Schockernte
»Da liegt eins! Da liegt eins!« Die Stimme des kleinen Jakob durchschnitt den Sommernachmittag und den schweren Heugeruch, der über dem Tal hing. Die Bauern mähten wie die Nähmaschinen. Nach vielen Gewittern war für die nächsten Tage ein stabiles Hoch vorhergesagt. Nur sehr wenige Landwirte laufen vor dem Mähen durch die Wiesen, um nach Kitzen zu suchen. Man schätzt, dass pro Jahr in Deutschland eine halbe Million Wildtiere »vermäht« werden. Ich war sehr froh, dass Jakobs Vater mir in meiner Eigenschaft als Jägerin in diesem Revier rechtzeitig vor dem Mähen Bescheid gegeben hatte. Trotz seiner vielen Arbeit auf dem Hof half er beim Suchen. Und nun hatte sein fünfjähriger Sohn ein Kitz gefunden, aber wo? Das Gras stand mir bis zum Bauchnabel, und es dauerte eine Weile, bis ich die Kinderhand über den Grasspitzen winken sah. Ich bahnte mir einen Weg durch die blühenden Gräser zu Jakob. Er strahlte mich an und zeigte auf eine kleine Fellkugel.
»Super hast du das gemacht«, lobte ich ihn.
Das Kitz schaute mich an. Keine Angst im Blick, aber auch keine Freude, seinen Rettern zu begegnen. Unter ein Büschel Gräser geschmiegt lag es da, so eins mit seiner Umgebung, dass man es leicht übersehen konnte, auch wenn man nah daran vorbeiging. Es war vielleicht eine Woche alt und wunderschön. Ein so süßes Kitzgesicht mit schwarzen Rehaugen und sehr langen Wimpern, mit riesengroßen Hasenohren und vielen weißen Punkten auf dem hellbraunen Fell. Ich bewegte mich langsam, um es nicht zu erschrecken. Ich sprach nicht, aber ich dachte zu dem Kitz hin: Ich trage dich jetzt raus aus dem Gefahrengebiet. Ich passe gut auf, dass ich dein Fell nicht berühre. Nichts wird dir geschehen.
»Nicht anlangen! Sonst nimmt’s die Mutter nicht mehr«, flüsterte Jakob aufgeregt.
»Ich trage es bloß an den Rand der Wiese. Ganz vorsichtig.
Und ich passe gut auf, damit möglichst kein Menschengeruch haften bleibt.«
»Ich hab’s nicht angelangt!«
»Ich weiß, Jakob. Du kennst dich ja aus.«
Ich rupfte großzügig Gras, das ich wie Handschuhe benutzte, und hob das Kitz hoch. Es wog fast nichts. Federkitz, dachte ich, ging behutsam zum Wiesenrand und legte es dort ab.
»Papa, Papa!« Jakob lief seinem Vater entgegen. Der rief, dass er nun mit dem Mähen beginnen wolle. Er merkte wohl, dass ich gern weitergesucht hätte, denn er beruhigte mich aus der Entfernung, näherte sich dem Kitz nicht: »Ich habe die Geiß auf dieser Wiese immer nur in diesem Bereich gesehen.«
Ich nickte. Es war nicht auszuschließen, dass hier noch weitere Kitze lagen. Aber ein Kitz im hohen Gras zu finden kann Stunden dauern, wenn man es überhaupt entdeckt. Darauf kann im Zeitplan eines Bauern oft keine Rücksicht genommen werden. Es gibt Sachzwänge. Überhaupt ist das ganze Bauernleben ein einziger Sachzwang geworden.
