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E-Book

Zum Abschied ein Fest

Die Autobiographie eines deutschen Verlegers

AutorHelmut Kindler
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl640 Seiten
ISBN9783688106424
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
In seinen Erinnerungen legt Helmut Kindler Schicht um Schicht seines Lebens frei. Prägend war für den jungen Kindler die Beschäftigung mit politischen Theaterstücken, prägend wurde die Arbeit als Schauspieler und Regieassistent für sozial- und gesellschaftskritische Bühnenstücke. Seine politische Heimat - links von der Mitte - fand er im Berlin der 20er Jahre, in der Auseinandersetzung mit dem erstarkenden Faschismus. Im Februar 1933, unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung, gab Kindler das Theater und sein Berufsziel, Regisseur zu werden, auf und begann eine Karriere als Journalist. Er arbeitete als Redakteur beim Deutschen Verlag in Berlin. Als erklärter Feind des Nationalsozialismus trat er einer Widerstandsgruppe bei, half jüdischen Mitbürgern, wurde verhaftet, kam vor den Volksgerichtshof und tauchte bald darauf ab in den Untergrund. Helmut Kindler sah in den vielseitigen Erfahrungen, die er von 1929 bis 1945 sammeln konnte, eine Lehrzeit für seine Verlegertätigkeit, erst als Zeitschriften-, dann als Buchverleger. Der wirtschaftliche Erfolg seiner Zeitschriften «Revue», «Das Schönste», «Bravo» und anderer ermöglichte es Kindler, in seinem Buchverlag jenen kritischen Autoren ein Forum zu bieten, denen er schon in den Nazijahren begegnet war, und jene großen Enzyklopädien - «Kindlers Literatur Lexikon», «Kindlers Kulturgeschichte», «Kindlers Malerei Lexikon», «Grzimeks Tierleben» und «Die Psychologie des 20. Jahrhunderts» - zu veröffentlichen, die den Namen Kindler weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt gemacht haben.

Helmut Kindler (1912-2008) war ein deutscher Verleger und Autor.

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Leseprobe

Prolog


Von der Poesie des Korbflechtens


Freilich erfahren wir erst im Alter, was uns in der Jugend begegnete.

 

Goethe

 

Es war wie das Schlußbild eines Films: eine einsame Landstraße, baumgesäumt, die auf den ersten Blick verlassen wirkte, ausgestorben, bis das Auge einen Menschen erspäht, der sich immer weiter entfernt. Es muß ein Mann sein, ein älterer Mann, der gegen Ende der Straße, da, wo die gegenüberstehenden Bäume scheinbar immer enger zusammenrücken, ins Unendliche geht – zu einem Punkt wird, der verschwindet. Wer ist dieser Mann? Sein Gesicht kann ich nicht beschreiben. Ich habe ja nicht einen Mann gesehen, sondern nur den Rücken eines Menschen, einen gebeugten Rücken, rheumagebeugt oder ischiasgebeugt, wer weiß, offenbar schmerzgebeugt.

Diesen Schmerz versuchte der Mann einzudämmen, zu lindern, erträglicher zu machen, indem er beim Gehen die rechte Hand gegen den Rücken preßte. So entschwand er meinen Augen.

Dieses verblassende Bild hatte sich meiner Netzhaut eingeprägt, als mein Vater mir, dem Zehnjährigen, seinen Großvater beschrieb, in knappen, dabei anschaulichen Worten. Also von meinem Urgroßvater ist die Rede, von meinem Urgroßvater, den ich nie gesehen habe. Als er starb, war ich noch nicht auf der Welt.

Wie gesagt, mein Vater hatte mir geschildert, wie er als Kind seinem Großvater, den er liebte, nach einem Besuch im elterlichen Haus nachgeblickt hatte, bis dieser Großvater in der Ferne verschwand. Den schmerzgeplagten Gang seines Großvaters hatte mir mein Vater, indem er von ihm sprach, mitleidend vorgemacht, andeutungsweise. Und er hatte mir seinen Großvater als charaktervolle Persönlichkeit zu schildern vermocht – mit Hilfe eines einziges Satzes, der tief in mein Knabenhirn eindrang. Mein Vater sagte zu mir: »Dein schmerzgebeugter Urgroßvater war ein aufrechter Mann.«

Es hätte meinem Vater weh getan, wenn ich bei der Vorstellung »Ein gebeugter aufrechter Mann« das Gesicht verzogen hätte. Und heute würde ich es mir übelnehmen, wenn mir diese Kennzeichnung paradox erschiene.

