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Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft

AutorMichael Knoche
VerlagWallstein Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl140 Seiten
ISBN9783835342347
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Über die vielfach unterschätzte Notwendigkeit von Bibliotheken im 21. Jahrhundert. Die Benutzer strömen in Scharen in die Lesesäle und Gruppenarbeitsräume der wissenschaftlichen Bibliotheken. Dabei scheint ihre Aufgabe in Zeiten des Internets immer unklarer zu werden: Ist nicht das Wichtigste schon im Netz verfügbar? Welche Funktion hat die Bibliothek dann noch - ist sie ein Learning Center? Ein Logistikzentrum der Information? Ein sozialer Ort? Macht Teilen und Tauschen das Wesen der Bibliothek aus? Dieses Buch handelt davon, dass wissenschaftliche Bibliotheken eine Hauptaufgabe haben, und zwar seit den ältesten Tagen von Ninive und Alexandria: Die Verantwortung für die Verfügbarkeit des Wissens. Ihr Zweck ist, Auskunft zu ermöglichen über den jeweils erreichten Stand der Erkenntnis. Die Realisierung dieser Idee wird für die einzelne Bibliothek zur Quadratur des Kreises. Bibliotheken müssen viel enger zusammenwirken als früher. Die Idee der Bibliothek funktioniert nur noch im System der Bibliotheken. Doch in Deutschland sitzen die Bibliotheken mit ihren unerledigten Gemeinschaftsaufgaben in der Föderalismusfalle. Damit die Idee der Bibliothek zur Geltung kommen kann, braucht es eine beherzte Bibliothekspolitik. Der ehemalige Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek blickt auf Geschichte und Gegenwart der Bibliotheken und fragt nach ihrer Bedeutung für die Zukunft.

Michael Knoche, 1951 in Westfalen geboren, hat Germanistik, Philosophie und Theologie studiert und eine Bibliothekarsausbildung absolviert. Er war Angestellter bei wissenschaftlichen Verlagen und von 1991 bis 2016 Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar.

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Leseprobe

Publikation oder Kommunikation


Bücher haben im Gegensatz zu unikalen Objekten, die von Archiven gesammelt werden, die Eigenschaft, in mehreren Exemplaren vervielfältigt und verbreitet zu sein. Digitale Objekte sind nicht nur mehrfach, sondern im Prinzip ubiquitär verfügbar. Sie sind nicht mehr an einen materiellen Träger gebunden, den man vorrätig halten muss und nur an einem bestimmten Ort zugänglich machen kann, sondern sie sind ohne Verlust und mit geringen Kosten beliebig kopierbar. Sie sind leicht zu verändern, permanent zu aktualisieren, ja geradezu fluid. Manchmal handelt es sich um laufend aktualisierte Textkonglomerate, die gar keine lineare Struktur mehr haben. Hinzu kommt: Wissenschaftliche Texte im Netz stammen häufig von zahlreichen Urhebern oder sind sogar nach dem Wiki-Prinzip hergestellt.

Das macht die traditionelle Sammelaufgabe der Bibliotheken, die sich auf elektronische Publikationen erweitert hat, zu einem Kunststück, wie den berühmten Pudding an die Wand zu nageln. Der Medienmix, dem Bibliotheken gerecht werden müssen, wird immer vielfältiger.

Der Buchwissenschaftler Stephan Füssel zählt einige Formen der neuesten Publikationen auf:[16] Neben den gedruckten Verlagsveröffentlichungen und den mittlerweile etablierten E-Books und elektronischen Zeitschriften gibt es zum Beispiel die Plattformen der Selbstverleger. Sie gehören noch nicht zum selbstverständlichen Sammelgut der Bibliotheken. Erst recht herausfordernd wird es, wenn Bibliotheken die Medien jenseits des klassischen Publikationsbegriffs sammeln wollen, die sogenannten Enhanced E-Books beispielsweise, in die auch Bildergalerien, Video- und Audio-Files integriert sind. Mit ihrer Hilfe können z. B. neue Operationstechniken in der Medizin anschaulich gemacht werden. Es gibt auch interaktive E-Books, die mit sozialen Netzwerken verknüpft werden können und die Leser zu Kommentaren animieren. Hier ist die Grenze zu den »Apps« (application software) für die mobilen elektronischen Geräte fließend. Mit Hilfe von Apps können Nachschlagewerke besonders gut aufbereitet werden, aber auch Primärtexte, z. B. im Bereich der Kinder- und Jugendbücher. »Der faule Osterhase«, ein Pixi-Buch des Carlsen-Verlags, ist mit Geräuschen und Mitspieleffekten angereichert.

