SORAYA1
»Denk daran!«
Sie war es, die mich ansprach. Ich saß an der Bar eines schicken Hotels in Rabat. Sie kam zu mir, legte ihre Hand auf den Stuhl neben meinem und fragte, ob sie sich setzen dürfe. Ich antwortete: »Ja, natürlich.« Ich war zwar überrascht, doch ihre Selbstsicherheit gefiel mir. Sie setzte sich lächelnd und begann sofort, über alles und nichts zu reden, wohl, um keine Verlegenheit zwischen uns aufkommen zu lassen.
Sie sagte ein paar Dinge über meinen Roman, schließlich hatte er uns zusammengeführt. Sie hatte ihn gelesen und wollte ihn sich nach der Veranstaltung, die gerade in einem Saal des Hotels stattgefunden hatte, von mir noch signieren lassen. Doch sie war viel zu spät gekommen. Die Diskussion war bereits beendet, der Signiertisch abgebaut, und ich war nirgends mehr zu sehen gewesen. Einer der Verantwortlichen sagte ihr freundlicherweise, dass ich mich allein in die Bar zurückgezogen hatte. Und so saß sie nun neben mir.
Sie musste um die vierzig sein. Sie war im Grunde hübsch, aber nicht besonders gepflegt. Ihre Nägel teilweise abgebrochen, und sie rauchte viel. Doch ihr breites, unglaublich offenes und großzügiges Lächeln verwandelte sie. Manchmal schlug sie die Augen nieder und lachte ein kindliches und schelmisches Lachen. Es klang wie Blätterrascheln. Sie nahm sich überhaupt nicht wichtig, jegliches Pathos schien ihr fremd zu sein. In diesen Momenten fand ich sie unweigerlich schön.
Sie fing von ganz allein an, über sich zu erzählen. Ich wagte kaum, mich zu bewegen oder einen Schluck aus meinem Glas zu nehmen, aus Angst, die kleinste Geste könnte ihren Redefluss unterbrechen. Sie fragte mich, ob ich ein Kind hätte, was ich bejahte. »Ich habe keine bekommen. Ich konnte nicht. Das wird mir immer leidtun.« Daraufhin erzählte sie mir, dass sie sehr jung einen herrischen und eifersüchtigen Mann geheiratet hatte. Jahrelang hatten sie versucht, Kinder zu bekommen. Sie hatte immer wieder Fehlgeburten, ließ sich behandeln, schließlich gab sie es auf. Darüber zerbrach auch ihre Ehe. »Aber er war sowieso nicht besonders nett«, sagt sie lachend.
Vor ihrer Hochzeit hatte sie nie etwas mit einem Mann. »Als junge Frau war ich sehr verklemmt. Ich weiß noch genau, wie ungeniert meine Freundinnen an der Uni waren. Sie sprachen von ihren Liebhabern, erzählten sogar intime Details. Das war mir immer furchtbar unangenehm. Ich war Jungfrau und ziemlich verkrampft.« Nach ihrer Scheidung lernte sie ein paar Frauen kennen, mit denen sie offen und ohne Tabus über alles reden konnte. Deren Freizügigkeit, ja sogar Schlüpfrigkeit, wenn sie unter sich waren, überraschten sie und machten ihr Mut. Diese Freundinnen erklärten ihr auch, wie man Männer verführte und in den Wahnsinn trieb, notfalls mithilfe seltsamer Tränke.
»Doch bei uns zu Hause war es ganz anders«, gesteht sie mir. Dann beschreibt sie ihre Mutter. »Sie hat etwas von einer Königin. Eine starke, schöne und sehr strenge Frau«, die mit ihrem Vater eine geradezu symbiotische Beziehung führte. »Meine beiden Schwestern und ich durften praktisch nicht mit ihm reden. Sobald wir mal einen Moment mit ihm allein waren, rief sie uns in die Küche oder sonst wohin, damit wir ihr bei irgendetwas halfen. Sie ertrug es nicht, dass er außer ihr noch andere liebte.«
Diese verehrte und gefürchtete Mutter legte großen Wert darauf, dass ihre Töchter gut in der Schule und sozial integriert waren. Sie verbot ihnen weder zu Geburtstagsfeiern noch abends auszugehen, ließ sie sogar bei Freundinnen übernachten. »Sie vertraute uns, glaube ich. Aber wenn sie sich verabschiedete, ehe sie mich irgendwo absetzte, lehnte sie sich immer zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr: ›Denk daran.‹« Sie lacht, es klingt zugleich zärtlich und traurig.
»Woran sollten Sie denken?«, wage ich zu fragen.
