Analytische Ethik
1 Zum Begriff. Die analytische Ethik (a. E.) ist eine bestimmte, durch ihr methodisches Vorgehen charakterisierte Richtung in der Ethik: Die a. E. zielt auf methodisch sauber gewonnene, klare und zu einer systematischen Theorie verbundene Erkenntnisse.
Näherhin zielt die a. E. in methodischer Hinsicht zum einen auf Erkenntnisse, die erkenntnistheoretischen Qualitätsstandards genügen und dadurch möglichst wahr sind. Dies erfordert (mindestens) dreierlei. (i) Die behaupteten Propositionen müssen klar und verständlich sein, damit sie überhaupt wahrheitsfähig und verifizierbar sind. Diese Verständlichkeit wird u. a. durch die Verwendung allgemein bekannter und in ihrer Bedeutung klarer Termini oder präzise Definition neuer Termini erreicht. (ii) Die Behauptungen müssen mit intersubjektiv nachvollziehbaren Methoden gewonnen werden, entweder durch direkte Verifikation, die den in der Behauptung implizit enthaltenen Verifikationsregeln folgt, oder durch indirekte Erkenntnis anhand anderer effektiver und erkenntnistheoretisch anerkannter Erkenntnisverfahren – z. B. deduktive oder induktive Ableitung, probabilistische Schlüsse, Rekurs auf Informanten oder Experten, Einsatz entscheidungstheoretischer Kalküle. Ein solches Vorgehen sichert den Erkenntnischarakter der Behauptung und damit die Wahrheit oder wenigstens Wahrscheinlichkeit oder Wahrheitsähnlichkeit der Behauptung. (iii) Die Behauptungen müssen argumentativ begründet werden derart, dass die methodische Erkenntnis für andere Personen nachvollziehbar und wiederholbar ist.
Zum anderen zielt die a. E. in methodischer Hinsicht auf zu Theorien verbundene, kohärente Systeme von Erkenntnissen. Dies erfordert u. a., dass, wenn nötig, eine eigene Terminologie der theoretisch zentralen Termini eingeführt wird, dass die zentralen Thesen der Theorie möglichst in eine axiomatische Anordnung gebracht werden (mit von einander unabhängigen Axiomen und aus ihnen abgeleiteten Theoremen), dass die Axiomensysteme möglichst einfach sind und dass Axiome und Theoreme insgesamt doch vollständig sind, also alle Fragen der Disziplin beantworten können. Vorteile solch einer Theoretizität sind u. a., dass alle Fragen der Disziplin beantwortet werden, dass Einzelantworten nicht bloß deshalb plausibel erscheinen, weil sie nicht mit Antworten auf andere Fragen zusammengebracht werden, dass eine gewisse Ökonomie der Erkenntnisse erreicht wird: Relativ wenige Axiome, aus denen schnell neue Theoreme abgeleitet werden können, genügen.
Die a. E. grenzt sich damit ab von Ethiken, die sich in dunklen Behauptungen gefallen, bloße Meinungen darlegen, sich auf undurchsichtige Quellen berufen, nur apodiktisch behaupten oder unzusammenhängende Einzelerkenntnisse hochhalten. Allerdings sind die soeben aufgezählten Desiderate auch für die a. E. nur Ideale, die leider meist nicht vollständig erreicht oder von manchen analytischen Ethikern auch nicht zur Gänze geteilt werden. Aus diesen Gründen sind auch die Grenzen zwischen analytischer und nichtanalytischer Ethik fließend; und man kann zwischen harten, eher idealtypischen analytischen Ethikern, die viele dieser Ideale erreichen, und weicheren unterscheiden, die dies nicht tun.
Die a. E. ist derjenige Teil der analytischen Philosophie, der deren Methodik auf die Fragen der Ethik anwendet. Entsprechend den Gebieten und Unterdisziplinen der Ethik, versucht sie, auf der Ebene der materialen Erkenntnisse, (i) den Sinn und das Wesen der Moral, (ii) die Grundlagen und Quellen moralischer Prinzipien (insbes. auch die Ontologie der Moral), (iii) die moralischen Prinzipien selbst und (iv) moralisch adäquate Antworten auf speziellere, angewandt ethische Entscheidungsfragen zu ermitteln. Wegen der gewünschten Methodik sollte die Reihenfolge der gerade genannten Erkenntnisse auch einer Begründungsreihenfolge entsprechen: Der Sinn der Moral sollte die Grundlagen und Quellen der Moral bestimmen (helfen); aus den Quellen der Moral sollten sich stringent die moralischen Prinzipien ergeben; und die Anwendung der Prinzipien auf spezielle oder typische Fälle sollte die Antwort auf die einzelnen Entscheidungsfragen liefern. Wegen der eingangs genannten methodischen Ansprüche stellt die a. E. diesen materialen Erkenntnissen aber noch eine Reihe metatheoretischer Erkenntnisse, also metaethischer Überlegungen (Metaethik) und Disziplinen voran, im Idealfall folgende: (v) i. w. S. wissenschaftstheoretische Untersuchungen zu den Zielen der Ethik als Wissenschaft und zum Theorietyp der Ethik, (vi) zu ihrer Methodik sowie (vii), moralsemantisch, zur Bedeutung der Moralsprache (inklusive Untersuchungen zur deontischen Logik).
