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Widerrede!

Eine Familie diskutiert über Populismus, Werte und politisches Engagment

VerlagEvangelischer Verlag Stuttgart GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl96 Seiten
ISBN9783945369555
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Es ging ein Ruck durch Europa, als 2011 Stéphane Hessels Streitschrift 'Empört euch!' erschien, eine Aufforderung der gesellschaftlichen Schläfrigkeit zu widerstehen und sich zu engagieren. Fünf Jahre nach 'Empört Euch!' wird Europa durch Populismus und Nationalismus im Tiefsten erschüttert. Die Fragen, was uns als Europäer eint und wer wir als Europäer sind und wem wir widerstehen müssen, ist drängender denn je. Martin Roth, ein anderer überzeugter Europäer, hat sich dieser Fragen angenommen. Aber er hat sie nicht für sich alleine beantwortet, sondern seine Kinder miteinbezogen. Eine Familie spricht über Populismus, Werte und politisches Engagement und gibt so dem Ruck seit 'Empört Euch!' eine Richtung - über die Generationen hinweg. Martin Roth war erfolgreicher Direktor des Victoria and Albert Museum in London. Er verließ England nach dem Brexit, um sich in seiner Heimat Deutschland gegen die antieuropäische Strömungen zu wenden und sich für den Erhalt unserer offenen, freien Gesellschaft einzusetzen. Seine erwachsenen Kinder Clara (20) und Roman (27) studieren in Deutschland und Übersee, Mascha (28) ist Koordinatorin bei der Initiative 'Offene Gesellschaft'. Sie verstehen sich als Weltbürger und möchten mit diesem Buch ermutigen, gemeinsam gegen Hetze und Häme aufzubegehren und sich persönlich zu engagieren für den Erhalt von Frieden und Freiheit in Deutschland und Europa. Martin Roth war diese politische Debatte in der eigenen Familie sehr wichtig. Besonders seit er wusste, wie eng begrenzt die Zeit war, in der er sich selbst noch einmischen konnte. Er wollte erfahren, wie seine Kinder die Welt von morgen gestalten werden. Und er wollte mit diesem Buch die Botschaft senden, engagiert euch, bringt euch ein, redet miteinander! Am 6. August 2017 ist Martin Roth gestorben. Mit seinem Buch 'Widerrede!' hinterlässt er ein Werk, das sich als politisches Vermächtnis lesen lässt. Damit wird er weit in die Zukunft wirken.

Martin Roth war Kulturwissenschaftler und weltweit bekannt und geachtet durch sein großartiges Engagement in Kunst, Kultur und Politik. Er leitete bis zum Brexit-Votum 2016 als erster Deutscher das Victoria and Albert Museums in London und kuratierte bis heute internationale Ausstellungen von Weltrang. Er verstarb im August mit 2017.

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Leseprobe

DESHALB MUSS ICH REDEN


Sie werden sich fragen, warum ich meine Stimme erhebe, warum ich Familien aufrütteln will über die Generationen hinweg. Und warum ich der Meinung bin, dass das Politische, die Wertedebatten und der ehrliche Gedankenaustausch über die gesellschaftspolitischen Weichen, die richtig oder falsch gestellt werden können, unseren Alltag wieder viel mehr durchdringen müssen. Ich bin überzeugter Europäer. Das hat natürlich auch mit meinem Alter zu tun. Als Deutscher des Jahrgangs 1955 habe ich mir schon als junger Mensch eine andere oder besser: eine zweite sehr starke Identität gesucht. Zuerst war ich Europäer, dann Deutscher. Schon viele Monate vor der finalen Brexit-Entscheidung war mir klar, dass die von Propaganda durchdrungene und verdorbene Diskussion um den Brexit nicht zu vereinbaren ist mit meiner europäischen Identität.

Die Art und Weise des Austritts, wie da mit welchen Lügen und welcher Polemik agiert wurde, gerade von Wendehälsen wie Boris Johnson – das alles war übel und tragisch zugleich. Diese grandiose und ansteckende Dynamik, die von der Welthauptstadt London ausgeht, verliert zwar nicht die Anziehungskraft, auch nicht die Strahlkraft für die Avantgarde. Aber sie basiert mehr und mehr auf einem unseriösen politischen Fundament. Für mich war London immer eine Stadt, die funktioniert hat: aufregend, lebendig, kosmopolitisch. Und ich habe immer das Gefühl gehabt, dass dann, wenn London funktioniert, es Hoffnung gibt auch für andere Metropolen. Wenn so viele Menschen aus so vielen Ländern relativ friedlich zusammenleben und zugleich diese Stadt mit diesem Tempo leben und produktiv sein kann, dann ist das übertragbar.

