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Laura unter den Wipfeln und der Prinzipal Tod

Goethes und Schillers Weltsicht in Gedichten aus den Jahren 1780 bis 1782

AutorDoris Claudia Mandel
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783744811415
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Das vorliegende Buch vereint zwei Essays, die sich beide damit befassen, inwieweit sich in ausgewählten Gedichten die jeweilige Weltsicht ihrer Autoren widerspiegelt. Im ersten wird Johann Wolfgang Goethes Gedicht "Wanderers Nachtlied II" ("Ein Gleiches") von 1780 sowohl in seiner Entstehungs-, als in seiner Wirkungsgeschichte gründlich unter die Lupe genommen, wobei auch phonologische Untersuchungen nicht ausgespart bleiben, im zweiten gilt die Aufmerksamkeit den Laura-Gedichten aus der "Anthologie auf das Jahr 1782" von Friedrich Schiller und ihrer Verzahnung mit dem philosophischen Prinzip der "Mittelkraft". Aus den unterschiedlichen denkerischen Ansätzen der beiden Dichter, aus ihren voneinander verschiedenen Lebenserfahrungen, aber auch aus der zeitlichen Nähe der behandelten Texte zueinander bezieht die Zusammenstellung der Essays ihren Reiz, nicht zuletzt, weil der "Prinzipal Tod" - das eine Mal als ein eher von außen in den Text hinein getragenes Deutungselement, das andere Mal als Bestandteil der Widmung - in beiden Fällen eine konstruktive Rolle zu spielen scheint.

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Leseprobe

IDYLLE ODER GEMETZEL?


Das Gedicht tritt erstmals am 6. September 1780 nach Sonnenuntergang in die Literaturgeschichte ein, als Goethe es, einunddreißigjährig, mit Bleistift auf die Bretterwand einer Jagdhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau, dem »höchsten Berg des Reviers«, kritzelt. Ein Indiz dafür, dass dies wirklich geschehen ist, liefert ein Tagebucheintrag Karl Ludwig von Knebels vom 7. Oktober 1780, in dem es heißt: »Morgens schön. Mond. Goethens Verse. Mit dem Herzog auf die Pürsch [...] Die Nacht wieder auf dem Gickelhahn23 Ob jener Text mit dem auf uns überlieferten identisch war, wissen wir nicht, da die Originalhandschrift zerstört wurde. »Zwei frühe Abschriften (oder Mitschriften) von Herder und Luise von Göchhausen haben in Vers 1: Über allen Gefilden und in Vers 6: Die Vögel. Dies wird allgemein als authentische Früh- oder Erstfassung angesehen. Die 1869 fotografierte Handschrift auf der Bretterwand hat ebenfalls Vögel und nicht Vögelein, andererseits bereits Gipfeln in Vers 1. Das mag jedoch erst bei späteren Erneuerungen und Übermalungen, die Goethe selbst oder wohlmeinende Besucher im Lauf der Jahrzehnte an der verblassenden Handschrift in der Hütte vorgenommen haben, ein ursprüngliches Gefilden ersetzt haben24 Eine erste gedruckte, aber keineswegs autorisierte Veröffentlichung erfolgte 1800 durch Joseph Rückert im Heft 3 der Altonaer Zeitschrift »DER GENIUS DER ZEIT« im Rahmen seiner »BEMERKUNGEN ÜBER WEIMAR: 1799«, und zwar mit wesentlichen Abweichungen von der uns heute bekannten Gestalt. So heißt es am Schluss »schläfst du auch«, was zumindest einige der Cosmos-Menschheit-Interpreten verstimmt gehabt haben dürfte. Als nächster gab Kotzebue das Gedicht am 20. Mai 1803 in seiner Berliner Zeitung »DER FREIMÜTHIGE« heraus, wobei er die »Vögel« in »Vöglein« verwandelte. Zwischen Buchdeckel gepresst wurde das »NACHTLLIED« allerdings erst fünfunddreißig Jahre nach seinem Entstehen, im ersten Band der von Goethe autorisierten Gesamtausgabe seiner Werke von 1815, da war der Dichter bereits sechsundsechzig Jahre alt, und wir dürfen uns wundern, dass er dermaßen lange gewartet hat. Beinahe zu lange, denn bei einem späteren Besuch auf dem Kickelhahn kurz vor seinem letzten Geburtstag erinnerte sich der Meister schon gar nicht mehr an die näheren Entstehungsumstände und nahm fälschlich an, er hätte das Gedicht am 7. September 1783 an die Wand gekritzelt, ein Irrtum, mit dem er etlichen Germanisten Lohn und Brot verschaffte.25 Die haben herausgefunden, dass er das Gedicht sehr wohl in der Nacht vom 6. zum 7. September 1783 verfasst, aber auf gar keinen Fall auf die Bretterwand des Jagdhauses geschrieben haben kann, denn zum inkriminierten Termin weilte er nachweislich auf einer Reise in den Harz. Er schickte seiner Frau von Stein drei Schlüssel mit einem brieflichen Abschiedsgruß: »Du hörst balde von mir.« Das nächste Schreiben an die Stein folgte am 9. September 1783 aus Langenstein vom Gut der Marquise Branconi. Von Ilmenau aus wäre die Strecke dorthin unter den damaligen Bedingungen nicht in zwei Tagen zu schaffen gewesen.

