dieser Sensibilität heraus, aus intellektueller Redlichkeit stellte er sich der Forderung seiner Zeit. Selten ist die Zeit des Untergangs der k. u. k. Welt, ist der Kampf um ein demokratisches Österreich zwischen Hitler und Mussolini so spannungsreich geschildert worden. Für eine Generation, die all dies kaum vom Hörensagen kennt, wird hier die Entwicklung eines geistigen Freischärlers zum Sozialdemokraten und zum Kommunisten als ein Stück Geschichte erzählt. Ernst Fischers Bericht von den Jahren in der Sowjetunion schließlich ist schlichtweg sensationell; es sind keine «Enthüllungen» im Sinne der namentlichen Denunziation, wenn ihm auch glänzende Porträts von Gefährten und Mitkämpfern wie Togliatti, Dimitroff oder Herbert Wehner gleichsam «unterlaufen». Aber es ist der Bericht eines unkorrumpierten, fast naiven Mannes, der Faschismus und Diktatur floh und in die Apparatur der stalinistischen Diktatur geriet, düster, fremd, nicht greifbar, kaum definierbar.

Ernst Fischer, 1899 in Komotau/Böhmen geboren; 1918 an der italienischen Front; gibt Philosophiestudium auf, um seine Familie zu ernähren, und wird Hilfsarbeiter; 1924 erscheint sein erster Gedichtband, und sein erstes Theaterstück wird am Wiener Burgtheater aufgeführt; Journalist; emigriert 1934 nach Prag, später nach Moskau; Gründer und zeitweilig Chefredakteur der Zeitung 'Neues Österreich'; 1945-1959 Abgeordneter der KPÖ im Nationalrat. Nach leidenschaftlichem Engagement für die tschechoslowakischen Reformer Ausschluß aus der KPÖ im Jahre 1970. Fischer starb 1972 in Deutschfeistritz/Steiermark. Veröffentlichte u. a. 'Lenin', Theaterstück, 1928; 'Probleme der jungen Generation', 1963; 'Was Marx wirklich sagte', 1968; 'Kunst und Koexistenz', 1966; 'Auf den Spuren der Wirklichkeit', 1968; 'Erinnerungen und Reflexionen', 1969.

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Leseprobe

Wettlauf mit dem Tod


«Das Unwahrscheinliche ist», sagte der Gast, «daß Sie leben. Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit sind Sie tot, müssen Sie tot sein.»

Der mir so gegenübersaß, war Professor Walter Laqueur, Leiter des Instituts Wiener Library in London, des antifaschistischen Archivs. Er hatte sich telefonisch angesagt, wünsche sehr, mich kennenzulernen, habe mir etwas mich Betreffendes mitzuteilen, schon seit langer Zeit, nun aber, auf Besuch in Wien, wolle er die fällige Zusammenkunft nicht länger aufschieben.

«Ich kenne Sie aus einem Geheimbericht. Er wurde 1945 im Auswärtigen Amt in Berlin aufgefunden. Ein Mikrofilm, aufbewahrt im Archiv unseres Instituts. Ein Schriftstück von ungefähr achtzig Seiten.»

«Die NSDAP …»

«Nicht die NSDAP. Es ist ein Bericht in russischer Sprache, schlechtes Russisch, ein Deutscher muß es gewesen sein, ich weiß nicht wer, kein Name. Vielleicht ein Doppelagent, Gestapo und NKWD, oder übergelaufen, in Gefangenschaft geraten, ich weiß es nicht. Greifbar ist nur das von ihm verfaßte Dokument. Er war in Moskau beauftragt, Sie zu beobachten. Seit 1936. Sein Bericht ist gründlich, pedantisch, absichtsvoll zusammengetragene Einzelheiten. Nach dem Inhalt dieses Bericht sind Sie ein Toter, ein Revenant. Der Berichterstatter kam zum Ergebnis, daß neben Palmiro Togliatti Sie der gefährlichste ausländische Intellektuelle in der Sowjetunion seien.»

Das also war es.

