1 Familiengeschichten
Geheimnisse, sagt man, gibt es in jeder Familie. Mein Großvater war unseres. Gesprochen wurde kaum über ihn. Ich selbst habe meinen Großvater nie kennengelernt, auch mein Vater hat keinerlei Erinnerung an ihn. Trotzdem war er in gewisser Weise immer präsent, einfach weil er nicht da war und weil sein Verschwinden so viele Fragen unbeantwortet ließ.
Als Kind habe ich mir oft vorgestellt, wie es wäre, meinem geheimnisvollen Großvater zu begegnen, und auch wenn ich inzwischen weiß, dass er seit vielen Jahren tot ist, ist der Wunsch, ihn kennenzulernen, noch genauso stark wie zuvor. Wenn ich ihm auch nie gegenüberstehen und mit ihm sprechen werde, so möchte ich doch wissen, wer er war, mich auf seine Spuren begeben und seine Geschichte erzählen – eine Geschichte, die von Liebe und Verrat handelt, von Verbrechen und Krieg, von Freundschaft und Vertrauen, Macht und Geld, die aber auch eine Familiengeschichte ist, die Geschichte meiner Großeltern.
Ich habe meinen Vater oft gefragt, ob er nicht doch irgendeinen klitzekleinen Erinnerungsfetzen hat, irgendetwas, und sei es noch so verschwommen. Doch er kann sich an nichts erinnern, er war einfach zu klein, als sein Vater die Familie verließ.
Meine Großmutter blieb nach der Enttäuschung, die mein Großvater für sie war, nicht lange allein. Sie lernte Wolfgang Kleinert kennen – eine neue Liebe, ein neuer Vater für ihren Sohn. Zwei Geschwisterkinder wurden geboren, mein Vater adoptiert. So hätte er aufwachsen können in einer ganz normalen Familie, ohne je einen Gedanken an diesen anderen Vater zu verschwenden, doch so kam es nicht.
Seit er ungefähr zehn Jahre alt ist, besucht mein Vater manchmal seine Großmutter, und zwar immer allein, ohne seine beiden Geschwister. Sie heißt Charlotte, aber weil sie in der Nähe der Jannowitzbrücke wohnt, nennt er sie Oma Jannowitzbrücke. Wenn er dort ist, was nicht sehr häufig vorkommt, brät sie ihm meistens Buletten mit Kartoffelbrei. In den Brei macht sie eine Kuhle und gießt etwas zerlassene Butter hinein – das weiß Peter noch ganz genau. Es ist schon komisch, wie selektiv unser Erinnerungsvermögen arbeitet, wie willkürlich einiges hängenbleibt, während anderes in die Tiefen des Unterbewusstseins entgleitet.
Oma Jannowitzbrücke lebt allein in einer recht kleinen Wohnung. In ihrem Schlafzimmer steht eine Kommode, auf der sie mehrere Fotos arrangiert hat. Eines davon zeigt einen jungen Mann, blond und lächelnd. «Das ist dein Vater», sagt sie.
Sein Vater also. Noch einer. Zu Hause warten Mama und Papa, Bruder und Schwester, und hier aus diesem altmodischen Bilderrahmen lächelt ihn sein Vater an. Was fängt man an mit so einem Wissen?
Wenn er seine Mutter nach dem Mann vom Foto fragt, seinem Vater, nennt sie ihn nur «das Schwein», denn er hat alles verraten, woran sie glaubt: ihre Liebe, ihre Familie und die Idee, für die sie gemeinsam gekämpft haben, das sozialistische Deutschland. Inge ist maßlos enttäuscht von ihm, in jeglicher Hinsicht, persönlich wie politisch.
Es gibt also einen Zusammenhang zwischen dem lächelnden Mann auf dem Foto und dem Schmerz in den Augen seiner Mutter, eine Erkenntnis, die vor allem dazu führt, dass mein Vater nicht weiter nachfragt. Er will seine Mutter nicht traurig machen. Außerdem ist er mit anderen Dingen beschäftigt: in die Schule gehen, mit den Geschwistern spielen oder streiten. Die Eltern sind nur selten zu Hause, sie haben zu tun mit dem Aufbau des Landes.
Als mein Vater älter wird, beginnt er, doch wieder zu fragen. Er kann nicht sehr viel herausfinden, aber was er erfährt, bildet den Grundstock unseres Familiengeheimnisses: Mein Großvater ist jüdisch wie meine Großmutter, aber im Gegensatz zu ihrer Familie hat seine Berlin nie verlassen. Die Nazis deportieren ihn nach Auschwitz, da ist Heinz noch ein sehr junger Mann. Wie durch ein Wunder überlebt er. Als Inge ihm das erste Mal begegnet, ist er damit beschäftigt, im vom Krieg verwüsteten Weimar die Freie Deutsche Jugend aufzubauen. Sie arbeiten zusammen, kommen sich näher, heiraten, mein Vater kommt zur Welt. Zum Zeitpunkt, als die DDR gegründet wird, ist die Ehe schon zerrüttet, wenig später zerbricht sie ganz. Heinz hatte andere Frauen gehabt – der erste Verrat.
Seit 1949 arbeitet er in Berlin, 1952 wird er zum Stellvertreter Erich Honeckers ernannt, der damals selbst noch relativ jung der Freien Deutschen Jugend vorsteht. Man könnte sagen, mein Großvater zählt zum engeren Kreis der Macht – wenn auch an dessen Rand.
Dann der zweite Verrat: Er flüchtet in den Westen. Hals über Kopf. Ohne Vorwarnung. Ohne Erklärung. Aber mit einem Koffer voller Geld, das der FDJ gehört. Dreihunderttausend Mark. West! Ein Verräter also, ein Bandit, «das Schwein».