»Denk daran, unberührt zu bleiben. Das war’s, was sie mir sagte.« Und dieses schreckliche, heilige, unablässig wiederholte Gebot hatte sie immerzu im Ohr. Wie eine mahnende innere Stimme, die sie nicht mehr loswurde. »Ich wollte endlich aufhören, so verkrampft zu sein. Nach meiner Scheidung – die für meine Mutter eine furchtbare Enttäuschung war – fühlte ich mich stark. Ich wollte mein Leben selbst in die Hand nehmen und hatte so eine Ahnung, dass mein Körper mir einiges zu bieten hatte. Ich wollte Lust empfinden, mich einfach nur hingeben. Gelungen ist mir das nie.«
Dabei lernt sie einen älteren Mann kennen, den sie als sinnlich und geduldig beschreibt. Sie lieben sich oft und lange. Er ermutigt sie, »sich gehen zu lassen«. »Ich versuchte es«, versichert sie mir. »Ich versuchte es mit ganzem Herzen, aber es gelang mir nicht.«
Ich merke, dass sie um den heißen Brei herumredet, dass all die Geschichten, die sie mir erzählt, so schön und eindringlich sie auch sein mögen, nicht das sind, was sie eigentlich sagen will. Diese Frau hat ein Geheimnis. Ich nehme eine Zigarette und biete ihr auch eine an. Mein Feuerzeug funktioniert nicht, egal wie oft ich schnipse. Sie dreht sich zu unserem Nachbarn hin und bittet ihn um Feuer. »Genau so hat es angefangen«, sagt sie. »Ich habe mich zu ihm umgedreht und ihn gefragt, ob er Feuer hat. Er hat mir die Zigarette angezündet, und da wir beide allein waren, hat er mir vorgeschlagen, mich zu ihm zu setzen. Er fing an zu reden, ganz normal. Er hat mir von sich erzählt, als wäre ich eine alte Freundin und als vertraue er mir. Ich war wie gebannt. Ich fühlte mich so sehr zu ihm hingezogen, dass ich es mit der Angst bekam. Ich wäre am liebsten für immer dort sitzen geblieben, um ihm zuzuhören, und zugleich sagte ich mir, ich sollte besser schauen, dass ich wegkomme. Er machte nämlich nicht viel Umschweife.«
Mit geröteten Wangen gesteht sie mir, dass ihr Mann sie dann anrief und dass sie seine Anrufe zum ersten Mal, seit sie sich kannten, wegdrückte und schließlich sogar ihr Handy ausstellte. Der Fremde und sie unterhielten sich lange. Sie war schon ein bisschen betrunken, als er ihr gegen elf Uhr vorschlug, mit zu ihm zu kommen auf ein letztes Glas und einen Kuss. Und das, was danach kommt. Sie traute sich nicht. Sie bekam Angst und floh, als wäre sie nicht ganz bei Trost, ohne eine Erklärung. Auf dem Weg nach Hause hat sie eine Freundin angerufen und gebeten, ihr ein Alibi zu geben. Sie sollte sagen, sie seien zusammen im Kino gewesen. Dann hat sie die Zusammenfassung des Films, der an jenem Abend lief, auswendig gelernt und anschließend ihrem Mann davon erzählt. »Ich habe mir Vorwürfe gemacht. Aber wert war es das trotzdem.«
Ich habe Marokko vor mehr als fünfzehn Jahren verlassen. Mit der Zeit und der Distanz habe ich sicher vergessen, wie schwierig es war, ohne die Freiheiten zu leben, die für mich so selbstverständlich geworden sind. In Frankreich kann man sich vermutlich kaum vorstellen, wie schizophren es sich anfühlt, seine Sexualität in einem Land zu entdecken, in dem der Islam Staatsreligion ist und alle Gesetze extrem konservativ sind.
Ich bin Marokkanerin, und in Marokko gilt für mich das muslimische Recht, egal wie mein persönliches Verhältnis zur Religion ist. Als ich ein Teenager war, mussten meine Eltern mir daher erklären, dass ich keine intimen Beziehungen außerhalb der Ehe haben oder mich auch nur mit einem Mann, der nicht zu meiner Familie gehört, an einem öffentlichen Ort zeigen durfte, obwohl dies nicht ihrer persönlichen Überzeugung entsprach. Ich verstand, dass ich nicht homosexuell sein, abtreiben oder ohne Trauschein mit einem Mann zusammenleben durfte. Sollte ich, da ich ja nicht abtreiben konnte, ein uneheliches Kind bekommen, machte ich mich ebenfalls strafbar, und das Baby hätte keinerlei zivilen Status. Es wäre ein Bastard. Das neue Familiengesetz, das seit 2004 in Kraft ist, erlaubt zwar, ein uneheliches Kind standesamtlich anzumelden, aber wenn der Vater es nicht anerkennt, muss die Mutter aus einer vorgegebenen Liste einen Namen auswählen, der den Zusatz Abd enthält. Ohne einen bekannten Vater ist das Kind gesellschaftlich geächtet und ökonomisch benachteiligt. Darum, und weil sie nicht wegen außerehelichen Beischlafs verhaftet werden wollen, setzen Hunderte von Frauen illegal gezeugte Kinder aus. Laut der unabhängigen Frauenhilfsorganisation INSAF (Institution Nationale de Solidarité Avec les Femmes en détresse) wurden 2010 in Marokko pro Tag durchschnittlich 24 Babys ausgesetzt. Das bedeutet jährlich 8000 bis 9000 Babys ohne Identität und Familie, ganz abgesehen von den toten Neugeborenen, die in Mülltonnen gefunden werden.
Kurz gesagt, es gibt kein Heil außerhalb der Ehe. Denn während sich die Gesellschaft dem Körper des Mannes gegenüber, der sich vergnügen will, nachsichtig zeigt, ist den Frauen außerhalb des ehelichen Schlafzimmers nichts erlaubt. Das ist hart, aber so ist nun einmal das Gesetz. Die Realität sieht natürlich anders aus, und viele Menschen umgehen diese Regeln. Selbst die Polizei, die doch die Einhaltung der Vorschriften durchsetzen müsste, lässt für ein paar Scheine gern mal fünfe gerade sein. Man muss nur in die Diskos von Marrakesch, Casablanca oder Rabat gehen, um das mit eigenen Augen zu sehen. Auf diese Weise wird jedoch ein Klima der Verwirrung und Angst geschaffen. Da alles vollkommen willkürlich ist. Da es genügt, einmal zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein oder an die falsche Person zu geraten. Für jeden gelten andere Gesetze, je nachdem, ob er reich oder arm ist,...