Zwischen den Worten Laqueurs, der weitersprach, von diesem tödlichen Dokument, das noch nicht der Tod war, der Tod, mit dem ich um die Wette lief, glitt ich zurück in Tiefen der Erinnerung, die Stimmen im Nebenzimmer, Stimmen der Ärzte, ich sei nicht zu retten, das sterbende Kind, zehn Jahre alt, die Fahrt durch Deutschland, 1936, SS, die mich weckt, den Paß nimmt, zwei Männer, wo sind Sie geboren, und mein Gedächtnis versagt, der tschechische Ort, auswendig gelernt, und immer gewußt, ich kann mir das nicht merken, und am Kaffeehaustisch der Journalist, Wichtiges mitzuteilen, wechseln Sie die Nummer Ihres Autos, man will einen Unfall arrangieren, wer? Der Mann weicht aus, arbeitet mindestens für einen, wahrscheinlich für zwei Geheimdienste, im besetzten Wien, nach 1945, und der kleine Revolver, den Anny mir gab, Perlmutter und Silber, zierlich, ein Spielzeug, an die Schläfe gedrückt, in den Mund, und das wunderliche Gespräch mit Togliatti, 1937 in Moskau, und vorher, der finstere Moskwin, was da mit Ihnen war, in Paris, werden wir genau untersuchen, und Laqueur, der mir erzählt von diesem Geheimbericht, und alles flutet durcheinander, trägt mich dahin, zieht mich hinab, ich sehe mich selbst, den anderen, der ich war, werden wir genau untersuchen, Ergebnis, nicht zu retten, trotzdem, ich lebe, Widerspruch zum Gesetz der Wahrscheinlichkeit, doch alles Leben in dieser apokalyptischen Welt ist unwahrscheinlich.

Als ich eintrat, sah ich sofort den Brief auf meinem Schreibtisch. Ich hatte tags zuvor, ehe ich das Büro verließ, meinen Arbeitsraum in der Komintern, alle Manuskripte und Bücher in der Schublade eingeschlossen. Nachts wurde kontrolliert, ob der Schreibtisch auch wirklich leer war, alle Laden versperrt. Die Laden waren versperrt. Der Schreibtisch war leer. Mitten in dieser Leere lag der Brief.

Er war an mich gerichtet, in russischen Buchstaben auf dem Kuvert, an den «Towarischtsch Ernst Fischer», nicht an Peter Wieden, wie ich in Moskau hieß.

Ich riß ihn nicht auf, sondern öffnete ihn bedachtsam. Es war, als seien in dieser unwirklichen Stille, in diesem kahlen Raum aus irgendeiner verborgenen Stelle Augen auf mich gerichtet. Das war Unsinn, aber ich hatte das vage Gefühl: Augen, Kamera-Augen. Der Absender war Gustl Deutsch, seit Monaten verhaftet. Ich hatte für ihn bei Dimitrow interveniert, erfolglos.

Gustl D. schrieb mir, in schwer entzifferbarem Gekritzel, er habe die unerwartete Gelegenheit, mir aus der Haft diesen Brief zukommen zu lassen; ein verläßlicher Freund werde ihn überbringen. Er flehte mich an, ihm zu verzeihen und seine Lage in Betracht zu ziehen. Nach wiederholter Weigerung habe er schließlich ein Geständnis unterschrieben, daß er als Spion mit mir zusammengearbeitet habe, daß ich der Verbindungsmann zu Trotzkis Frau und Sohn in Paris und zur Gestapo gewesen und mit dem Auftrag nach Moskau gekommen sei, den Diversanten in der Sowjetunion Weisungen zu übermitteln. Er habe nicht die Kraft gehabt, standzuhalten, sondern diese mein Leben gefährdenden Verleumdungen durch seine Unterschrift bestätigt. Für sein Gewissen sei es eine geringe Erleichterung, daß er mich wenigstens benachrichtigen und warnen könne; vielleicht aber würde ich, rechtzeitig gewarnt, doch einen Ausweg finden, um nicht in dieselbe Lage zu geraten wie er, möglicherweise in eine noch schlimmere.

Das also war es.

Ich las den Brief zweimal, dreimal, und nur allmählich begann mein Gehirn zu funktionieren, zwischen mir und dem Inhalt dieses Briefes irgendeinen Zusammenhang herzustellen. Zunächst hatte ich keinerlei Angst, sondern dachte nur: Dieser liebenswerte, aufrichtige, weiche Mensch – was alles mußte geschehen, um diese wahnwitzige Aussage zu erpressen? Was kann ich für ihn tun? Bis mich jäh die Frage durchfuhr: Wie ist der Brief auf meinen Schreibtisch gekommen? Welcher noch so verläßliche Freund hatte nicht nur die Möglichkeit, ihn aus dem Gefängnis oder Lager herauszuschmuggeln, sondern ihn in diesem sorgsam bewachten Gebäude auf meinen Schreibtisch zu befördern? Niemand kam in Betracht, außer einem Mann des NKWD, der Staatspolizei. Wahrscheinlich also hatte Gustl D. auch den Brief unter Druck geschrieben, und wenn nicht, auf keinen Fall war der Überbringer ein «verläßlicher Freund». Oder war, in dieser undurchsichtigen Situation, auch derlei möglich, gab es nicht auch im NKWD Menschen, die sich über unmenschliche Methoden und Vorschriften hinwegsetzen? Wer aber, wer?…