Abb. 2 aus der »Gartenlaunbe« vom 1. Januar 1870

Die Zeichnung täuscht insofern, als die Kuppe des Kickelhahns im Jahre 1783 noch nicht mit Bäumen bewachsen war. Vielmehr baute man dort aus Gründen der Wildhege Hafer und Kohl an. Weil das zweistöckige, mit Holzschindeln gedeckte Jagdhaus einsam emporragte, konnte der Blick des Wanderers vom Obergeschoss des Turms aus ungehindert in die Ferne schweifen. Erst später wurden ringsum Nadelhölzer angepflanzt, die bei Goethes letztem Besuch bereits bis zur Höhe des Häuschens herangewachsen waren. Zur Kultstätte entwickelte sich das ›Goethe-Häuschen‹ erst, ›als Ilmenau 1838 zum Badeort erhoben wurde, als für die Badegäste Wege angelegt, Karten und topographische Beschreibungen angefertigt wurden und (1839) Bernhard von Arnswaldts lithographierte und kolorierte Erinnerungsblätter an Ilmenau und seine Umgebungen erschienen (deren erstes das Kickelhahn-Häuschen mit Goethes Versen zeigte)«.26 »Während der Sommerzeit wurde das Häuschen stets offen gehalten und den Besuchern kein Hindernis in den Weg gelegt. Aber wenn auch das Auge Kilian Merten‘s, des Forstaufsehers auf dem Gabelbache bei Ilmenau, in dessen Aufsichtsbezirk das Goethehäuschen lag, mit ängstlicher Sorgfalt darüber wachte, daß das seiner Obhut schon seit einer langen Reihe von Jahren anvertraute Heiligthum nicht profanirt werde, so konnte er doch nicht verhindern, daß rohe Hände durch Einschreiben und Einschneiden von Namen und allerlei Thorheiten die Stätte entweihten.

Als man bereits angefangen hatte, unmittelbar neben der Inschrift herumzukritzeln und zu schneiden, brachte Merten, um wenigstens letztere zu schützen, eine Glastafel darüber an, welche durch Kopfnägel an der Wand festgehalten wurde. Diese Tafel hatte einst ein frecher Tempelschänder … abgenommen und schickte sich eben an, das werthvolle Brettstück mit einer kleinen Säge herauszuschneiden, als glücklicherweise Merten gerade hinzukam. Zwei derbe Thüringer Fäuste machten mit verschiedenen Körperbestandtheilen jenes Spitzbuben gründliche Bekanntschaft. ›Verklagt hat er mich nicht!‹ setzte der ›Faustrichter‹ treuherzig hinzu, als er mir die Geschichte später erzählte. Nun wurde zwar die Glastafel mittels vier Rahmen fest mit der Bretterwand verbunden, aber die Besorgniß eines Verlustes wollte nicht mehr von dem treuen Hüter weichen. Um für den schlimmsten Fall wenigstens etwas zu retten, ließ er vor einigen Jahren das denkwürdige Manuscript photographisch nachbilden. (…)

Abb. 3: Goethes Handschrift im Kickelhahn-Häuschen im Zustand von etwa 1869.