Stattdessen hat eine schwer verständliche Aggressivität das Referendum bestimmt, die es – wir müssen ehrlich sein, wenn wir etwas ändern wollen – nicht nur in Großbritannien gibt. Wir erleben sie in Bayern, in Sachsen, nicht nur bei der AfD, bei den Rechtspopulisten und Europa-Gegnern in den Niederlanden, in Frankreich, Österreich, Polen und Ungarn. Bildung zählt viel zu wenig, Ernsthaftigkeit nicht, Expertentum nicht, Fakten werden einfach weggewischt, Halbwahrheiten und Lügen haben Konjunktur. Leute wie Nigel Farage klagen, wie schlimm bei uns alles ist, zugleich sterben im Mittelmeer Menschen zu Tausenden. Wohin sind wir gekommen, wenn die Maßstäbe derart verrutschen!

Direkt vor unseren Augen baut sich ein extrem rechtslastiges Europa auf. Und damit passiert etwas – zum ersten Mal in meinem Leben auf diese Weise –, was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann. Mit einer Geschwindigkeit, dass ich mir die Frage stellen muss: Möglicherweise haben wir, die Europäer mit Herz und Hirn, die einen Kontinent in Frieden für unsere Kinder und Enkelkinder gestalten wollten, plötzlich den Sinn für die Realität verloren. Wo sind unsere christlichen Werte? Die Nächstenliebe? Begriffe wie Freiheit, Toleranz und Solidarität sind mir heilig. Heilig ist ein großes Wort, aber es geht auch um viel. Ich will nicht akzeptieren, dass Menschen wie Marine Le Pen die künftige Tonlage bestimmen, dass Nationalisten wieder hoffähig sind. Die Rhetorik in England war so kriegerisch, dass sich jedem vernünftigen Menschen Parallelen zu unserer Geschichte aufdrängen müssen, an die 1920er, 1930er Jahre. Haben da nicht auch viele Menschen gedacht und gesagt: Was da passiert, ist nicht gut, aber so schlimm wird es schon nicht kommen?

»Begriffe wie Freiheit, Toleranz und Solidarität sind mir heilig.«

Ich habe vor langer Zeit eine Doktorarbeit über die Kulturpolitik der 1920er und 30er Jahre geschrieben. Die unendlich vielen Zeitungsartikel aus den 20er Jahren sind mir immer in Erinnerung geblieben: Dort hatte ich genau das gelesen, was ich in den Brexit-Wochen und bei der Wahl vom Juni 2017 in London erlebte: Stimmung gegen irgendetwas machen, vorpreschen, sich dann dafür entschuldigen, aber andere gehen im Windschatten hinterher, legen eins drauf. So schaukelt sich die Stimmung hoch, irgendwann ist die Entwicklung nicht mehr zu stoppen. Wir wissen, wie das ausging. Natürlich sind das riskante Vergleiche. Aber wer aufrütteln will, muss die vornehme Zurückhaltung aufgeben können. Nur: Wo war die große Aufregung im Herbst 2015, als in Dresden auf der Pegida-Demonstration die Galgen-Attrappen für Angela Merkel und Sigmar Gabriel hochgehalten wurden? Dieses Schweigen macht mich fertig.

Das gilt besonders auch im Kulturbetrieb und gerade für Kulturpolitiker. Dasitzen, sich auf seine schönen Themen und schönen Häuser zurückziehen und Ereignisse unkommentiert vorüberziehen lassen – das geht nicht mehr. Ich verstehe Kunst und Wissenschaft als wesentlichen Bestandteil unseres zivilen Lebens, weil viel bewirkt werden kann durch künstlerische und kreative Prozesse. Ich bin überzeugt, dass Kunst und Kultur unverzichtbare Grundlage einer Gesellschaft im demokratischen und friedlichen Zusammenleben sind. Je kreativer eine Gesellschaft ist, umso fähiger ist sie aufzustehen und damit zu überleben. Kunst und Kultur helfen Identitäten zu entwickeln und zu stärken. Ich habe in meiner Zeit in Dresden erfahren, was das für eine Stadt, für eine Gesellschaft und damit für den Staat bedeutet. In Dresden spürt man bis heute diesen vollkommenen Identitätsverlust im und nach dem Dritten Reich. Dieses Nichtmehr-Wissen, wer man ist. Es erinnert mich an die bleiernen Zeiten, die ich in den 60er und 70er Jahren im Westen erlebt habe, damals in Baden-Württemberg, als in unserer Kleinstadt die ersten italienischen Gastarbeiter ankamen. Für die musste eine Baracke gut genug sein. Und wir alle sind hingepilgert, um uns das anzusehen, als ginge es um Tiere. Jeder, der das heute beschönigt, lügt.

