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E-Book

Meine algerische Familie

Mit Fotografien von Bettina Flitner

AutorAlice Schwarzer
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783462317916
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Der Muezzin und die Kuckucksuhr. Seit Jahrzehnten hat Alice Schwarzer eine enge und liebevolle Beziehung zu einer Familie in Algerien, die in ihrer Vielfalt und Lebendigkeit ein Abbild dieses nordafrikanischen Landes zwischen Tradition und Moderne ist, zwischen islamistischer Bedrohung und demokratischen Hoffnungen. Zuerst traf Alice Schwarzer 1989 Djamila, eine algerische Journalistin, die nach dem drohenden Wahlsieg der Islamisten und dem Bürgerkrieg in den 90er-Jahren wie viele andere um ihr Leben fürchten musste und für einige Jahre nach Deutschland emigrierte. Djamilas Eltern und Großeltern, Brüder und Schwestern, Neffen und Nichten lernte Alice Schwarzer später in deren Heimat bei Neujahrsfeiern, Ferienbesuchen und Hochzeiten kennen und lieben. Diese Familie lässt Alice Schwarzer zusammen mit der Fotografin Bettina Flitner lebendig werden: die Generation der Alten, geprägt von der Kolonialzeit, dem Befreiungskrieg und den Jahren des Aufbruchs, die Generation, die die »schwarzen Jahre« des islamistischen Terrors und der politischen Repression durchlebte, und die jungen Leute von heute zwischen High Heels und Verschleierung, zwischen Instagram und spätsozialistischer Stagnation.

Alice Schwarzer, geboren 1942 in Wuppertal, lebt in Köln und Paris. Sie begann nach einem Volontariat bei den Düsseldorfer Nachrichten ihre publizistische Arbeit 1969 als Reporterin bei Pardon. 1969-74 politische Korrespondentin in Paris. 1975: »Der kleine Unterschied und seine großen Folgen«, 1977: Gründung der Zeitschrift Emma. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a. »Eine tödliche Liebe - Petra Kelly und Gert Bastian« (1994), »Marion Dönhoff - ein widerständiges Leben« (1996), »Romy Schneider - Mythos und Leben« (1998), »Lebenslauf« (2011), »Der Schock - die Silvesternacht von Köln« (2016), »Meine algerische Familie« (2018), »Lebenswerk« (2020) und mit Chantal Louis »Transsexualität« (2022).

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Leseprobe

1 Eine Liebeshochzeit, zwei Zwangsehen und die schwarzen Jahre


April 2016. Ich sitze auf dem schmalen Jungmädchenbett von Sarah. Die ist inzwischen auch schon 24, hat zu Ende studiert, aber denkt im Traum nicht daran, auszuziehen oder gar zu heiraten. Das Gedränge in ihrem kleinen Zimmer ist groß. Mutter Zohra, die beiden älteren Schwestern und zwei Freundinnen sind mit gewaltigen Tüten und Koffern angerückt und probieren nun raschelnd ihre Festkleider für morgen an. Der einzige Bruder, Ghanou, wird heiraten. Das Ereignis schlägt seit Monaten hohe Wellen. Morgen nun soll das Finale sein.

Ich werfe mich laut jammernd aufs Bett und raufe mir die Haare. »Hättet ihr mir doch nur etwas gesagt«, stöhne ich. »Was soll ich denn jetzt anziehen?! Da kann ich ja gleich zurückfliegen …« Die Mädels kichern vergnügt. »Ist doch nicht so schlimm, Alice, macht nichts. Jeder weiß doch, dass du Ausländerin bist. Es ist ja nicht deine Schuld, dass du keine Ahnung hast.« Und dabei kichern sie noch vergnügter.

Mein Fehler: Ich habe nur ein Kleid für den Abend in meiner Reisetasche. Die Braut aber wird sieben Kleider tragen. Hintereinander. Und alle weiblichen Gäste ebenfalls mindestens fünf. Am nächsten Abend werde ich erleben, wie das funktioniert: Die Damen rücken mit großen Rollkoffern zum Fest an. Direkt neben dem Festsaal gibt es einen Extraumkleideraum, in den sie alle halbe Stunde huschen, um das Outfit zu wechseln. Heraus kommen sie in jeweils anderen Kleidern inklusive passendem Schuhwerk und Schmuck. Die Braut hat einen Extraraum. Nur Djamila und die verschleierten Frauen wechseln einmal oder keinmal. Ich stehe also ziemlich dumm da.

