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E-Book

Integration

Ein Protokoll des Scheiterns

AutorHamed Abdel-Samad
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783426450536
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Millionen Muslime sind in den vergangenen Jahrzehnten als Gastarbeiter überwiegend aus der Türkei, als Flüchtlinge aus Syrien und anderen Staaten des Nahen Ostens nach Deutschland gekommen. Hamed Abdel-Samad rechnet ab mit der Politik, die die Integration zu lange konterkariert und der Muslime, die sich in Parallelgesellschaften verbarrikadiert haben. Deutsch-Türken unterstützen Erdogan, in Europa geborene Muslime verüben Terroranschläge. Hamed Abdel-Samad prangert die integrationsverhindernden Elemente der islamischen Kultur an. Er rechnet aber auch mit europäischen Integrationslügen ab. Denn wer jahrzehntelang von 'Gastarbeitern' spricht, der verweigert Integrationsangebote - und darf sich nicht über Parallelgesellschaften wundern. Wer die Augen verschließt vor kulturellen, mentalitären und religiösen Unterschieden, der muss in seinem Bemühen scheitern. Abdel-Samad formuliert einen Forderungskatalog an Politik und Gesellschaft, denn am Thema Integration wird sich die Zukunft Deutschlands entscheiden.

Hamed Abdel-Samad, geboren 1972 bei Kairo, studierte Englisch, Französisch, Japanisch und Politik. Er arbeitete für die UNESCO, am Lehrstuhl für Islamwissenschaft der Universität Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Abdel-Samad ist Mitglied der Deutschen Islam Konferenz und zählt zu den profiliertesten islamischen Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Seine Autobiographie 'Mein Abschied vom Himmel' sorgte für Aufsehen: 'Was er von seinen Landsleuten erwartet, hat er selbst vorgemacht: Aufklärung durch Tabubruch.' ZDF-Aspekte

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Leseprobe

Einführung


Das Märchen von der gelungenen Integration

Der Begriff Integration ist abgeleitet vom lateinischen integrare, das »erneuern«, »ergänzen« oder »geistig auffrischen« meint. Im Lexikon findet man zwei Hauptdefinitionen für Integration. Erstens: Integration bezeichnet einen Vorgang, dass jemand bewusst durch bestimmte Maßnahmen dafür sorgt, dass jemand anders ein Teil einer Gruppe wird. Und zweitens: die Herstellung oder Vervollständigung einer Einheit.

In diesen beiden Erklärungen schimmern bereits die Fallstricke durch, über die eine Gesellschaft beim Thema Integration stolpern kann. Nach Definition eins sollen der Staat und die Gesellschaft mit Maßnahmen und Engagement die Aufnahme anderer in die Gemeinschaft vorantreiben. Knackpunkt eins: Welche Maßnahmen müssen hierfür ergriffen werden? Knackpunkt zwei: Integration ist keine Einbahnstraße, der andere muss auch aufgenommen werden wollen. Will er das nicht, aus welchen Gründen auch immer, können der Staat und die Mehrheitsgesellschaft tun, was sie wollen, ohne einen Erfolg zu erzielen.

Nach Definition zwei meint Integration die Herstellung oder Komplettierung einer Einheit. Welche Einheit ist damit gemeint? Es gibt nicht die Gesellschaft oder die Deutschen, es gibt eine Gemeinschaft von Individuen, die in den Grenzen dieses Landes zusammenlebt und im Idealfall seine Werte, die Verfassung und das Grundgesetz achtet. Ist das die Einheit, der Grundkonsens, auf den man sich mit den Neuankömmlingen und alteingesessenen Migranten verständigt? Geht es um eine Art Verfassungspatriotismus? Oder geht es um mehr, um eine »Leitkultur« gar, die die anderen nicht nur zu respektieren haben, sondern sogar annehmen sollen, unter Aufgabe ihrer eigenen? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ließ im Mai 2010 in einer Rede in Köln keinen Zweifel daran, was er von einer solchen Anpassung hält: »Niemand kann von Ihnen erwarten, Assimilation zu tolerieren. Niemand kann von Ihnen erwarten, dass Sie sich einer Assimilation unterwerfen. Denn Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie sollten sich dessen bewusst sein«,[1] wetterte er vor begeisterten Anhängern.