Die Deutsche Nationalbibliothek sammelt bestimmte deutsche Webseiten, insbesondere solche von Bundesbehörden, Interessenverbänden oder Kultureinrichtungen. Das geschieht zurzeit halbjährlich. Außerdem führt die Bibliothek durch einen Dienstleister gelegentlich Abfragen (webcrawling) zu Ereignissen wie etwa zur deutschen Bundestagswahl 2017 durch. Insgesamt sind mehr als vier Millionen Netzpublikationen archiviert. Ähnlich agieren die Bayerische Staatsbibliothek und die übrigen Landesbibliotheken im Hinblick auf Webseiten ihrer Region.

Anders als die institutionellen haben thematische Webseiten fast immer den Charakter einer Publikation. Doch eine echte Archivierung wird man das Einsammeln bestimmter Elemente des Überlieferungsstroms nicht nennen können. Die dynamische Verlinkung der einzelnen Seiten ist nicht darstellbar, Vollständigkeit kann auch nicht annähernd erreicht werden. Was hier sinnvoll zu leisten ist, muss im Dialog mit der Fachwelt und der Öffentlichkeit austariert werden.[17]

Wissenschaftliche Diskussionen werden heute auch öffentlich in Blogs und auf thematisch geprägten Internetforen geführt.[18] Häufig werden Blogs von Fachgesellschaften oder Fachzeitschriften betrieben und dienen dem Austausch von Informationen, Meinungen, Ideen und Erfahrungen. Bislang kümmern sich Bibliotheken nur in Ausnahmefällen um deren Speicherung. Rechtlich gesehen, ist die Sache klar. Alle Netzpublikationen sind »unkörperliche Medienwerke« und fallen unter den gesetzlichen Sammelauftrag der Deutschen Nationalbibliothek.[19] Auch für Blogs vergibt die Nationalbibliothek wie für Zeitschriften eine ISSN (International Standard Serial Number) sowie URN (Uniform Resource Name).

Objektkennungen wie die URN sind ein ausgezeichnetes Instrument, um auf digitale Dokumente stabil zugreifen und sie zitieren zu können. Die URN ist ein eindeutiger und dauerhaft gültiger Name des Dokuments. Eine URN kann nicht direkt aufgerufen werden, sie bedarf noch einer URL (Uniform Resource Locator), die das Dokument konkret lokalisiert. Die URL ist die Internetadresse, die sich immer mal wieder ändern kann und nicht so dauerhaft ist wie die URN. Die Verbindung zwischen URN und URL stellen sogenannten Resolver her. Mit Hilfe der von Bibliotheken zugeteilten URN sind elektronische Publikationen über ihre ganze Lebensdauer identifizierbar. Eine ähnliche Funktion wie URN haben DOI (Digital Object Identifier), eine Zeichenkombination, die Verlage vor allem für Online-Artikel wissenschaftlicher Fachzeitschriften verwenden. Ihre Vergabe wird von einer eigens dafür geschaffenen internationalen Agentur kontrolliert.

Die Trennlinie zwischen dem, was im Internet zur Kommunikation gehört, und dem, was schon eine »Publikation« ist, ist schwer zu ziehen. Bibliothekare müssen sich diese Frage immer wieder neu stellen und im Fall eindeutiger Kommunikation auf eine aktive Sammlung und Archivierung verzichten. Nicht jedes Paper, zumal wenn es nicht einem förmlichen Begutachtungsprozess unterzogen wurde, muss für die Ewigkeit aufbewahrt werden. Erst recht möchte sich keine andere Institution als die Betreiber sozialer Netzwerke selber – diese allerdings mit Tendenz zur Übergriffigkeit und Krakenhaftigkeit – wünschen, deren Inhalte speichern zu müssen. Software zu sammeln, ist ebenfalls nicht Auftrag der Bibliotheken. Sie kümmern sich ja auch nicht um Gebrauchsanweisungen.