Während die analytisch-ethischen Untersuchungen zu Zielen, Theorietyp und Methodik der materialen Ethik in der gegenwärtigen Diskussion relativ vernachlässigt werden, ist die, manchmal exzessiv betriebene, Moralsemantik für viele zum Synonym für a. E. geworden. Zum einen ist die Moralsemantik in der a. E. aber keine Selbstzweck, sondern ihr Sinn ist hauptsächlich instrumentell, nämlich erkenntnistheoretisch: Wenn man die genaue Bedeutung von sprachlich formulierten moralischen Prinzipien kennt, dann ist dies zumindest ein Ansatz für die Begründung solcher Prinzipien. Denn angenommen, die Prinzipien sind wahrheitsfähig (Kognitivismus/Nonkognitivismus), dann müsste die genaue Bedeutung solcher Prinzipien auch deren Wahrheitsbedingungen enthalten, mithin die Bedingungen für ihre direkte Verifikation. Wenn sie nicht wahrheitsfähig sind, dann folgt daraus schon, dass sie nicht durch Verifikation begründet werden können; ihre Bedeutungsanalyse liefert dann – abgesehen von dieser Information, die Konfusion zu vermeiden hilft – möglicherweise die Wissensvoraussetzungen dafür, wie sie vielleicht in anderer Form begründet werden können. Zum anderen hat die Moralsemantik in unterschiedlichen analytisch-ethischen Ansätzen auch einen sehr unterschiedlichen Stellenwert. Sie hat einen relativ großen Stellenwert für reperiente Ethiken, die die Moral als vorgegeben und als nur aufzufindende ansehen (wie z. B. im ethischen Realismus oder in einem starken, Mooreschen Intuitionismus); sie haben hingegen einen vergleichsweise geringen Stellenwert für konstruktivistische Ethiken (wie etwa der Kontraktualismus), die annehmen, Moral sei ein menschliches Konstrukt. Denn nach konstruktivistischen Ethiken ist auch die Moralsprache von Menschen konstruiert; und im Zweifelsfall werden die moralsprachlichen Ausdrücke einfach gemäß den theoretischen Erfordernissen definiert. Gemäß dieser Begriffsbestimmung ist die a. E. also (entgegen manchen Behauptungen1) nicht identisch mit einer speziellen Unterdisziplin der Ethik, wie der Metaethik oder, noch enger, der Moralsemantik, oder ein besonderer Ansatz innerhalb dieser Unterdisziplinen, sondern eben ein allgemeiner ethischer Ansatz, der alle Themen der Ethik behandelt – auch wenn Untersuchungen zur Moralsemantik und allgemein zur Metaethik in der a. E. sicher überproportional vertreten sind. Und da die a. E. ein bestimmter methodischer Ansatz in der Ethik ist, ist sie auch nicht per definitionem auf bestimmte materialethische Positionen, wie z. B. den Utilitarismus, festgelegt. Der Utilitarismus ist zwar historisch relativ eng mit der a. E. verbunden; aber heute sind sicher die meisten analytischen Ethiker keine Utilitaristen.
2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte
D. Hume hat seine materialen Ausführungen zur Ethik massiv mit Reflexionen zur Begründbarkeit der Moral verbunden und eine streng methodische und argumentative Vorgehensweise von der Theoretischen Philosophie auf die Ethik übertragen. Er ist dadurch der Ahnherr der a. E. Hume hat wichtige Grundsätze der ethischen Methodik formuliert, insbes. das Humesche Gesetz, dass aus Aussagen über ein Sein alleine keine Aussagen über ein Sollen folgen (Sein-Sollen-Problem).2 (Dieses Gesetz muss zwar nach dem heutigen Stand der Logik präzisiert werden, etwa so: Aus Propositionen ohne moralische Prädikate folgen keine nichttrivialen Propositionen mit moralischen Prädikaten. Aber die Grundidee des Gesetzes ist richtig.) Seine emotivistische Theorie zu den Grundlagen der Moral, dass die moralischen Unterscheidungen nicht aus der Vernunft stammen, also nicht wahrheitsfähig sind, sondern aus den Affekten3, insbes. dem Wohlwollen bei uninteressierter Betrachtung4, ist nicht nur der Vorläufer einer emotivistischen Semantik moralsprachlicher Ausdrücke (Hume selbst hat keine entsprechende Semantik entwickelt, sondern erkenntnistheoretische und psychologische Thesen aufgestellt), sondern auch der Anstoß für eine naturalistische (Naturalismus) Konzeption von Ethik: Hume sieht keine Möglichkeit einer Begründung moralischer Prinzipien, sondern stellt die Erklärung der moralischen Phänomene an deren Stelle. Von der materialen Ethik bleiben dann nur noch die Klärung des Sinns und Wesens der Moral sowie der Grundlagen und Quellen moralischer Prinzipien; eine normative Lehre der moralischen Prinzipien selbst sowie ihre Anwendungen, mithin den traditionelle Kern der Ethik, gibt es nicht mehr; es handelt sich nur noch um eine Ethik i. w. S. Viele spätere Autoren sind diesen Linien Humes gefolgt; andere haben aber auch Stücke aus Humes naturalistischen Erklärungen von Moral für die...