Der Begriff »Leitkultur« stammt aus dem Jahr 1996. Damals erschien ein Artikel des Politologen Bassam Tibi in der Wochenzeitung Das Parlament, einem Organ der Bundeszentrale für politische Bildung. Tibi sprach von einer europäischen Leitkultur, beruhend auf westlich-liberalen Wertevorstellungen. Zwei Jahre später präzisierte er: »Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen Moderne entspringen, und sie heißen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft.«[2] Seitdem poppt der Begriff immer wieder auf, zuletzt bei der aktuellen Integration der Flüchtlinge, die seit 2015 verstärkt nach Deutschland strömen. Allerdings wurde der Begriff inzwischen längst gekapert und um Elemente erweitert, die über Tibis Grundgedanken weit hinausgehen. Der Begriff dient der sogenannten Neuen Rechten als Steilvorlage gegen Vielfalt und Multikulti, Politiker aus konservativen Kreisen dehnen ihn aus auf das Christentum, die Begriffe Heimat und Patriotismus sowie Nationalsymbole wie Fahne und Hymne. Die politische Linke und Teile der Medien stören sich an der Hierarchie, die der Begriff »Leit-Kultur« impliziere, an der vermeintlichen Überlegenheit einer Kultur gegenüber einer anderen. Der eigentliche Kerngedanke Tibis von einer europäischen Leitidee als identitätsstiftendes Moment ist in der teils hysterisch und unsachlich geführten Debatte längst verloren gegangen.

Doch wenn wir selbst nicht wissen, wofür wir stehen, was wir meinen, wenn wir von gelungener Integration sprechen, wie sollen wir dann die richtigen Maßnahmen ergreifen, die richtigen Forderungen stellen, einen Erfolg oder Misserfolg messen können?

Thilo Sarrazin hat mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab eine heftige, zum Teil emotionale Debatte über dieses Thema ausgelöst, die bis heute andauert und dennoch keine klaren Ergebnisse hervorgebracht hat. Der ehemalige Finanzsenator von Berlin geriet wegen seiner Thesen öffentlich ins Kreuzfeuer, die Bevölkerung war gespalten. Die einen bejubelten ihn, weil er ihren dumpfen Ängsten eine Stimme verlieh. Die anderen verteufelten ihn, weil sie befürchteten, er würde die Geister aus der deutschen Vergangenheit wieder heraufbeschwören.

In der Folge erschienen zahlreiche wissenschaftliche Studien zum Thema Integration, allerdings mit widersprüchlichen Ergebnissen. So kam eine Studie der Universität Münster aus dem Jahr 2016 zu dem Schluss, dass fast die Hälfte der hier lebenden Muslime die Scharia über das Grundgesetz stellen würde. Über 13 Prozent würden sogar stark fundamentalistische Züge aufweisen. Der niederländische Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans, der eine Studie mit Muslimen aus sechs europäischen Staaten durchführte, kam zu ähnlichen Ergebnissen. Drei Viertel der Befragten gaben an, es gebe nur eine mögliche Auslegung des Korans (womit einer Liberalisierung oder einem aufgeklärten Islam bereits der Garaus gemacht wird), außerdem waren 45 Prozent überzeugt, dass der Westen den Islam zerstören wolle. Beide Studien wurden von einigen Migrationsforschern und Islamvertretern als einseitig kritisiert. So wurde Koopmans vorgehalten, er habe nur muslimische Migranten befragt, nicht aber Vergleichsgruppen aus anderen Herkunftsländern. Auch würde er den Nährboden für Rassismus bereiten, da er aufgrund seiner Untersuchungen glaube, dass sich Muslime schlechter integrieren würden als andere Migrantengruppen (ohne diese befragt zu haben). Diese Reaktion kommt häufig beinahe reflexartig und erschwert einen nüchternen Blick auf die Fakten. Es geht nicht darum, eine Gruppe zu diskreditieren oder an den Pranger der Integrationsverweigerung zu stellen. Aber wer sich scheut, tatsächlich vorhandene Auffälligkeiten zu thematisieren, wird auch keine Lösungen für die schwärenden Probleme finden.