Seit dem 12. August 1870 existirt das Goethe häuschen nicht mehr; nur das geringe Fundamentalgemäuer, auf dem es errichtet war, ist noch zu sehen. Das Häuschen selbst wurde an jenem Tage, früh zwischen sechs und sieben Uhr ein Raub der Flammen. Die Tagesblätter haben damals vielfach über die Katastrophe berichtet; zum Theil gegen die Wahrheit. So liegt mir zum Beispiel ein amerikanisches Blatt vor, der ›Baltimore Wecker‹ Nr. 212, wonach ›eine tempelschänderische Frevlerhand‹ das Goethehäuschen bei Ilmenau durch Brandstiftung vernichtet haben soll. Dem ist aber nicht also. (…)

Am 11. August hatten sich drei Personen aus dem zwei Stunden entfernten Dorf Geschwende in die Nähe von Gabelbach in den Wald begeben, um Beeren zu suchen, welche sie dann in Ilmenau verwerthen wollten. Durch starke Regengüsse wurden die Leute durchnäßt; sie beschlossen, als der Abend herbeikam und sie das genügende Quantum von Beeren noch nicht zusammengebracht hatten, ihre Heimath auch zu entfernt war, in dem stets offen gehaltenen Goethehäuschen zu übernachten und ihr Geschäft dann am andern Morgen fortzusetzen. Sie gingen nach dem Goethehäuschen und nahmen Besitz von dem obern Raume, in welchem sich eben das Goethe’sche Manuscript befand. Dort entzündete ein Mann auf einem kleinen Estrichguß, worauf früher ein Ofen gestanden, ein Feuer, um die nassen Kleider zu trocknen und die frierenden Glieder zu wärmen. Als die Leute am andern Morgen früh gegen fünf Uhr das Häuschen verließen, glimmten noch Kohlen auf der Feuerstätte und es stieg noch schwacher Rauch auf. Um diesem Abgang zu verschaffen, öffnete derselbe Mann, der das Feuer angezündet hatte, beim Weggange ein Fenster und ließ die Thür offen stehen. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Fahrlässigkeit jenes Mannes die Ursache des Brandes geworden, indem durch den hergestellten Luftzug das noch glimmende Feuer angefacht worden ist, welches dann das dürre Holzwerk entzündet haben mag.«27 Vom großherzoglichen Kreisgericht Arnstadt wurde der Schuldige wegen fahrlässiger Brandstiftung zu zwei Monaten Gefängnis verurtheilt.

Seit der »Darstellung Mahrs verbindet man mit Goethes Gedicht die Vorstellung vom greisen Alten auf dem Kickelhahn, der voller Wehmut und Todesahnung in den Anblick der abendlichen Natur versunken ist (Segebrecht).«28 Als sein Gedicht entstand, war er aber durchaus kein Greis, wenngleich von ersten Krankheiten, wie einem Blutsturz, gezeichnet. Wovon ist dieses Gedicht inspiriert, das die einen für beschwichtigend, die anderen für bedrohlich halten? War es die Stimmung rund um den Kickelhahn, die Gebärde des Trostes, wie sie in der Natur herrscht?29 Aber was war zu trösten? Auf einer getuschten Bleistiftzeichnung vom 22. Juli 1776, die Goethe seiner Frau von Stein widmete, hat der Dichter die Landschaft festgehalten. Dort ist zu sehen, wie sich unterhalb des Berggipfels die Nebel durchs Tal wälzen.

Abb. 4: Dampfende Täler bei Ilmenau. Bleistift und Tusche auf blaugrauem Papier. Handzeichnung Goethes von der Südseite des großen Hermannsteins in der oberen Hälfte des Kickelhahnhanges in Richtung nach den...

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