Neben die Publikation von Forschungsergebnissen ist heute auch die Publikation der zugrundeliegenden Daten getreten. Die »Forschungsdaten« sind nicht unbedingt die Endergebnisse des Forschungsprozesses, sondern werden während der Arbeit gesammelt oder generiert. Dabei ist nicht nur an Fächer wie Bioinformatik mit der »Protein Structure Database« zu denken. In den Kultur- und Geisteswissenschaften kann etwa das Protokoll einer archäologischen Ausgrabung oder ein Briefwechsel von Schriftstellern, den ein Wissenschaftler zunächst transkribiert, bevor er ihn für eine literaturgeschichtliche Studie auswertet, zu den Forschungsdaten gerechnet werden.

Das Problem besteht darin, dass die Daten in verschiedenen Medientypen, Aggregationsstufen und Formaten auftreten und eines anspruchsvollen »Forschungsdatenmanagements« bedürfen. Forschungsdaten werden auf Repositorien von Bibliotheken der Universitäten und Großforschungseinrichtungen, auf disziplinunabhängigen Repositorien wie RADAR oder disziplinspezifischen wie DARIAH für die Geisteswissenschaften vorgehalten. Zu beobachten ist derzeit ein gewisser Wildwuchs an Initiativen und Verfahren. Noch fehlt es vielerorts an klaren Vorstellungen, wie Wissenschaftler beim Umgang mit den Daten aus ihrem Forschungsprozess unterstützt werden können. Die Hochschulen befürworten den freien Zugang zu Forschungsdaten ausdrücklich, weil sie in ihnen einen Schlüssel für wissenschaftliche Innovationen im digitalen Zeitalter sehen.

Der Sinn der Aufbereitung und Archivierung von Forschungsdaten besteht darin, dass auf diese Weise die Ergebnisse einer Untersuchung nachvollziehbar, vor allem aber jenseits der Projektlaufzeit nachnutzbar werden. Wegen ihrer Nützlichkeit für andere sollten sie daher unbedingt dauerhaft zur Verfügung stehen und in passenden Umgebungen bereitgestellt werden.[20] Bibliothekare können wichtige Dienstleistungen in diesem Bereich erbringen, weil sie vielfältige Kompetenzen in der Datenmodellierung haben und in Kontakt mit den Forschern vor Ort stehen. Sie können dazu beitragen, die Publikationssysteme von vornherein unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit anzulegen. Forschungsdaten stellen daher ein wichtiges neues Aufgabenfeld der Bibliotheken dar, weil sie quasi die andere Seite der Publikationen sind.

Wie also soll der Sammelauftrag der Bibliotheken gefasst werden, nachdem sich die »Publikation« als klar umrissene Einheit und distinktes Objekt aufgelöst hat? Von Seiten der Wissenschaft wünscht man sich eine möglichst weitgehende Sammlung webspezifischer Publikationen, auch wenn es sich um hochvernetzte, dynamische, ständigem Wandel unterworfene Gebilde handelt.[21] Aber der technische Aufwand für Sammlung und dauerhaftes Zugänglichhalten ist immens. Man denke nur daran, dass die Text- und Bilddaten bei Enhanced E-Books Lesegerät-neutral gespeichert und ausgegeben werden müssen. Für manche Probleme gibt es noch keine Lösungen.

Eins ist klar: All die neuen Herausforderungen bei der Archivierung können nur dann gemeistert werden, wenn die Bibliotheken noch arbeitsteiliger und spezialisierter arbeiten. Nur – nach welchen Kriterien soll ihre Verantwortung aufgeteilt werden, nach regionalen, medienspezifischen oder fachlichen? Für bestimmte Aufgaben werden vorhandene Institutionen gestärkt werden müssen, wie die Deutsche Nationalbibliothek und die Landesbibliotheken, die einen gesetzlich festgeschriebenen Sammelauftrag für ein Bundesland haben und die mit den neuen elektronischen Formaten zurechtkommen müssen. Dabei wird man die Absprachen über Zuständigkeiten ausbauen und verfeinern.

Für Aufgaben etwa im Hinblick auf bestimmte Fachdisziplinen müssen weitere Leistungsträger unter den wissenschaftlichen...

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