Vorwort
»Unsre Wissenschaft muß uns eine Kunst lehren, welche vor allem den Erzieher im hohen Grade fortbildet (…)«
Johann Friedrich Herbart
Dieses Buch markiert den vorläufigen Abschluss einer Reihe von Überlegungen (Hechler 2014, 2015, 2016), die ihren Ausgang in der Frage gefunden haben, wie das Lernen von Schülerinnen und Schülern, die unter besonderen und erschwerenden soziokulturellen und sozioemotionalen Bedingungen aufwachsen, besser erreicht werden kann. Letztendlich sind es immer spezifische Herausforderungen einer professionellen Praxis, die zum Nach-, Weiter- und vielleicht auch zum Umdenken innerhalb der diese Praxis begleitenden Disziplin anregen. Und was als das Bemühen um eine spezifische Antwort auf eine spezifische professionelle Problemstellung seinen Anfang nahm, erlangt im weiteren Verlauf nicht selten auch über den begrenzten Bereich der Problemstellung hinaus an Bedeutung.
In unserem Fall haben wir es, glaubt man den einschlägigen Veröffentlichungen, vermehrt mit Kindern in der Schule zu tun, die unsichere Bindungsmuster aufweisen (Uhl 2013) und in einigen, gar nicht so seltenen, Fällen Verhaltens- und Erlebensweisen im Unterricht zeigen, die an Reaktionen erinnern, die wir aus den Lehrbüchern der Psychotraumatologie kennen (Lang 2015; Lohmann 2016; Zimmermann 2016; Kohler-Spiegel 2017). Wie immer stellt sich dann die Frage, ob diese Auffälligkeiten zugenommen haben oder ob nicht unsere Aufmerksamkeit und unser diagnostischer Blick aufgrund des wissenschaftlichen Fortschritts geschärft wurden. Wie dem auch sei, diese Fragen können wir getrost der epidemiologischen und kulturgeschichtlichen Forschung überlassen, das was bleibt, und für uns als handelnde Lehrerinnen und Lehrer1 von Bedeutung ist, ist die Faktizität der Herausforderung. Dieser müssen wir uns stellen und mit ihr einen professionellen pädagogischen und sonderpädagogischen Umgang2 finden, der das Wohl der Kinder im Allgemeinen und ihr Lernen im Besonderen in den Mittelpunkt stellt.
Klar wird mittlerweile, dass wir wohl dieser Herausforderung mit einem Rekurs auf die gängigen Unterrichtkonzepte nicht wirklich wirksam begegnen können (Ulrich/Zimmermann 2014). Auch eine Strategie des »Mehr-desselben« oder des »Viel-hilft-viel« ist zum Scheitern verurteilt. Die Lösung scheint vielmehr in der Verbindung von Rückbesinnung auf pädagogisch und sonderpädagogisch Bewährtes und Vergessenes einerseits und Nutzbarmachung humanwissenschaftlicher Meta-Theorien, die auf ihre pädagogische und sonderpädagogische Relevanz zu prüfen sind, andererseits zu liegen.
Der Blick zurück verweist uns auf den mehr als zweitausend Jahre alten Kern der Pädagogik, der damals wie heute immer noch die Grundlage der Erziehung und des Unterrichts abgibt. Im Zentrum pädagogischen Handelns stehen die Persönlichkeit des Lehrers und der Lehrerin und die erzieherische Beziehungsgestaltung. Persönlichkeit und Beziehung entscheiden letztendlich darüber, ob nachhaltig und dem pädagogischen Verständnis nach gelernt werden kann. Der Blick auf die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Humanwissenschaften schließlich konfrontiert uns insbesondere mit den Erkenntnissen der Bindungstheorie, die für erfolgreiches Lernen und Unterrichten in ihrer Bedeutung noch gar nicht erschöpfend gesichtet und fruchtbar gemacht wurden. Im Zusammenhang mit der Bindungstheorie und der Verfasstheit der hier in den Blick genommenen Kinder stehen darüber hinaus noch die Mentalisierungstheorie und die für den Unterricht relevanten traumapädagogischen Überlegungen. Und, wie sollte es auch anders sein, im Blick nach vorne findet sich, wenn man genauer hinschaut, pädagogisch Bekanntes, und der Blick zurück wird zu einem bewussteren und systematischeren durch die skizzierten aktuellen Forschungsergebnisse.
In dieser Zirkelstruktur gefangen, beginnen die folgenden Ausführungen zunächst mit Grundfragen der Pädagogik und der Sonderpädagogik und der Verortung der pädagogischen und sonderpädagogischen Theorie und Praxis im aktuellen Mainstream der evidenzbasierten Pädagogik (Ahrbeck et al. 2016), um schließlich die Bedeutung der (sonder-)pädagogischen Persönlichkeit und Beziehungsgestaltung herauszustreichen und diese als unspezifische, aber zentrale Wirkfaktoren des unterrichtlichen Geschehens auszuweisen.