»Dieses Nichtmehr-Wissen, wer man ist, erinnert mich an die bleiernen Zeiten, die ich in den 60er und 70er Jahren im Westen erlebt habe.«

Wenn ich an Dresden denke, wenn ich einen Bogen schlagen will zu dem, worüber wir heute nachdenken müssen, dann kann ich nur sagen: Auch wer die Bedeutung dieses Identitätsverlusts nicht wahrhaben will, belügt sich selbst. Es geht nicht nur um Erinnerungen an Verlorengegangenes. Es geht darum, dass und wie Verlorengegangenes fehlt im realen Alltag. Die Kirchen, die Synagogen, das Selbstbewusstsein in den Bürgerhäusern, das pralle Leben, der intellektuelle Anspruch. Als ich 1989 zum ersten Mal in die Stadt kam, führte mich ein älterer, sehr freundlicher Herr, der die Bombennacht vom Februar 1945 erlebt hatte, durchs Zentrum. „Da ist die Sophienkirche“, sagte er, „dort das Alberttheater“, und so nannte er ein Gebäude nach dem nächsten, als stünde es noch dort. Aber da war nichts, nichts, nur Zerstörung. Wir gingen gleichsam durch eine virtuelle Geisterstadt.

Und in der Nach-Wende-Zeit ist erst recht keine Identität entstanden. Alle konnten jetzt nach Mallorca reisen, die bekannten Marken kaufen, sogar den heiß ersehnten VW-Golf. Aber wo wuchs das Verbindende? Oder anders herum: Überall fehlte etwas. Den einen das Kollektiv, den anderen die Perspektive, zu vielen die Hoffnung. Schon lange vor dem Brexit haben wir mit Neo-Nazis und Pegida im eigenen Land erlebt, wie verführbar Menschen werden, wenn sie sich abgehängt fühlen. Dass schon allein dieses Fühlen ausreicht, macht es besonders schlimm. Da sind Leute auf der Straße und inzwischen auch in den Parlamenten, die keine wirklichen Ziele haben – außer unser System zu zerstören. Das muss doch Erinnerungen an 1933 wecken. Aber wo ist der lebendige Diskurs, unter den Generationen, in den Familien? Es geht um Demokratie, um moralische und ethische Standards, die für alle verbindlich sind. Stundenlang wird geredet über den nächsten Urlaub, die Größe des Flatscreens, über Grillrezepte und Kochshows. Aber über unser System, unsere Errungenschaften?

Dabei gibt es so viel Positives. Es kann und es müsste jeder urteilsfähige Mensch jederzeit in jeder Diskussion, in der unser System schlechtgeredet wird, dagegenhalten. Wir haben ein perfekt funktionierendes Gemeinwesen. Wenn der Strom ausfällt, gibt es selbstverständlich eine Telefonnummer, die jeder anrufen kann, ob arm oder reich, ob jung oder alt, und sagen, dass der Strom ausgefallen ist. Und dann wird der Schaden repariert. Wir haben Gerichte, die unbestochen funktionieren. Was ja nicht heißt, dass uns jede Entscheidung gefallen muss, erst recht nicht, wenn wir selber involviert sind. Aber wer sich ernsthaft über die Mechanismen unseres Rechtsstaats informiert, wird zwangläufig seine Vorzüge erkennen.

Anders als meine Kinder bin ich persönlich nicht hineingeboren worden in die Umstände, in denen ich lebe. Ich komme aus einfachen Verhältnissen. Ich habe gelernt wertzuschätzen, was ich erfahren durfte. Ich kann mich in vielen Ländern dieser Welt relativ frei und sicher bewegen, ich habe viele Freunde auf der ganzen Welt gewonnen, ich kann Kontakte knüpfen und pflegen. Dahinter möchte ich doch nicht zurück, nicht nur ich persönlich.

Mir war es wichtig, etwas über Generationen hinweg zu debattieren und zu publizieren. Nicht zuletzt, weil...

Blick ins Buch

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