Kapitel 2: Was sind eigentlich Sprache und Schrift? Erwerbsgegenstand gesprochene und geschriebene Sprache
Michael Becker-Mrotzek
In diesem Kapitel wird mit Blick auf sprachliche Bildungsprozesse sowie darauf bezogene Maßnahmen erläutert, worin die Besonderheiten des Lerngegenstandes Sprache liegen: Was verstehen wir unter Sprache und Schrift? Im ersten Teil werden dazu einige grundlegende Begriffe wie Sprache, Spracherwerb, Sprachtheorie, Sprachfunktionen sowie Mündlichkeit und Schriftlichkeit erläutert. Diesen Erläuterungen wird ein funktionales Sprachverständnis zugrunde gelegt, um neben den linguistischen Aspekten im engeren Sinne auch den Zusammenhang von Sprache und sprachlichen Bildungsprozessen zu berücksichtigen. Im zweiten Teil wird dann aufgezeigt, welche sprachlichen Teilfähigkeiten junge Menschen erwerben müssen, um in literalen Gesellschaften mündlich und schriftlich angemessen handeln zu können. Dazu werden die wichtigsten Eigenschaften der unterschiedlichen linguistischen Einheiten von den Lauten über Wörter und Sätze bis zu sprachlichen Handlungen und der geschriebenen Sprache beschrieben und an Beispielen illustriert.
Einleitung: Sprache, Sprachtheorie und sprachliche Bildung
Im vorliegenden Band geht es um die Entwicklung von Konzepten zur Förderung der sprachlichen Bildung von Kindern und Jugendlichen. Dabei verweist der Begriff der sprachlichen Bildung auf zwei unterschiedliche Aspekte, nämlich sowohl auf den Bildungsprozess selbst, d. h. den sich bildenden Menschen, als auch auf das Ergebnis, den gebildeten Menschen. Der Prozess lässt sich gleichermaßen mit den Begriffen Entwicklung, Aneignung und Vermittlung fassen, womit sich schon andeutet, dass es sich hierbei um einen komplexen und vielschichtigen Prozess handelt. Das hängt unmittelbar mit dem besonderen Objekt der Bildung zusammen, der Sprache. Denn sprachliche Bildungsprozesse sind zugleich Entwicklungs-, Aneignungs- und Vermittlungsprozesse: Entwicklung insofern, als es sich bei der Sprachfähigkeit um eine spezifisch menschliche Fähigkeit handelt, die auf angeborenen Sprachlernvoraussetzungen beruht, die sich entfalten, wenn die nötigen äußeren Voraussetzungen gegeben sind. Aneignung in dem Sinne, dass Sprache als gesellschaftliches Werkzeug der Verständigung immer schon vorliegt, das sich jeder Einzelne aktiv zu eigen machen muss. Und schließlich Vermittlung, weil diese Prozesse ohne die gezielte Unterstützung durch kompetente Sprecher nicht gelingen. Das Resultat gelingender sprachlicher Bildungsprozesse kann man als sprachliche Kompetenz mit ihren vielfältigen Facetten beschreiben. Damit ist die Fähigkeit gemeint, mithilfe der gesprochenen und geschriebenen Sprache ganz unterschiedliche kommunikative, kognitive und soziale Anforderungen zu bewältigen.
Der Begriff der Bildungssprache verweist – im Unterschied zu dem oben erläuterten allgemeinen Sprachbegriff als angeborener Sprachlernfähigkeit – nicht nur auf einen besonderen Erwerbskontext, nämlich den der institutionellen Bildung in Kita, Schule und weiteren Einrichtungen, sondern zugleich auch auf den Verwendungskontext Bildung, der sprachliche Fähigkeiten in besonderer Weise erfordert. Bildungssprache ist nicht nur das Ergebnis, sondern zugleich auch Medium und Voraussetzung gelingender Bildungsprozesse. Bildungssprache stellt diejenigen sprachlichen Ressourcen bereit, mit denen wir uns über komplexe, abstrakte und abwesende Sachverhalte mit anderen verständigen und uns diese selber aneignen können. Dieser enge Zusammenhang von Bildung – oder allgemeiner Wissen – und Sprache ist der Tatsache geschuldet, dass wesentliche Teile des menschlichen Wissens sprachlich gefasst sind. Und je komplexer die Sachverhalte sind, desto differenzierter müssen die eingesetzten sprachlichen Mittel sein. Um sprachliche Bildungsprozesse – verstanden als Aneignung der Bildungssprache und als Bildung mithilfe von Sprache – zu verstehen und zu fördern, wird eine Sprachtheorie benötigt, die diesen spezifischen Zusammenhang von Sprache und Wissen zu erfassen in der Lage ist.