Während Jakobs Vater den Traktor startete, suchte ich weiter. Meist hat eine Geiß zwei Kitze. Jakobs Vater schaltete den Kreiselmäher ein, es wurde laut. Ich beobachtete das Kitz aus der Ferne. Es lief nicht weg. In dieser Entwicklungsstufe hat das kleine Reh noch keinen Fluchtreflex, es bleibt, wo seine Mutter es ablegt, bis sie ruft. Seine wichtigste Eigenschaft ist es, unsichtbar zu sein, unriechbar, nicht aufzufallen. Für Füchse sind Kitze ein Sonntagsbraten. Und Füchse haben auch Junge, die hungrig sind. Wenn die Rehmutter das Kitz mit ihrem Kontaktlaut ruft, steht es auf und läuft zu ihr. Es wird gesäugt und geputzt und an eine andere Stelle geführt, an der es bleibt bis zum nächsten Ruf. Aber würde es den Platz akzeptieren, den ich ihm zugewiesen hatte? Ich war ja keine Rehmutter. Und es war kein geschützter Ort. Doch das Kitz blieb zusammengerollt liegen, über eine Stunde lang, im Lärm des Mähwerks, messerscharfe Klingen, die sich rasant drehten. Dann war die Wiese gemäht, der Traktor fuhr weg, es wurde leiser, und die Vögel wurden lauter und die Grillen und das Sirren, Surren der Insekten – Symphonie des Sommers. Und auch ich verließ nun die Wiese, immer den Waldrand im Blick. Irgendwo da stehst du, Mutter. Aufgeregt und unruhig, verstört und vielleicht sogar verzweifelt, und wartest. Ich bin gleich weg. Dann ist die Luft rein. Hol dein Kitz. Bring es in Sicherheit!
Ich ging eine Viertelstunde zu Fuß nach Hause. Heute und morgen hatte ich frei. Ich arbeite im Schichtdienst als Gelber Engel. Mein Revier ist das Allgäu. Es war mir leichtgefallen, vor einigen Jahren der Großstadt München den Rücken zu kehren, denn ich bin ein Landei, geboren in den flachen Weiten Schleswig-Holsteins, wo es keine Alpen, sondern Deiche gibt, und der Himmel reicht bis zum Horizont. Zum Jura- und Germanistikstudium war ich nach München gezogen, und hier erfüllte sich mein großer Wunsch, als ich nach einigen Semestern eine Lehrstelle zur Kfz-Mechanikerin fand. In Schleswig-Holstein scheiterte das seinerzeit angeblich noch an den fehlenden sanitären Einrichtungen der Betriebe, man war einfach nicht auf schraubende Mädchen eingestellt. Heute hat sich das zum Glück geändert. Ich schraube noch immer gern, auch in meiner Freizeit. Eigentlich hatte ich am Spätnachmittag die Vergaser an meinem Motorrad, einer alten BMW R90, synchronisieren wollen. Eine schöne Tätigkeit, ich hatte mich darauf gefreut. Doch nun merkte ich, dass ich ständig an das Kitz dachte. Zu gern hätte ich nachgesehen. Aber nein, das würde ich nicht tun. Es bestünde die Gefahr, die Mutter zu vertreiben, die ohnehin nervös wäre, weil sich ihr bisher vertrauter und sicherer Lebensraum schlagartig in ein bedrohliches Feld ohne Sichtdeckung verwandelt hatte. Wo gestern noch nahrhaftes Gras und Kräuter widerristhoch wuchsen, klaffte nun eine kahle Fläche, gefährlich weit einsehbar, und das schmackhafte Grün vertrocknete. In bester Absicht hatte sie ihr Kitz in Sicherheit gebettet und fand es nun auf dem Präsentierteller für ihre Feinde wie Adler, Krähen, Füchse, Hunde und Menschen.
Diesen Kahlschlag nennt man Schockernte. Der Begriff leuchtete mir sofort ein, als ich vor einigen Jahren die Jägerprüfung, das so genannte grüne Abitur, ablegte. Ich selbst bin manchmal auch geschockt, wenn ich morgens zur Schicht losfahre und abends heimkehre und sich mein Lebensraum gravierend verändert hat. Natürlich finde ich mich zurecht, auch ohne Navi, so bin ich groß geworden. Die Jägerin aber denkt an die Vertriebenen, die ein Stück Heimat verloren haben.