Nach dem Tode Stalins, als Agnes J., die Frau des Gustl D., aus fünfzehnjähriger Gefangenschaft zurückkehrte, und ich ihr von diesem Brief erzählte, sagte sie: «Ich bin doch froh, daß er noch die Kraft hatte, dir zu schreiben, dich zu warnen …» Sie war mit ihm konfrontiert worden, sollte dasselbe Geständnis unterschreiben, weigerte sich, und keine Mißhandlung brach ihren Widerstand. Doch ihn, so sagte sie, habe sie kaum wiedererkannt, so sehr hatten sie jede Ähnlichkeit mit sich selbst aus ihm herausgeprügelt, zu einem solchen Wrack war er reduziert. Es war die letzte Begegnung mit ihm, mit einem kaum mehr Lebenden. Er kehrte nicht zurück …

Wer hat mir den Brief zugespielt? Soll ich ihn zerreißen …? War es nicht gerade das, was ich tun sollte, nach wohlerwogenem Plan, den Brief vernichten, mich so verhalten, als habe er nie existiert …? Wo ist der Brief? Wir haben ihn doch auf Ihren Schreibtisch gelegt? Und Sie haben ihn nicht gesehen, gelesen …? Wenn ich den Brief zerriß, würden sie mich zerreißen, die dort oben, der Apparat im abgeschlossenen Trakt, zu dem man keinen Zutritt hatte, es sei denn mit besonderer Bewilligung … Die dort oben lieben Sie nicht, hatte mir Klara S. gelegentlich gesagt, für die sind Sie der Sozialdemokrat. Man nennt Sie so, wenn man von Ihnen spricht … Andererseits: mit Funktionären meiner Partei darüber sprechen …? Absurd, daran zu denken. Sie würden mir mißtrauen, oder doch dem Gezeichneten behutsam ausweichen …

Ich las den Brief aufs neue. Dann schrieb ich an den NKWD: «Beiliegend übermittle ich Ihnen einen Brief, den ich heute morgens auf meinem Schreibtisch fand. Ich bitte mich sofort einzuvernehmen, mich mit D. zu konfrontieren und mir Gelegenheit zu geben, die Verleumdung zu widerlegen.»

Damit ging ich zu Dimitrow.

Er las den Brief, schwieg, las ihn abermals, sah an mir vorbei.

«Das ist schlimm», sagte er dann. «Sehr schlimm … Was schlagen Sie vor?»

Ich gab ihm den Entwurf meines Briefes an den NKWD. «Ich bitte Sie, beide Briefe an den NKWD weiterzuleiten und, wenn irgend möglich, mit Stalin zu sprechen. Gustl D. ist bestimmt unschuldig. Ich bürge für ihn.»

«Jetzt geht es um Sie, nicht um ihn … Ich glaube, Ihr Entschluß ist richtig … Ich werde die Briefe persönlich weiterleiten … Und Sie sprechen mit keinem Menschen davon, hören Sie: mit keinem Menschen … Hoffentlich …»

Er gab mir die Hand und sah mich an, als nähme er Abschied. Freundlichkeit war in seinem Blick und Beunruhigung.

Zwei Tage später sagte er mir: «In Ihrer Sache habe ich interveniert.»

Nie wieder war von dieser Sache die Rede. Niemand fragte mich, lud mich vor, gab Antwort. Irgendwo war die Sache aufbewahrt, ad acta gelegt. Die Akten, ich weiß nicht wie schwer, haben mich nicht zermalmt. Das ist alles, was ich weiß.

Wahrscheinlich hat Dimitrow mich gerettet. Aber auch das weiß ich nicht …

Und der Geheimbericht, von dem mir Laqueur erzählte, niemals hätte ich davon gewußt, wenn nicht Hitler-Deutschland zusammengebrochen und nicht im Auswärtigen Amt in Berlin ein Mikrofilm gefunden worden wäre.

Wir leben in einer Welt der Geheimberichte. Wir sind versorgt und aufgehoben in irgendwelchen Archiven dieser undurchsichtigen Welt und irgendwann fällt irgendein Akt ins Tageslicht und irgend jemand blättert darin. Sogar das eigene Gedächtnis ist vollgestopft mit solchen Geheimberichten, die einer unserer Doppelgänger verfertigt hat, häufig in einer Geheimschrift, die nur der Traum entziffert, oder ein Name zieht hinter sich ein Knäuel verworrener...

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