1 Sprache als Gegenstand von Bildungsprozessen
Sprachliche Bildungsprozesse haben es mit einem spezifischen Gegenstand zu tun, der sich in vielerlei Hinsicht von anderen Lerngegenständen unterscheidet. Denn der Sprache kommt in der Entwicklung eines jeden Menschen wie der Menschheit insgesamt eine besondere Bedeutung zu; die Sprachfähigkeit gehört zu den konstitutiven Eigenschaften des Menschen, die ihn etwa vom Tier unterscheidet. Oder anders ausgedrückt: Der Mensch ist von Geburt an mit der Fähigkeit ausgestattet, sich seine Umgebungssprache relativ schnell und mühelos anzueignen, wenn die erforderlichen Voraussetzungen in seiner Umgebung gegeben sind. Damit wird eine vermittelnde Position zwischen streng nativistischen Ansätzen, die von einem weitestgehend autonomen Reifungsprozess beim Spracherwerb ausgehen, und interaktionistischen Ansätzen eingenommen, die in der Interaktion zwischen Kind und (erwachsenen) Bezugspersonen den wesentlichen Antrieb für den Spracherwerb sehen.
Sprache unterscheidet sich aber auch in der Sache von anderen Lerngegenständen. In einer gewissen Zuspitzung lässt sich sagen, dass historische Zusammenhänge oder Naturgesetze, die ebenfalls Lerngegenstände darstellen, unabhängig von ihrer Aneignung durch Lerner existieren. Es ist Aufgabe der jeweiligen Fachdidaktiken, die je relevanten Gegenstände auszuwählen und didaktisch so aufzubereiten, dass sie gelernt werden können. Anders bei der Sprache: Sie ist das Ergebnis eines langen evolutionären Entwicklungsprozesses, in dem die Sprache nicht nur an die kognitiven, physiologischen und weiteren Möglichkeiten des Menschen angepasst, sondern zugleich auch auf seine kommunikativen Bedürfnisse bezogen wurde. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Die verschiedenen Sprachen der Welt bedienen sich eines sehr begrenzten Inventars von ca. 80 unterschiedlichen Lauten, das durch die physiologischen Möglichkeiten des Menschen beschränkt ist. Alle Sprachen nutzen nur solche Laute, die der Mensch mit seinen Lautwerkzeugen erzeugen und mit seinem Hörsystem auch wahrnehmen kann. Sprache existiert insofern nicht unabhängig vom Menschen, sondern ist ein konstitutiver Bestandteil. Damit ist die grundsätzliche Lernbarkeit sichergestellt. Berücksichtigt man diese verschiedenen Aspekte, kommt der Sprache als Lerngegenstand in mehrfacher Hinsicht ein besonderer Status zu.
Sprache ist jedoch ein abstraktes Konstrukt, das sich nur zeigt, wenn sich Menschen sprechend miteinander verständigen – auf das Schreiben und Lesen kommen wir später. Sprache ist nur im Sprachgebrauch wahrnehmbar, sie hat keine materielle Substanz. Dabei machen die Menschen in der Regel intuitiv und routinisiert von den sprachlichen Mitteln Gebrauch, die ihre jeweilige Sprache bereithält. Die gesellschaftlich immer schon vorhandenen sprachlichen Mittel eignen Kinder sich im Spracherwerb an, indem sie mit (kompetenten) Sprecherinnen und Sprechern kommunizieren, um ihre eigenen Bedürfnisse zu realisieren. In diesem Sinne sind Sprache, Sprachgebrauch und Sprachaneignung aufs Engste miteinander verwoben; dieser Zusammenhang hat auch Auswirkungen auf die Erforschung sprachlicher Bildungsprozesse.
2 Linguistik und Sprachtheorie
Die Linguistik hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Sprachsystem, wie es sich im Sprachgebrauch zeigt, zu rekonstruieren. Eine wichtige Voraussetzung dafür war die Entwicklung der Schrift, denn erst mit der dauerhaften Speicherung sprachlicher Äußerungen waren die Bedingungen für die Möglichkeit einer systematischen Sprachanalyse gegeben.
Aufgabe der Linguistik ist es, aus sprachlichen Äußerungen das dahinter liegende abstrakte System der sprachlichen Mittel zu rekonstruieren. Sprache hat keine materielle, greifbare Qualität, sondern ist ein abstraktes System, das den Äußerungen implizit zugrunde liegt. Auch Wörterbücher und Grammatiken sind nur ein materieller Ausdruck abstrakter Rekonstruktionen, Modelle der Sprache – aber eben nicht die Sprache selbst. Ziel einer Sprachanalyse ist es, eine Sprachtheorie zu entwickeln, die die dem Sprachgebrauch zugrunde liegenden Regeln möglichst umfassend, eindeutig und sparsam beschreibt. Eine solche Theorie ist etwa in der Lage, korrekte von falschen Äußerungen zu unterscheiden, Möglichkeiten der Wortbildung aufzuzeigen oder auch mögliche von unmöglichen Lautfolgen einer Sprache anzugeben.
Dabei liegen der linguistischen Rekonstruktion von Sprache – wie jeder Theoriebildung – einige sehr grundlegende Annahmen über das, was Sprache ausmacht und was die Theorie leisten soll, zugrunde. Unterschiedliche Grundannahmen führen zu unterschiedlichen Beschreibungen oder...