Mit Djamila, der Tante des Bräutigams, bin ich seit 1989 befreundet. Seit meinem Seminar in Tunis für Journalistinnen aus Nordafrika. Da waren unter den 25 bis 30 Frauen auch zwei Mauretanierinnen im bunten Wüstenschleier, zwei emanzipierte Libyerinnen aus der Zeit Gaddafis und Algerierinnen, darunter Djamila von der APS, der staatlichen algerischen Presseagentur.

Djamilas Familie kenne ich seit den 90er-Jahren. Damals besuchte die ganze Familie Djamila im Exil in Köln. 2007 haben wir dann zusammen Silvester in Algier gefeiert. Wir haben bis in die tiefe Nacht getanzt, nach arabischem Raï und westlichem Pop. Allen voran ich und Ghanou, der morgen seine Hochzeit feiern wird.

Geheiratet hat das Paar bereits in den vergangenen Tagen: zuerst beim Standesamt, dann in der Moschee. Dass die staatliche Trauung vor der religiösen stattfindet, ist Gesetz – vor allem, damit die Frauen nicht getäuscht werden durch eine ausschließlich religiöse und rechtlich nicht gültige Trauung.

Am Vorabend des Hochzeitsfestes findet nun das dritte Festessen statt. Das erste war ganz unter Männern, das zweite ganz unter Frauen – dieses dritte wird wohl gemeinsam sein. Denke ich.

Ich kenne die Männer der Familie gut: Djamilas Neffe Ghanou, Schwager Zahar sowie diverse Brüder. Ghanou hat studiert und ist jetzt bei der Eheschließung 36 Jahre alt. Sein Vater hat mit 23 geheiratet und nur wenige Jahre die Schule besucht, ist aber ein sehr tüchtiger Geschäftsmann geworden. Er handelt mit Büromöbeln aus China und sein Haus ist komfortabel: unten die Geschäftsräume, im ersten Stock die Küche und die gemeinsamen Wohnräume, im zweiten Stock Schlafzimmer und ein Festraum. Im kleinen Garten Palmen und Gewürzpflanzen.

Die Stunde des Abendessens naht. Und was sehe ich? Alle Männer der Familie sitzen unten an einem großen Tisch, der wegen Regen nicht auf der Terrasse, sondern im Lagerraum hergerichtet worden ist. Und alle Frauen rennen zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stock hin und her und bedienen die Männer. Erst nachdem die zu Ende gegessen haben, sind wir Frauen dran. Wir essen oben, im zweiten Stock. Schlechtgewissig bieten die Frauen mir zwischendurch Essen im ersten Stock an. Ich bin irgendwie dazwischen: zwischen den Frauen und den Männern. Ich warte selbstverständlich, bis auch wir Frauen dran sind.

Dennoch: Ich bin überrascht. Und wiederum auch nicht. »Meine« Familie ist eine typische algerische Familie: zwischen Tradition und Moderne. Djamilas Mutter war noch Analphabetin und verschleiert, ihre Nichten haben studiert und ziehen im Urlaub im Ausland die kürzesten Miniröcke und die höchsten High Heels an. Deren Mutter hatte der Ehemann noch verboten, nach der Eheschließung weiter arbeiten zu gehen. Die zukünftige Frau von Ghanou ist Anlageberaterin bei einer Bank und macht am liebsten Urlaub in Frankreich. Allerdings: Ghanou hofft, dass sie »eines Tages den Schleier tragen wird. Freiwillig natürlich.«

Am nächsten Tag brechen wir am frühen Nachmittag auf. Das Fest findet im Sofitel statt, dem schicksten Hotel der Stadt. Die beiden Schwestern des Bräutigams, Mounia und Lilia, arbeiten dort und haben für den Bruder Sonderkonditionen bekommen. Ich nehme meine Reisetasche mit, um wenigstens einmal wechseln zu können: zwischen dem Tageskleid und etwas halbdurchsichtigem Schwarzen für den späten Abend. Die Schuhe bleiben dieselben, aber immerhin: Ich habe zwei Ketten eingesteckt.

Der Saal ist prächtig. Auf der einen Seite eine riesige Fensterfront zu dem legendären Botanischen Garten, den die Franzosen im 19. Jahrhundert angelegt haben. Von ihm soll Königin Elisabeth gesagt haben, er sei der schönste Botanische Garten, den sie je gesehen habe. Eine Stimme, die schon an sich, doch in dem Zusammenhang noch schwerer wiegt.

Und siehe da: auch hier zwei nach Geschlechtern getrennte Sphären. In der Mitte das traditionelle Orchester in algerischer Tracht und die Tanzfläche, rechts große Tische für die Männer, links für die Frauen. Wir sind etwa 200 Gäste. Und ich bin die einzige Frau, die gleich zu Beginn auch mal auf die Männerseite geht, wo mich Djamilas Brüder mit Hallo begrüßen.

