3. Verhalten dient der Befriedigung von Bedürfnissen
Wollen wir das Verhalten von Menschen erklären und verstehen, so müssen wir uns fragen, was sie brauchen, um sich gut entwickeln und möglichst gesund bleiben zu können. Erfahrungen, die solche grundlegenden Bedürfnisse befriedigen, gewährleisten – in Analogie zum körperlichen Überleben – emotionales Überleben und inneres Gleichgewicht. Deshalb bezeichnen Bedürfnisse das, was ein Lebewesen zu seiner Erhaltung und Entfaltung braucht (Bischof, 2008). Sie lösen zielgerichtetes Verhalten aus, um ihre Befriedigung sicherzustellen. Bedürfnisse lassen sich am besten als Diskrepanz zwischen einem situativen Ist-Wert und einem angestrebten Soll-Wert beschreiben. Diese Diskrepanz motiviert Verhalten. Die Stärke eines Bedürfnisses ist im Sinne einer Persönlichkeitseigenschaft zu verstehen und definiert den Soll-Wert (Asendorpf, 2004). Der Verlauf der Bedürfnisbefriedigung ist von Affekten begleitet. Je nach Gelingen empfinden wir angenehme bzw. unangenehme somatische Marker. Auch die Bezeichnung der Bedürfnisse als „subkognitive Melder“ stellt den Bezug zum Impulsiven System her (Kuhl, 2001). Werden diese Körpergefühle bewusst, so kann ihre Weiterverarbeitung zum Erleben von Emotionen wie z. B. Freude, Frustration usw. führen.
Jedem Bedürfnis entspricht eine bestimmte Inhaltsklasse von Verhaltenszielen, z. B. nach Geborgenheit, Anerkennung usw. Welche grundlegenden menschlichen Bedürfnisse gibt es nun eigentlich?
3.1 Typen von Bedürfnissen
Pittman und Zeigler (2006) kommen in ihrem Überblicksartikel zu insgesamt drei großen Bedürfnisgruppen. Es handelt sich dabei um
- physiologische Bedürfnisse, wie z. B. Hunger und Durst,
- auf das Selbst bezogene Bedürfnisse, wie z. B. Selbstwert, Selbsterweiterung usw.,
- Bedürfnisse, die mit sozialen Beziehungen zu tun haben, z. B. Zugehörigkeit, Fürsorge usw.
Für diese Bedürfniscluster sind im Laufe der Zeit mehrere Bedürfnis-Listen entwickelt worden, die nicht endgültig abgeschlossen werden können. Sie können quasi beliebig weit differenziert werden (Bischof, 2008). Lässt man die eher physiologischen Bedürfnisse beiseite, so bleiben zwei Inhaltsklassen, die sich auf Bindung und Autonomie beziehen (Tab. 3.1).
Zugehörigkeit Wärme Willkommen sein Harmonie Geborgenheit Zuverlässigkeit Gesehen werden Empathie Wertschätzung Lob | Einfluss, Führen wollen Leistung Sich profilieren Konkurrieren Selbstbehauptung Freiraum Selbst machen, selbst können Neugier Eigene Wege gehen Experimentierbereitschaft |
Tabelle 3.1: Beispiele wichtiger Bedürfnisse gruppiert nach Motivationsrichtung
Die Befriedigung von Autonomie-Bedürfnissen richtet sich z. B. darauf, eher unabhängig von anderen sein zu wollen, bestimmte Vorgehensweisen nach eigener Einsicht und sein Leben entsprechend eigener Vorstellungen und Werte selbstständig zu gestalten. Hierher gehört auch der Anspruch, selbstbestimmte Entscheidungen treffen zu können sowie Auswahlmöglichkeiten zu nutzen. Solche Verhaltensweisen beeinflussen auch das soziale Geschehen in Bezug auf Rangordnung und Dominanz. Dabei steht das Streben nach Selbstverwirklichung und Selbsterweiterung, d. h. die Erweiterung des Ich durch Ausüben von Einfluss durch neue Erfahrungen, Wissen, Können und Beziehungen, im Vordergrund.