Ich ging nicht zur Wiese, obwohl meine Gedanken dort ästen. Nicht am frühen, nicht am späten Abend, auch nicht in der Nacht. Ich blieb im Haus, obwohl ich sonst gern lang draußen sitze, am liebsten allein; aber draußen ist man ja nicht einsam. Während ich mir als Wahlmünchnerin nichts Schöneres hatte vorstellen können, als gemeinsam mit Freunden die Stadt unsicher zu machen, Kultur, Kneipen, Kino, saß ich nun oft stundenlang auf dem Hochsitz und bewegte mich kaum in meiner geräuscharmen Kleidung. Lauschen und Schauen, das war jetzt meine Kultur, Naturkultur. Und wie gesagt, ich war ja in facettenreicher Gesellschaft. Der Wald hat viele Augen. Auch wenn man nicht sieht, wer einen alles sieht, Wald und Wiesen sind dicht bevölkert. In meiner Kindheit am Deich hatte ich das oft beobachtet. Stundenlang saß ich in der Wiese und schaute und lauschte. Manchmal gelang es mir, unsichtbar zu werden, so dass Eichhörnchen, Dachse, Füchse, Rehe, Hasen, Fasane, Bussarde und Wiedehopfe sich verhielten, als wäre ich nicht da. Sogar eine Rohrdommel, den sogenannten Moorochsen, habe ich einmal gesehen und seinen dumpfen Balzruf vernommen, bevor er schlagartig in Pfahlstellung ging und sich damit meinem Blick im Schilf entzog, weil er in seiner Tarnhaltung wie ein Schilfrohr unter vielen aussah. Diese Fähigkeit des Verschmelzens hatte ich vielleicht in meiner Zeit in München vergessen. Doch seit ich im Allgäu wohnte, war sie zurückgekehrt wie die Faszination an Greifvögeln. So hatte ich nach dem Jagdschein auch noch den Falknerschein gemacht. Mit Scheinen hab ich es irgendwie. Seitdem ich die Uni gegen Ende nur noch als Scheinstudentin taxifahrend verlassen habe, wurde ich manchmal gefragt, was ich denn noch für Scheine machen wollte, nachdem ich die Prüfung für den Lkw-, Segel- und Sportküstenschifferschein abgelegt hatte. Mehr Schein als Sein? Ein Reh-Schein fehlte in meiner Sammlung. Aber ich wünschte ihn mir nicht. Ich wollte bloß, dass die Mutter zurückkehrte und alles in seine natürliche Ordnung kam. Genauso hätte der Fuchs das Kitz holen können. Auch das wäre eine natürliche Ordnung gewesen.
Am nächsten Morgen, es war ein strahlend schöner Sommertag, begrüßte mich Moll, mein Berner Sennenhund, unternehmungslustig. Gestern hatte ich wenig Zeit für ihn gehabt; er schien zu riechen, dass ich heute eine Wanderung geplant hatte, vermutlich an meinen frisch gefetteten Bergstiefeln. Vielleicht würden wir mit dem Sessellift auf den Mittag, den Hausberg Immenstadts, fahren, den ich schon deshalb schätzte, weil, wie sein Name sagt, man erst am Mittag zur Wanderung aufbrechen muss. Moll liebte Bergtouren, und wir waren uns einig, dass man bergauf wunderbar mit dem Sessellift fahren konnte. Bis vor Kurzem, als wir noch zu dritt waren, hatte es jemanden gegeben, der lieber bergauf lief. Doch nun war ich wieder allein, sprich zu zwein, nein zu viert. Mit einem Hund und zwei Katzen ist man ja nicht allein. Seltsam, dachte ich. Auch damals vor zwölf Jahren, als ich Zeugin der Schockgeburt am Straßenrand wurde, war ich frisch getrennt. Ob so ein Kitz ein Zeichen für den Neuanfang ist … als Single?
Rehe sind im Sommer auch Einzelgänger, im Winter finden sie sich zusammen in sogenannten Sprüngen, ihren Familienverbänden. Jetzt war eindeutig Sommer,...