Später wird Zohra, die Mutter des Bräutigams, zu meiner Überraschung den Tanz mit mir eröffnen. Und ich gehe dann auch die Frauen auffordern. Bei den Verschleierten, die am äußersten linken Rand sitzen, schaffe ich es nur bei einer, sie auf die Tanzfläche zu locken. Mit den anderen tanze ich einfach neben ihrem Tisch. Natürlich tanzen sie alle viel besser als ich: Immer schwingt der Bauchtanz mit und werden die Arme zu arabesken Bewegungen gewunden. Es macht richtig Spaß! Erst gegen Ende mischen sich auch ein paar Männer, inklusive Bräutigam, unter die tanzenden Frauen.

Bevor der Tanz beginnt, erleben wir das Defilee des Brautpaares. Das geht so: Unter Trommelwirbel betreten Ghanou und Djalila den Saal. Beim ersten Auftritt trägt die Braut einen märchenhaften, geheimnisvollen Burnus aus mattweißem, schwerem Taft, er ist und bleibt im Nadelstreifenanzug. Es folgen fünf weitere prächtige Gewänder mit wechselndem Schmuck, jeweils angelehnt an die Trachten der unterschiedlichen Regionen des Landes. Die Krönung am Schluss ist ein klassisches, westliches Brautkleid, mit kurzen Ärmeln und Schleier.

Der Bräutigam führt die Braut jedes Mal durch den ganzen Saal bis hin zu einem Podest, das neben dem Orchester steht. Auf dem Podest steht ein rotes Sofa – und da wird die Braut abgesetzt. Alleine. Sie bleibt wie ein Model mit starrem Lächeln sitzen – alle Handys werden gezückt –, bis der Bräutigam sie wieder abholt. Irgendwann flüstere ich Ghanou, mit dem mich seit vielen Jahren ein vertrautes Verhältnis verbindet, zu: »Das ist doch schrecklich, dass sie so alleine dasitzt. Willst du dich nicht zu ihr setzen?« Das tut Ghanou dann, zögernd.

 

Am Morgen nach dem Fest hocken wir in der Küche. Wir Frauen. Die drei Schwestern Djamila, Akila, Zohra und ich.

Djamila ist Journalistin, unverheiratet und kinderlos, was für Algerien ungewöhnlich ist. Zohra, die Hausherrin, hat als junge Frau Krankenschwester gelernt und nach der Eheschließung aufgehört zu arbeiten, sie hat vier Kinder. Akila, die Älteste, ist ebenfalls Hausfrau und hat fünf Kinder; ihre zwei Töchter leben in Montreal und San Francisco. Was für Algerien nicht ungewöhnlich ist, es gibt einen Exodus der Jungen. Akila trägt Kopftuch.

Wir vier essen Reste und schwatzen. Und da stellt sich zu meiner Fassungslosigkeit Folgendes heraus: Djamilas beide Schwestern sind von der Mutter mithilfe einer Kupplerin verheiratet worden, beide haben ihren Ehemann am Tag der Hochzeit zum ersten Mal gesehen. Und beide sind bis heute mit ihren Männern zusammen. Die eine ist zufrieden, die andere nicht.

Ich frage die beiden Schwestern, ob sie ihrer Mutter die Zwangsverheiratung nicht übel genommen hätten. Nein, behaupten sie, »das war einfach so«.

Die vor zehn Jahren gestorbene Mutter wird von all ihren zehn Kindern, drei Töchter und sieben Söhne, tief verehrt. Ihr Stolz, ihre Autorität und ihre Tüchtigkeit sind Legende. Allerdings: Zohra weint bis heute ihrem Beruf als Krankenschwester nach. »Das hat mir großen Spaß gemacht.« Aber ihr Mann, der nette Zahar, hat ihr damals verboten, weiterzuarbeiten. Und er hat ihr auch verboten, alleine aus dem Haus zu gehen. Das hat Zohra so verinnerlicht, dass sie bis heute nicht alleine rausgeht. Der taffe Zahar macht auch die Einkäufe für die Familie. Seit einigen Jahren neigt Zohra zu Stimmungen, ja Depressionen. Die Familie ist ratlos.

 

Ein Jahr später, April 2017. Ich sitze wieder in der Küche in Beaulieu, einem kleinbürgerlichen Vorstadtviertel von Algier. Diesmal bin ich nicht nur gekommen, um Djamilas Familie zu besuchen, sondern auch, um über »meine algerische Familie« ein Buch zu schreiben.

Bettina Flitner ist mit von der...

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