Ebenso tief in unserer Natur verankert ist das Bedürfnis nach Bindung und Geborgenheit. Für das innere Gleichgewicht sind hier die Nähe und Harmonie zu relevanten Bezugspersonen wichtig. Insbesondere will man sich als Teil eines schützenden und sicheren Beziehungsnetzwerkes fühlen, das ein Stück Heimat und Geborgenheit vermittelt. Bindungsfördernde Lebensbedingungen vermitteln ein Gefühl des Vertrauens, der Wertschätzung und des Willkommenseins. Solche Bedürfnisse richten sich auch darauf, in seinen Anliegen und Zielen gesehen und unterstützt zu werden.
Diese Unterscheidung ist im Rahmen des therapeutischen Settings notwendig und vermittelt entscheidende Hinweise zum Verständnis des Patienten. So lässt sich z. B. eine für die Therapie fruchtbare Beziehungsgestaltung nur realisieren, wenn sie komplementär zu dessen zentraler Motivationsrichtung gestaltet wird.
Wie ist es möglich, dass Bedürfnisse derart prägenden Einfluss auf die Persönlichkeit haben können? Die Antwort auf diese Frage finden wir meist in unserer Lerngeschichte. Dort herrschten Bedingungen, die einerseits eine völlig unproblematische Befriedigung bestimmter Bedürfnisse ermöglichten. Dabei fand ein einfacher Abgleich zwischen Ist- und Soll-Wert statt. Ein solches Bedürfnis wird in der Gegenwart kaum gespürt. Der subkognitive Melder reagiert ja nur auf Diskrepanzen. Deshalb schenken wir diesem Abgleich keine weitere Beachtung und nehmen die Befriedigung solcher Bedürfnisse auch als selbstverständlich hin. Sie werden uns deshalb selten bewusst. Andererseits gibt es Bedürfnisse, die in unserem Leben eine besondere Rolle spielen, da wir um ihre Befriedigung haben kämpfen müssen. Dadurch bekommen sie eine besondere intrinsische Position zugewiesen. Solche stehen wie Obelisken in unserer Bedürfnislandschaft und dirigieren unser Verhalten – oftmals bis heute. Wegen ihrer herausragenden Rolle wurden sie von Sulz (1994) als zentrale Bedürfnisse bezeichnet (Tab. 3.2).
Zugehörigkeitsbedürfnis | Frustrierendes Elternverhalten | Emotionale Reaktion des Kindes | Spätere Verhaltenstendenzen |
Willkommensein, dazugehören | Das Kind zwar wahrnehmen, aber keine positive Reaktion auf sein Kommen oder Dasein haben oder zeigen | Angst vor Ablehnung und Feindschaft, Existenzangst, sich ausgeschlossen fühlen | Eher schizoid (beziehungsmeidend, misstrauisch, rational) |
Geborgenheit, Wärme | Dem Kind fast nie warmherzige Nähe zum Auftanken von emotionaler Wärme anbieten | Angst vor Alleinsein, Verlustangst, ungeborgen fühlen | Eher dependent (Nähe und Geborgenheit suchend, unterordnend) |
Schutz, Sicherheit, Zuverlässigkeit | Nicht da sein, wenn das Kind Schutz sucht; dem Kind nicht zutrauen, dass es sich allein außer Sichtweite sicher bewegen kann | Angst, äußeren Gefahren allein ausgesetzt zu sein; Angst vor Unzuverlässigkeit | Sich der Verfügbarkeit von Menschen versichern – nicht allein sein können |
Selbst machen, selbst können | Dem Kind etwas, das es noch nicht so gut kann, aus der Hand nehmen und selbst machen | Insuffizienzgefühl | Unselbstständigkeit |
Zwei gleichstarke Bezugspersonen haben | Ein Elternteil ist dem anderen völlig unterlegen, sodass das Kind dem überlegenen voll ausgeliefert ist | Fühlt sich vom Schwachen im Stich gelassen, dem Starken ausgeliefert, braucht dessen Liebe | Selbstunsicherheit, evtl. Dependenz |
Schuldfreiheit | Eltern machen dem Kind ständig Schuldgefühle | Schuldgefühle, Strafangst, Schuldangst, schlechtes Gewissen | Zwanghaftigkeit, Selbstunsicherheit |
Missbrauchsfreiheit | Emotionaler... |