Ich übernehme den Satz: Mein Urgroßvater war ein gebeugter aufrechter Mann.

Was hätte er doch alles mit seiner Hand, mit der er nun so häufig den ihn quälenden Rücken zu besänftigen versuchte, zustande gebracht.

Das, was er mit seinen Händen ein Leben lang gemacht hatte, war auch seinem Sohn noch ziemlich geläufig, und der Enkel, mein Vater, versuchte, mindestens die elementaren Geheimnisse seines geliebten Handwerks zu ergründen: das Handwerk eines Korbmachers. Mein Urgroßvater hatte es sich ausgesucht. Korbflechten war eine Fähigkeit, die früher in manchen Familien auf dem Lande für eigene Bedürfnisse ausgeübt wurde. Korbwaren »haben«, lesen wir in Stifters Nachsommer, »so gut wie bedeutendere Gegenstände ihre Geschichte«. Man brauchte Wiegen für die Neugeborenen, man brauchte auch Waschkörbe, Henkelkörbe für das Einsammeln von Früchten, Futterkrippen für die Ställe, Tragkörbe für die Weinernte, Brutkörbchen für das Nisten der Hühner, vielleicht auch Bienen- oder Angler-Körbe. Natürlich verlangte Korbflechten als Beruf besondere Kunstfertigkeit.

Kürzlich habe ich in Camacha auf Madeira Korbmachern zugesehen, die im Gebirge in 700 Meter Höhe inmitten von Weidenpflanzungen arbeiteten.

Ich ließ mir sagen, daß die Weidenruten »geköpft« werden, um möglichst lange, glatte Ruten zu bekommen. Das heißt, man nimmt der Weide alle Zweige, die dann in Gestalt langer Ruten nachwachsen und eine neue Krone bilden. Wird das Köpfen Jahre hindurch wiederholt, vernarbt das obere Ende des Stammes schließlich, und der Baum wird zur »Kopfweide«.

Überwältigend war die Vielfalt der Handarbeiten, die ich sah, von kleinen, grazil geflochtenen Schachteln und Körbchen bis zu herrlichen Korbsesseln, bewundernswert der Motivreichtum der Muster, schmückend, zierend, dekorativ: geometrische Ornamente, geschwungene Leisten, Mäanderformen, Girlanden, Gitterdekore, stilisierte Blätter, Rankenwerk und Rosetten, teppichartige Wirkungen voller überraschender Einfälle. Ich sah in Camacha, daß die geschmeidigen Weidenzweige geschält oder ungeschält verarbeitet werden. Will man sie schälen, so zieht man sie im frischen Zustand durch eine elastische hölzerne oder eiserne Zange und löst die geplatzte Rinde mit den Händen ab. Nach dem Schälen werden die Ruten an der Luft und Sonne möglichst schnell getrocknet. Zu ganz feinen Arbeiten spaltet man die Ruten in drei oder vier Schienen. Dies geschieht mit dem Reißer, einem etwas kegelförmig gedrechselten Stück von hartem Holz, welches von der Mitte bis an das obere dünne Ende so ausgeschnitten ist, daß es drei oder vier keilförmige, wie Strahlen von einem Mittelpunkt auslaufende Schneiden bildet. Zur Verwandlung der dreiseitigen Spaltstücke in glatte Schienen zieht man sie wiederholt durch den Korbmacherhobel und dann durch den Schmaler, um die Seitenkanten zu beschneiden und alle Schienen gleich breit zu machen. Beim Flechten selbst fertigt man zuerst den Boden des Korbes und dann die Seitenwände. Dies geschieht auf einem einfachen Gestell, der Maschine, auf welcher der Boden befestigt wird. Eckige Körbe werden über hölzernen Formen geflochten.

Der Beruf des Korbmachers ist selten geworden. Im Tessin dürfte es nur noch drei oder vier Leute geben, die Körbe flechten. Und auch in Graubünden, wo einst Obersaxen als Hochburg der Korbflechterei galt, setzt sich das Erbe nicht auf die Jugend fort. Heute hat sich die Industrie der Produktion von Korbmöbeln angenommen, und Designer entwerfen einfallsreiche Modelle.