Im Zentrum des Buches steht das aus den theoretischen Überlegungen und praktischen Erfahrungen abgeleitete Konzept des »Feinfühlig Unterrichtens«. Hierzu gehören sowohl didaktische Ansätze und entsprechende Unterrichtskonzepte, die Aufbereitung der Bindungstheorie für unterrichtliche Zwecke als auch das Wissen um basale Übertragungs-/Gegenübertragungsprozesse im Unterricht und eine Informiertheit über die Bedeutung des Einflusses der Gruppendynamik auf die Klasse, auf den Lehrer und die Lehrerin und auf das Lernen des einzelnen Kindes.
Aus der explizierten Bedeutung der pädagogischen Persönlichkeit und der Gestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehung ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, die didaktischen und theoretischen Bausteine des Konzepts »Feinfühlig Unterrichten« um Selbstreflexion und Fallreflexion zu ergänzen. Erst wenn ich als Lehrkraft weiß, wo meine »blinden Flecken«, meine Ängste und Hoffnungen zu finden sind, kann ich auch als Erziehungs- und Unterrichtsmittel in Erscheinung treten und mich im Dienste des Lernens der Kinder leibhaftig einbringen. Die Gefahr, dass die biographisch gewordene, nicht bewusstseinsfähige innere Struktur des Lehrers und der Lehrerin zu professionellen Deformationen führt und damit das Lernen der Kinder hemmt, ist größer, als man annehmen könnte. Gleiches gilt für die Reflexion der Dynamik der Lehrer-Schüler-Beziehung. Jenseits von Unterrichtsvorbereitung und Lehrer-Performance findet sich in der Lehrer-Schüler-Beziehung der Zugang zu den kindlichen Innenwelten und den daraus notwendig entstehenden Beziehungsgestaltungen, die ja nicht selten einem erfolgreichen Lernen im Wege stehen.
Das Aus-, Fort- und Weiterbildungsprogramm »Feinfühlig Unterrichten« ist im Grunde ein interventionspraktisches Programm. Es soll helfen, sowohl den Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft als auch mit besonders belasteten Kindern in der Schule zum Wohle dieser besser zu gestalten. Fahrlässig wäre es allerdings, wenn man diesen Ansatz nicht mit Blick auf seine Professionalisierungseffekte und auf seine behauptete Wirksamkeit einer forschenden Überprüfung unterziehen würde. So finden sich gegen Ende der Ausführungen Skizzen und auch Ergebnisse der dieses Programm begleitenden Evaluations- und Interventionsforschung.
Das Buch möchte einen kleinen Beitrag zum inklusiven Unterricht leisten, der sich insbesondere der sozioemotionalen Heterogenität der Schülerinnen und Schülern feinfühlig zuwendet. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Differenzlinien von Heterogenität – zu nennen wären an prominenter Stelle auch die sozioökonomische und die soziokulturelle Heterogenität – kommt der sozioemotionalen Verfasstheit der Kinder deswegen so herausragende Bedeutung zu, weil sie gewissermaßen den Mutterboden abgibt, aus dem heraus sich die Ich-Funktionen erst entwickeln, die dann auch erst schulisches Lernen ermöglichen. Ein inklusiver Unterricht, der die sozioemotionale Heterogenität der Schülerinnen und Schüler im Blick hat, muss immer ein die Differenz anerkennender Unterricht sein. Inklusion gelingt dann am besten, wenn Heterogenität auch anerkannt und als solche auch benannt werden kann. Wenn Differenzen nicht als individuelle Ausdrucksgestalten menschlicher Existenz erfahrbar werden dürfen, droht eine neue Homogenisierung, die die inklusive Bewegung ja gerade zu vermeiden sucht. Sozioemotionale Heterogenität bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler, wie im Übrigen wir alle, über ganz unterschiedlich ausgestaltete Innenwelten verfügen, die ihr und unser Erleben, Denken und Handeln steuern. Das erfordert von uns als Lehrerinnen und Lehrer eine höchst differenzierende Betrachtungsweise und einen individuellen, auf das jeweilige Kind bezogenen Umgang mit den Erscheinungsformen seines sozioemotionalen Zustandes – wie er sich in der aktuellen Situation zeigt, aber auch mit Blick auf sein lebensgeschichtliches Gewordensein unter Berücksichtigung der momentanen Beziehungskonstellationen. Die Chance der Heterogenität, die sich ja im Übrigen durch ihre Faktizität Geltung verschafft, ob wir das wollen oder nicht, liegt genau in der Anerkennung der Differenzen und im fördernden Umgang mit diesen. Dass dieses Unterfangen nicht selten ein konfliktreiches ist, liegt in der Natur der Sache, macht aber gerade das Entwicklungspotential dieses Zugangs aus.
Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass der Charakter des vorliegenden Buches ein durchweg pädagogischer sein soll. Das heißt, die Themen sollen hier so zur Darstellung gebracht...