Die Ereignisse, die letztlich zum Zusammentreffen meiner Großeltern führen, nehmen ihren Anfang damit, dass meine Großmutter Inge und ihre Familie 1937 die Flucht aus ihrer Heimatstadt antreten. Sie müssen fliehen, weil sie als Juden nicht mehr erwünscht sind. Dass sie hellsichtig die drohende Gefahr rechtzeitig erkennen, rettet ihnen das Leben. Der Entschluss, zu gehen, fällt ihnen nicht leicht, denn Berlin ist ihnen Heimat und Lebensmittelpunkt.
Inge, ihre Schwester Lolo und die Eltern bewohnen vier Zimmer in einem schmucken Gründerzeithaus mit großzügigen Fensterfronten und gepflegtem Vorgarten. Die Hektorstraße 18 war auch damals schon eine feine Adresse – gleich um die Ecke vom Ku’damm. Der Familienvater Ernst Liechtenstein, gestandener Geschäftsmann und Direktor der Textilfirma Jakob & Richter, ermöglicht mit seinem Verdienst Frau und Töchtern ein weitgehend sorgenfreies Leben. Die Mädchen besuchen eine Privatschule. Am Wochenende stehen Ausflüge mit dem Firmenwagen in Berlins Umgebung auf dem Programm. Inge und Lolo sind nicht ganz zwei Jahre auseinander. Sie tragen fast immer dieselben Kleider, als wären sie Zwillinge. Fotos aus dieser frühen Berliner Zeit zeigen eine Bilderbuchfamilie: Vater Ernst im weißen Hemd, Mutter Hedwig im modischen Zwanziger-Jahre-Kostüm, ein bunter Sonnenschirm in der Hand, links und rechts die Töchter in identischen Sommerkleidchen.
Mitte der dreißiger Jahre findet diese Idylle ein jähes Ende, auch wenn die Eltern so gut es geht versuchen, sich gegenüber den Kindern nichts von den Sorgen anmerken zu lassen, die sie quälen. Anfangs gelingt das ganz gut, doch schon bald zeigt es sich, dass die politischen Veränderungen auch vor ihrem Familienalltag nicht haltmachen.
Plötzlich gibt es kein Weihnachtsfest mehr. Der Vater will es nicht mehr feiern, weil es Hitler in einer seiner Hasstiraden als deutsches Fest bezeichnet hat. Es ist ein trauriger Dezember: kein Weihnachtsbaum, keine Geschenke und kein bunter Teller. Stattdessen bemühen sich Hedwig und Ernst mehr schlecht als recht, Chanukka zu zelebrieren, auch wenn zunächst keiner so recht weiß, wie das eigentlich geht und wann welche Kerzen angezündet werden.
In der Schule lernen die Töchter seit neuestem Hebräisch und beschäftigen sich mit der jüdischen Religion, die bisher in ihrem Leben kaum eine Rolle spielte. Vielleicht zwei oder drei Mal im Jahr sind sie in die Synagoge gegangen – das war alles, ansonsten unterschied sich ihr Alltag in keiner Weise von dem der Nachbarskinder. Doch nun soll sich alles ändern. Mit der Arisierung seines Betriebs verliert Ernst Liechtenstein seine Anstellung und Existenzgrundlage. Noch glaubt er, dass die Nazis sich nicht lange halten werden, dass die Barbarei, die wie ein böser Traum über sein geliebtes Deutschland hereingebrochen ist, in wenigen Jahren wieder verflogen sein wird. Es gilt also durchzuhalten und sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Doch dass dann seine Tochter Lolo das Gymnasium verlassen muss, ist zu viel für Ernst. Er erleidet einen Herzinfarkt. Kaum ist er nach einigen Wochen im Sanatorium wieder zu Hause, beginnen die Eltern, die Auswanderung zu planen.
Dieser Schritt wird der Familie nicht nur die Heimat kosten, sondern sie auch ein für alle Mal auseinanderreißen. Die große Schwester Lolo geht als Erste. Im Sommer 1937 reist Hedwig mit ihr nach Nottingham, wo sie bei ihrer Tante unterkommen soll. Zumindest eins der Kinder ist nun in Sicherheit. Doch schon bald verlassen auch die Eltern mit Inge Berlin. Sie gehen nach Holland, beziehen eine Wohnung in der Amsterdamer Beethovenstraat inmitten eines Viertels voller Flüchtlinge. Es gibt also einiges Vertraute in der Fremde. Der Vater findet schnell wieder Arbeit, Inge besucht die Schule und lernt die neue Sprache problemlos. Es scheint, als hätte die Familie Liechtenstein Glück gehabt, als wäre sie dem Grauen gerade noch entronnen.
Doch dann erleidet Ernst den nächsten Herzinfarkt. Er stirbt – an gebrochenem Herzen, wie es später heißen wird. Jetzt sind Hedwig und Inge auf sich allein gestellt. Um die Wohnung halten zu können, nehmen sie Untermieter auf: die Familie Leiser, der in Berlin bis zu ihrer Flucht eine Schuhladenkette gleichen Namens gehörte. Da Liechtensteins nun ohne Ernährer sind, muss Inge die Schule verlassen und sich nach einem Beruf umsehen. Etwas Praktisches soll es sein, denn sie plant, möglichst bald nach Palästina auszuwandern. Viele der neuen Freunde, die sie in Amsterdam gefunden hat, sind Zionisten. Gemeinsam träumen sie vom Leben im Gelobten Land, vom Duft der Orangenbäume, dem Leuchten der weißen Städte am Meer. Inge beschließt, Gärtnerin zu werden, um mit den eigenen Händen die zukünftige Heimat zum Blühen zu...