Mein Großvater, der die Korbmacherei im Gegensatz zu seinem Vater auch nur noch nebenher, man könnte sagen zum Vergnügen ausübte, konnte Sinn und Bedeutung dieses Handwerks lediglich in einfachen Worten ausdrücken. So sagte er zum Beispiel: »Das Korbflechten stärkt Geist und Seele.« Er empfand Genugtuung an einer Beschäftigung, die einem Menschen Phantasie, Fingerfertigkeit und Konzentration abverlangt. »Ist dieser Korb nicht nützlich und schön?« begann mein Großvater das Gespräch, wenn er aus der reichhaltigen Sammlung seines Vaters ein besonders gelungenes Stück entnahm und der komplizierten Verschlingung und Verschränkung des Flechtmaterials mit dem Zeigefinger nachspürte. Bewundernd verwies mein Großvater auf die Korbböden: kreisförmige, spiralenförmige, sternförmige, strahlenförmige. Ich habe damals nur ein begrenztes Interesse für die Kostbarkeiten aus dem reichhaltigen Sortiment aufgebracht. Aber wahrgenommen habe ich sie doch. So sehe ich in der Erinnerung einen Torten- und Kuchenständer mit drei Stockwerken vor mir, der nur bei festlichen Gelegenheiten benutzt wurde. Meine Großmutter wachte über all die Korbwaren, staubte sie täglich sorgfältig ab. Den überlieferten Schaukelstuhl, in dem mein Großvater abends die Zeitung las, überließ er mir, seinem Enkelsohn, wenn ich in den Ferien zu Besuch kam. Mein Großvater wußte natürlich mehr von seinem Vater zu erzählen als mein Vater von seinem Großvater. Demnach hatten meine Urgroßeltern ein kleines Anwesen in Langenöls und nahe dem Haus zwei Morgen Land gepachtet mit einem Roggen- und einem Zuckerrübenfeld. Das Roggenfeld lieferte meinem Urgroßvater das Stroh für einfachere Flechtwaren, aber auch für Wassereimer – Wassereimer aus Stroh, deren Böden und Seitenflächen mit Harz abgedichtet wurden. Das Zuckerrübenfeld war meinem Urgroßvater willkommen, weil es seiner Meinung nach den besten Grund für eine kleine Weidenplantage abgab, die er mit großen Mühen anlegte und Jahr für Jahr hegte und pflegte. Puschkin widmet eines seiner Gedichte der Weide: »Und voller Dank hat sie mit mir gelebt,/Um, wenn ich schlaflos lag, mit Trauerzweigen/Sich mir, Träume fächelnd, herzuneigen.« (Aus dem Russischen von Urs Heftrich.) Schließlich ist die Weide das edelste Gewächs in den Händen eines Korbmachers. »Die Weide biegt sich – aber brechen tut sie nicht«, zitierte mein Großvater meinen Urgroßvater. Die Weide wird als Königin unter den Flechtpflanzen bezeichnet. Ja, mein Urgroßvater soll nicht davon abzubringen gewesen sein, zu betonen, daß von der Weide besondere Kräfte ausgehen. Flechtarbeiten aus Weiden hätten, so meinte er, eine heilende Ausstrahlung. Was er nicht wußte: Weide heißt lateinisch salix.

Tatsächlich wird von der Weide Salicyl gewonnen, ein Mittel, das Schutz gegen Pilze und Bakterien bietet. Wenn junge Hunde an den Hundekörben knabbern, bleiben sie von der kaum heilbaren Staupe für ihr ganzes Leben verschont.

 

Den im Phantasiefilm sich entfernenden Großvater habe ich in meinem späteren Leben noch einige Male vor meinem inneren Auge gesehen. Als Verleger machten meine Frau und ich 1970 die Bekanntschaft einer Autorin, Isabella Bielicki, auf die wir durch einen Beitrag in der von Alexander Mitscherlich herausgegebenen Zeitschrift »Psyche« aufmerksam geworden waren. Er befaßte sich mit pädagogischen Fragen aus psychotherapeutischer Sicht und war von seltener Klarheit. In dem Artikel war auch davon die Rede, welche Rolle Großeltern zukommt. Ich fühlte mich angesprochen. Erstens, weil meine Frau mich mit ihren langjährigen tiefenpsychologischen Studien angesteckt hatte; zweitens als Verleger, den die Autorin des Beitrags interessierte; drittens als Großvater, der am Leben seiner Enkel teilnehmen wollte. Es kam zu einem Briefwechsel, danach zu einem Besuch bei der Verfasserin in Mainz, die gerade im Begriff war, sich dort als Kinderärztin niederzulassen. Kurz zuvor war sie mit ihrem Mann, einem Psychiater, und den Söhnen aus Warschau in die Bundesrepublik übersiedelt. Die Familie, jüdischer Herkunft,...

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