Kurz vor den Bundestagswahlen 2017 veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung eine Studie mit dem Titel »Muslime in Europa: integriert, aber nicht akzeptiert?«, die wieder ganz andere Ergebnisse präsentierte: Muslime seien sehr viel besser integriert als vermutet, 96 Prozent fühlten sich mit Deutschland »verbunden«. Hier wurden sowohl der Zeitpunkt der Veröffentlichung kritisiert als auch die Art der Fragestellungen zu den Themenbereichen Bildung und Spracherwerb, Arbeitsmarkt, Freizeitkontakten und Identifikation mit dem Aufnahmeland. Einige monierten, dass mit dieser Studie der Eindruck erweckt worden sei, sie sei politisch motiviert gewesen, mit dem Zweck, die Wähler kurz vor den Wahlen mit positiven Integrationsmeldungen zu beruhigen, damit sie keine Protestparteien wählen. Anders als die eher kritischen Studien und Bücher zum Thema Integration stieß diese Studie aber auf eine breite Akzeptanz in Wissenschaft und Politik, obwohl etwa die Erhebungen über die Erwerbstätigkeit von Muslimen von den Zahlen der Agentur für Arbeit deutlich abweichen und obwohl sie wichtige Fragen wie die zu Fundamentalismus oder der Gleichberechtigung von Mann und Frau ausklammerte.

Eine dreiteilige Studienreihe des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung mit dem Titel »Deutschland postmigrantisch« schließlich versuchte, die oben genannten Kritikpunkte zu umschiffen. Hier wurden nicht nur Muslime befragt, sondern generell Menschen mit Migrationshintergrund, also auch EU-Bürger, Russlanddeutsche, Asiaten und so weiter. Gefragt wurde nach den Themen Gesellschaft, Religion und Identität. Das Ergebnis: Menschen mit Migrationshintergrund identifizieren sich fast genauso mit Deutschland wie Herkunftsdeutsche.

Was fängt man nun mit all diesen Daten an? Reichen sie aus, um darüber Auskunft zu geben, ob Migranten in Deutschland gut integriert sind oder nicht? Reicht das Erlernen oder Beherrschen der deutschen Sprache, um Teil der deutschen Kultur zu sein? Helfen uns anonymisierte Telefonbefragungen und Fragebögen, um die Geisteshaltung von Migranten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu ermitteln, oder brauchen wir da andere Parameter? Und reden wir überhaupt von allen Migranten oder nur von einer bestimmten Gruppe, wenn es um die Frage nach gelungener oder gescheiterter Integration geht?

Tatsächlich wird die Integrationsdebatte dominiert von einer Gruppe, als seien Menschen mit Migrationshintergrund eine homogene Masse: Annähernd bei jedem Artikel zum Thema Migration oder Integration taucht das Bild eines bärtigen Muslims oder einer verschleierten Muslima auf, obwohl die meisten Migranten in den letzten Jahrzehnten keine Muslime waren und obwohl die meisten muslimischen Frauen in Deutschland kein Kopftuch tragen. Es gibt eine Islamkonferenz, aber keine Buddhisten-, Hindu- oder Atheistenkonferenz. Es gibt Präventions- und Deradikalisierungsprojekte nur für junge Muslime. Wenn es Streit gibt an Schulen und Universitäten über Gebetsräume, Essen, Sport, Schwimm- und Religionsunterricht, geht es um Muslime. Warum hören wir nur selten von Problemen, wenn es um Schüler mit griechischen, vietnamesischen oder portugiesischen Wurzeln geht? Spricht daraus nicht eigentlich ein Generalverdacht gegen alle Muslime? Haben Italiener, Portugiesen, Griechen, Chinesen und Vietnamesen, säkulare Exil-Iraner und Aleviten andere Maßnahmen in Anspruch genommen, um sich hier gut zu integrieren?

Das Problem ist, dass über Integration nur da geredet wird, wo sie fehlt, beziehungsweise da, wo sie fehlgeschlagen ist. Millionen von Migranten haben sich im Laufe der Jahrzehnte durch Eigenleistungen und ohne staatliche...

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